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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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F. M. Dostojewsky,

beiläufig bemerkt einem der tiefsinnigsten Kapitel, sagt dieser jenem Skeptiker
unter den Brüdern Karamasow mit Hohn ins Gesicht: "Das sind dort neue
Leute, meintest du sehr entschieden, sie beabsichtigen alles zu zerstören und mit
der Menschenfresserei zu beginnen. Die dummen Kerle, sie haben mich nicht
um Rat gefragt! Meiner Ansicht nach braucht man nichts zu zerstören, es
bedarf nur der Vernichtung der Gottesidee in der Menschheit. Damit hat man
das Werk einfach zu beginnen. Damit, damit muß man beginnen -- o, ihr
Blinden, die ihr das nicht begreift! Sobald nur die Menschheit Mann für
Mann sich von Gott losgesagt hat -- und ich glaube, daß eine solche Periode,
als Parallele der geologischen Perioden, eintreten wird --, alsdann wird ganz
von selbst, ohne Menschenfresserei, die ganze frühere Weltanschauung und vor
allem die ganze frühere Sittlichkeit fallen. Alsdann bricht all das Neue an.
Die Leute werden sich dazu vereinigen, um aus dem Leben alles zu ziehen,
was es nur zu bieten vermag, aber unbedingt nur zum Zwecke des Glückes
und der Freuden in dieser Welt hinieden." (IV, 132.) Man sieht, wie Dosto-
jewsky seine Gottesidee meint: mit ihr steht und fällt ihm jede Sittlichkeit.
An einer andern Stelle sagt der jüngere Bruder, Dimitry Karamasow, eben der
Verbrecher: "Mich aber martert der Gedanke an Gott. Nur dieses eine martert
mich. Wie dann, wenn er nicht existirt? Wie dann, wenn er Recht hat, daß
es eine von der Menschheit künstlich erzeugte Idee ist? Denn, wenn er nicht
existirt, dann ist der Mensch das Oberhaupt der Erde, des Weltgebäudes.
Großartig! Wie aber wird er tugendhaft sein ohne Gott? Eine Frage! Hierüber
sinne ich immer. Denn wen wird er dann lieben, dieser Mensch? Wem wird
er dankbar sein? Wem wird er einen Hymnus singen? Denn was ist die
Tugend? Für mich ist dieses eine Tugend, für den Chinesen jenes -- also ein
relatives Ding." (IV, 46.) Also die Bedeutung seines Gottesbegriffes ist ihm
die objektive Einheit aller sittlichen Ideen, die notwendige Einheit, ohne die die
Menschheit in ihre Atome zerfällt und sich selbst vernichtet. Die Menschheit
aber hat, nach seiner Anschauung, ganz umgekehrt die größte Sorge nach ihrer
totalen Zusammenfassung in ein Ganzes. In der Rede des Inquisitors vor
seinem Gefangenen heißt es: "Die großen Eroberer, ein Timur und ein Dschingis-
Khan, wie Sturmwinde sind sie über die Erde gebraust, als sie darnach strebten,
das Weltall zu erobern, aber auch sie haben, wenn auch unbewußt, dasselbe
große Bedürfnis der Menschheit nach allgemeiner, weltumfassender Vereinigung
zum Ausdruck gebracht. Hättest du die Welt und den Purpur Cäsars ange¬
nommen, so hättest du das Weltreich gegründet und dem Weltall Frieden ge¬
schenkt. Denn wer soll über die Menschen herrschen, wenn nicht diejenigen,
die im Besitz ihrer Gewissen, und in deren Händen ihr Brot sich befindet?"
(II. 110.) Und ganz in dem Sinne stellt sich Dostojewskys Zukunftstrcmm dar,
auf dessen Verwirklichung sein inbrünstiges Sehnen gerichtet war: Der Staat
-- jeder Staat -- hat in der Weltkirche aufzugehen; die alles umfassende,


F. M. Dostojewsky,

beiläufig bemerkt einem der tiefsinnigsten Kapitel, sagt dieser jenem Skeptiker
unter den Brüdern Karamasow mit Hohn ins Gesicht: „Das sind dort neue
Leute, meintest du sehr entschieden, sie beabsichtigen alles zu zerstören und mit
der Menschenfresserei zu beginnen. Die dummen Kerle, sie haben mich nicht
um Rat gefragt! Meiner Ansicht nach braucht man nichts zu zerstören, es
bedarf nur der Vernichtung der Gottesidee in der Menschheit. Damit hat man
das Werk einfach zu beginnen. Damit, damit muß man beginnen — o, ihr
Blinden, die ihr das nicht begreift! Sobald nur die Menschheit Mann für
Mann sich von Gott losgesagt hat — und ich glaube, daß eine solche Periode,
als Parallele der geologischen Perioden, eintreten wird —, alsdann wird ganz
von selbst, ohne Menschenfresserei, die ganze frühere Weltanschauung und vor
allem die ganze frühere Sittlichkeit fallen. Alsdann bricht all das Neue an.
Die Leute werden sich dazu vereinigen, um aus dem Leben alles zu ziehen,
was es nur zu bieten vermag, aber unbedingt nur zum Zwecke des Glückes
und der Freuden in dieser Welt hinieden." (IV, 132.) Man sieht, wie Dosto-
jewsky seine Gottesidee meint: mit ihr steht und fällt ihm jede Sittlichkeit.
An einer andern Stelle sagt der jüngere Bruder, Dimitry Karamasow, eben der
Verbrecher: „Mich aber martert der Gedanke an Gott. Nur dieses eine martert
mich. Wie dann, wenn er nicht existirt? Wie dann, wenn er Recht hat, daß
es eine von der Menschheit künstlich erzeugte Idee ist? Denn, wenn er nicht
existirt, dann ist der Mensch das Oberhaupt der Erde, des Weltgebäudes.
Großartig! Wie aber wird er tugendhaft sein ohne Gott? Eine Frage! Hierüber
sinne ich immer. Denn wen wird er dann lieben, dieser Mensch? Wem wird
er dankbar sein? Wem wird er einen Hymnus singen? Denn was ist die
Tugend? Für mich ist dieses eine Tugend, für den Chinesen jenes — also ein
relatives Ding." (IV, 46.) Also die Bedeutung seines Gottesbegriffes ist ihm
die objektive Einheit aller sittlichen Ideen, die notwendige Einheit, ohne die die
Menschheit in ihre Atome zerfällt und sich selbst vernichtet. Die Menschheit
aber hat, nach seiner Anschauung, ganz umgekehrt die größte Sorge nach ihrer
totalen Zusammenfassung in ein Ganzes. In der Rede des Inquisitors vor
seinem Gefangenen heißt es: „Die großen Eroberer, ein Timur und ein Dschingis-
Khan, wie Sturmwinde sind sie über die Erde gebraust, als sie darnach strebten,
das Weltall zu erobern, aber auch sie haben, wenn auch unbewußt, dasselbe
große Bedürfnis der Menschheit nach allgemeiner, weltumfassender Vereinigung
zum Ausdruck gebracht. Hättest du die Welt und den Purpur Cäsars ange¬
nommen, so hättest du das Weltreich gegründet und dem Weltall Frieden ge¬
schenkt. Denn wer soll über die Menschen herrschen, wenn nicht diejenigen,
die im Besitz ihrer Gewissen, und in deren Händen ihr Brot sich befindet?"
(II. 110.) Und ganz in dem Sinne stellt sich Dostojewskys Zukunftstrcmm dar,
auf dessen Verwirklichung sein inbrünstiges Sehnen gerichtet war: Der Staat
— jeder Staat — hat in der Weltkirche aufzugehen; die alles umfassende,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/362>, abgerufen am 23.07.2024.