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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Friedrich Hebbels Tcigebücher.

ins klare zu setzen. Für die große Zahl derjenigen, die in Hebbel nichts sehen
wollen als den unbequemen Nigoristen, der beim allgemeinen Pickenick der
modernen Literatur den Störenfried gemacht, und für die kleinere Zahl jener
andern, welche einem Künstler jeden, mir nicht den herben Beigeschmack der
Früchte seines Talents verzeihen können, werden die "Tagebücher" nur eine
Fundgrube neuer Anklagen, heftiger und erbitterter Angriffe werden. Da sie
nnvermeidlicherweise Spuren des harten und Verzweifelten Ringens mit dem
Leben, Spuren anch der sittlichen Irrtümer und Verschuldungen Hebbels trage",
da sich neben den mächtigsten und tiefsten Gedanken paradoxe und unerquick¬
liche Einfälle genug in ihnen finden, so ist es wohlfeil, aus ihnen heraus erneut
die Verwerflichkeit und Nichtigkeit des Dichters der "Judith," der "Marin Mag-
dalena" und der "Nibelungen" zu demonstriren. Dieselben Blätter, welche nach
Verlauf einer längern Zeit eine erfreuliche nud hochinteressante Bestätigung des
inzwischen festgestellten, den Dichter nach Verdienst ehrenden Urteils gewesen
wären, dürsten heute lediglich den literarischen Wortführern des Tages zur ten¬
denziösen Ausbeutung dienen. Die Diskussion, welche glücklich auf die poetische
Produktion des Dichters, somit auf ein Gebiet zurückgeführt war, auf dem es
den erbittertsten Gegnern schwer fiel, ihren Kraftgedanken nnnmwnndenen Aus¬
druck zu geben, kaun uun wieder an Hebbels Leben, seine Prinzipien, seine indi¬
viduellen Urteile und gelegentlichen Vorurteile angeknüpft und dem schaudernden
Publikum ein widerwärtiger Popanz an der Stelle des lebendigen Dichters
vorgeführt werden. Die Bemühungen, die Talentlostgkeit Hebbels zu erweisen,
sind seither von schlechtem Erfolg gekrönt gewesen, sie werden für die Zukunft
schwerlich einen bessern haben. Da jedoch die Verfechter dieser Behauptung -- mit
wenigen Ausnahmen -- über das nächste Jahr und das nächste Lustrum nicht
hinwegzudenken Pflegen, so hätte mau es nach unsrer Meinung dreimal bedenken
sollen, ehe man die Stimmen dieses Chorus wieder entfesselte. Wir glaube"
gern, daß nichts als die reinste Pietät die Herausgabe der "Tagebücher"
veranlaßt hat; aber wenn diese Pietät nicht von souveräner Verachtung des
nächsten Erfolges erfüllt gewesen ist, wird sie schwere und bittere Euttüuschuugeu
erleben.

Die Literatur des letzten Jahrzehnts hat unter andern wunderbaren Er¬
scheinungen auch die Idee einer Solidarität aller Schriftsteller "unbekümmert
um die Unterschiede, welche das Talent zwischen uns gesetzt hat" (wörtlich!)
gezeitigt. Das brutale Massenbewußtsein, welches in solchen Vorstellungen
zu tage tritt, hat sich früher weniger offen ausgesprochen, aber vorhanden und
die Herrschaft heischend ist es in den dreißiger und vierziger Jahren auch schon
gewesen. Der Begriff des Schriftstellers "ohne Talent," der sein Recht und seine
Weihe dadurch empfange, daß er angeblichen "Bedürfnissen" des Publikums, der
literarischen und theatralischen Industrie dient, ist nicht von heute und gestern,
und diejenigen, welche in dein Lobe Hebbels und ähnlicher Dichter eine Be-


Friedrich Hebbels Tcigebücher.

ins klare zu setzen. Für die große Zahl derjenigen, die in Hebbel nichts sehen
wollen als den unbequemen Nigoristen, der beim allgemeinen Pickenick der
modernen Literatur den Störenfried gemacht, und für die kleinere Zahl jener
andern, welche einem Künstler jeden, mir nicht den herben Beigeschmack der
Früchte seines Talents verzeihen können, werden die „Tagebücher" nur eine
Fundgrube neuer Anklagen, heftiger und erbitterter Angriffe werden. Da sie
nnvermeidlicherweise Spuren des harten und Verzweifelten Ringens mit dem
Leben, Spuren anch der sittlichen Irrtümer und Verschuldungen Hebbels trage»,
da sich neben den mächtigsten und tiefsten Gedanken paradoxe und unerquick¬
liche Einfälle genug in ihnen finden, so ist es wohlfeil, aus ihnen heraus erneut
die Verwerflichkeit und Nichtigkeit des Dichters der „Judith," der „Marin Mag-
dalena" und der „Nibelungen" zu demonstriren. Dieselben Blätter, welche nach
Verlauf einer längern Zeit eine erfreuliche nud hochinteressante Bestätigung des
inzwischen festgestellten, den Dichter nach Verdienst ehrenden Urteils gewesen
wären, dürsten heute lediglich den literarischen Wortführern des Tages zur ten¬
denziösen Ausbeutung dienen. Die Diskussion, welche glücklich auf die poetische
Produktion des Dichters, somit auf ein Gebiet zurückgeführt war, auf dem es
den erbittertsten Gegnern schwer fiel, ihren Kraftgedanken nnnmwnndenen Aus¬
druck zu geben, kaun uun wieder an Hebbels Leben, seine Prinzipien, seine indi¬
viduellen Urteile und gelegentlichen Vorurteile angeknüpft und dem schaudernden
Publikum ein widerwärtiger Popanz an der Stelle des lebendigen Dichters
vorgeführt werden. Die Bemühungen, die Talentlostgkeit Hebbels zu erweisen,
sind seither von schlechtem Erfolg gekrönt gewesen, sie werden für die Zukunft
schwerlich einen bessern haben. Da jedoch die Verfechter dieser Behauptung — mit
wenigen Ausnahmen — über das nächste Jahr und das nächste Lustrum nicht
hinwegzudenken Pflegen, so hätte mau es nach unsrer Meinung dreimal bedenken
sollen, ehe man die Stimmen dieses Chorus wieder entfesselte. Wir glaube»
gern, daß nichts als die reinste Pietät die Herausgabe der „Tagebücher"
veranlaßt hat; aber wenn diese Pietät nicht von souveräner Verachtung des
nächsten Erfolges erfüllt gewesen ist, wird sie schwere und bittere Euttüuschuugeu
erleben.

Die Literatur des letzten Jahrzehnts hat unter andern wunderbaren Er¬
scheinungen auch die Idee einer Solidarität aller Schriftsteller „unbekümmert
um die Unterschiede, welche das Talent zwischen uns gesetzt hat" (wörtlich!)
gezeitigt. Das brutale Massenbewußtsein, welches in solchen Vorstellungen
zu tage tritt, hat sich früher weniger offen ausgesprochen, aber vorhanden und
die Herrschaft heischend ist es in den dreißiger und vierziger Jahren auch schon
gewesen. Der Begriff des Schriftstellers „ohne Talent," der sein Recht und seine
Weihe dadurch empfange, daß er angeblichen „Bedürfnissen" des Publikums, der
literarischen und theatralischen Industrie dient, ist nicht von heute und gestern,
und diejenigen, welche in dein Lobe Hebbels und ähnlicher Dichter eine Be-


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[0036] Friedrich Hebbels Tcigebücher. ins klare zu setzen. Für die große Zahl derjenigen, die in Hebbel nichts sehen wollen als den unbequemen Nigoristen, der beim allgemeinen Pickenick der modernen Literatur den Störenfried gemacht, und für die kleinere Zahl jener andern, welche einem Künstler jeden, mir nicht den herben Beigeschmack der Früchte seines Talents verzeihen können, werden die „Tagebücher" nur eine Fundgrube neuer Anklagen, heftiger und erbitterter Angriffe werden. Da sie nnvermeidlicherweise Spuren des harten und Verzweifelten Ringens mit dem Leben, Spuren anch der sittlichen Irrtümer und Verschuldungen Hebbels trage», da sich neben den mächtigsten und tiefsten Gedanken paradoxe und unerquick¬ liche Einfälle genug in ihnen finden, so ist es wohlfeil, aus ihnen heraus erneut die Verwerflichkeit und Nichtigkeit des Dichters der „Judith," der „Marin Mag- dalena" und der „Nibelungen" zu demonstriren. Dieselben Blätter, welche nach Verlauf einer längern Zeit eine erfreuliche nud hochinteressante Bestätigung des inzwischen festgestellten, den Dichter nach Verdienst ehrenden Urteils gewesen wären, dürsten heute lediglich den literarischen Wortführern des Tages zur ten¬ denziösen Ausbeutung dienen. Die Diskussion, welche glücklich auf die poetische Produktion des Dichters, somit auf ein Gebiet zurückgeführt war, auf dem es den erbittertsten Gegnern schwer fiel, ihren Kraftgedanken nnnmwnndenen Aus¬ druck zu geben, kaun uun wieder an Hebbels Leben, seine Prinzipien, seine indi¬ viduellen Urteile und gelegentlichen Vorurteile angeknüpft und dem schaudernden Publikum ein widerwärtiger Popanz an der Stelle des lebendigen Dichters vorgeführt werden. Die Bemühungen, die Talentlostgkeit Hebbels zu erweisen, sind seither von schlechtem Erfolg gekrönt gewesen, sie werden für die Zukunft schwerlich einen bessern haben. Da jedoch die Verfechter dieser Behauptung — mit wenigen Ausnahmen — über das nächste Jahr und das nächste Lustrum nicht hinwegzudenken Pflegen, so hätte mau es nach unsrer Meinung dreimal bedenken sollen, ehe man die Stimmen dieses Chorus wieder entfesselte. Wir glaube» gern, daß nichts als die reinste Pietät die Herausgabe der „Tagebücher" veranlaßt hat; aber wenn diese Pietät nicht von souveräner Verachtung des nächsten Erfolges erfüllt gewesen ist, wird sie schwere und bittere Euttüuschuugeu erleben. Die Literatur des letzten Jahrzehnts hat unter andern wunderbaren Er¬ scheinungen auch die Idee einer Solidarität aller Schriftsteller „unbekümmert um die Unterschiede, welche das Talent zwischen uns gesetzt hat" (wörtlich!) gezeitigt. Das brutale Massenbewußtsein, welches in solchen Vorstellungen zu tage tritt, hat sich früher weniger offen ausgesprochen, aber vorhanden und die Herrschaft heischend ist es in den dreißiger und vierziger Jahren auch schon gewesen. Der Begriff des Schriftstellers „ohne Talent," der sein Recht und seine Weihe dadurch empfange, daß er angeblichen „Bedürfnissen" des Publikums, der literarischen und theatralischen Industrie dient, ist nicht von heute und gestern, und diejenigen, welche in dein Lobe Hebbels und ähnlicher Dichter eine Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/36>, abgerufen am 22.07.2024.