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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Aus der französischen Revolution,

daß jedes Weitere Vorschreiten des Liberalismus immer weitere Gravitationen
nach links zur Folge habe, wird uns auf jeder der blutigen Seiten der fran¬
zösischen Revolution aufs neue bestätigt. Hier sehen wir die Resultate dieses
Herabgleitens auf der abschüssigen Bahn, die Thatsache dieses Absturzes spielt
sich bereits vor unsern Angen ab. Erklärt der Abgeordnete Richter die un¬
günstige Finanzlage des Reiches als das Ergebnis der Wirtschaftspolitik des
Reichskanzlers, so übertrumpft der Abgeordnete Bebel diese Bemerkung, indem
er für die ungünstige Lage das ganze jetzige Gesellschaftssystem verantwortlich
macht. Erstrebt der Fortschrittsmann die Beseitigung des Kanzlers, so will
der Sozialdemokrat alles beiseite schaffen. Der Abgeordnete Löwe belehrt den
Begründer des deutschen Reiches und deutscheu Ansehens, wie er die Reichs-
politik bei Ersparung von 20 000 Mark ohne NeuLreirnng eines dritten Di¬
rektors im auswärtigen Amte leiten könne, der Abgeordnete von Vvllmar greift
direkt die Glaubwürdigkeit des Reichskanzlers an, indem er darauf hinweist, daß
bei Gericht schon vielfach Beamte wegen Verletzung des Diensteides bestraft
wurden. Der Fortschrittsmann bekrittelt mit selbstgefälliger suffisance den Manu,
dessen Thaten die Weltgeschichte in ihre Tafeln eingegraben hott; der Sozial¬
demokrat trägt bereits keine Scheu -- und wir können ebenfalls den beschönigenden
Worten des Neichstagspräsidenten nicht beitreten --, den ersten Ratgeber des
Kaisers und nach diesem die erste Autorität des Reiches auf gleiche Stufe
mit Leuten zu stellen, die wegen Eidcsbruchs bestraft worden sind. Der Ab¬
geordnete Löwe glaubt die auswärtige Politik ebensogut verstehen zu können
wie seine Nähnadelfabrikativn und verweigert dem Kanzler die Hilfe, die er
seinerseits -- freilich zugleich auch in dem eignen Bruder -- von seinem Auf¬
sichtsrat erbeten und erhalten hat. Der sozialdemokratische Abgeordnete, der
mit Stolz seine Gymnasialvorbildung in den Neichstagskalender einschreibt
-- er vergißt hinzuzufügen, daß dieselbe nur bis Quinta reichte --, vermißt sich,
deu erste" Beamten des Reiches, die in der Justiz und Verwaltung ergraut
sind, mit seiner Autorität entgegenzutreten. Die Fortschrittspartei erstrebt die
Herrschaft des Parlaments, und die Sozialdemokratie bezeichnet bereits dieselbe
als den Herrn und die Regierung als dessen Knecht. Der sozialdemokratische
Anarchist Reinsdorf erklärt seine Verurteilung als Mordgeselle lediglich für eine
Machtfrage. Als die Regierung im Jahre >876 die Strafmittel gegen das
Umsichgreifen der Sozialdemokratie forderte, wurden ihr diese vom Abgeordneten
Bninberger und der Reichstagsmehrheit verweigert; was die Mvstschen Brandreden
nicht vermochten, mußten erst die Attentate gegen die Person des Kaisers ermög¬
lichen. Überall sehen wir ein Zerbröckeln des Ansehens der Obrigkeit, dem sofort
der offene Angriff folgt. Zur Seite steht das Bestreben der Parteiführer, die Un¬
zufriedenheit im Lande wach zu erhalten; alle Maßregeln, welche die Negierung
anstrebt, um den Volkswohlstand zu heben, den Arbeitern Arbeit zu schaffen, den
begründeten Beschwerden der untern Klassen abzuhelfen, werden bekämpft und mir


Aus der französischen Revolution,

daß jedes Weitere Vorschreiten des Liberalismus immer weitere Gravitationen
nach links zur Folge habe, wird uns auf jeder der blutigen Seiten der fran¬
zösischen Revolution aufs neue bestätigt. Hier sehen wir die Resultate dieses
Herabgleitens auf der abschüssigen Bahn, die Thatsache dieses Absturzes spielt
sich bereits vor unsern Angen ab. Erklärt der Abgeordnete Richter die un¬
günstige Finanzlage des Reiches als das Ergebnis der Wirtschaftspolitik des
Reichskanzlers, so übertrumpft der Abgeordnete Bebel diese Bemerkung, indem
er für die ungünstige Lage das ganze jetzige Gesellschaftssystem verantwortlich
macht. Erstrebt der Fortschrittsmann die Beseitigung des Kanzlers, so will
der Sozialdemokrat alles beiseite schaffen. Der Abgeordnete Löwe belehrt den
Begründer des deutschen Reiches und deutscheu Ansehens, wie er die Reichs-
politik bei Ersparung von 20 000 Mark ohne NeuLreirnng eines dritten Di¬
rektors im auswärtigen Amte leiten könne, der Abgeordnete von Vvllmar greift
direkt die Glaubwürdigkeit des Reichskanzlers an, indem er darauf hinweist, daß
bei Gericht schon vielfach Beamte wegen Verletzung des Diensteides bestraft
wurden. Der Fortschrittsmann bekrittelt mit selbstgefälliger suffisance den Manu,
dessen Thaten die Weltgeschichte in ihre Tafeln eingegraben hott; der Sozial¬
demokrat trägt bereits keine Scheu — und wir können ebenfalls den beschönigenden
Worten des Neichstagspräsidenten nicht beitreten —, den ersten Ratgeber des
Kaisers und nach diesem die erste Autorität des Reiches auf gleiche Stufe
mit Leuten zu stellen, die wegen Eidcsbruchs bestraft worden sind. Der Ab¬
geordnete Löwe glaubt die auswärtige Politik ebensogut verstehen zu können
wie seine Nähnadelfabrikativn und verweigert dem Kanzler die Hilfe, die er
seinerseits — freilich zugleich auch in dem eignen Bruder — von seinem Auf¬
sichtsrat erbeten und erhalten hat. Der sozialdemokratische Abgeordnete, der
mit Stolz seine Gymnasialvorbildung in den Neichstagskalender einschreibt
— er vergißt hinzuzufügen, daß dieselbe nur bis Quinta reichte —, vermißt sich,
deu erste» Beamten des Reiches, die in der Justiz und Verwaltung ergraut
sind, mit seiner Autorität entgegenzutreten. Die Fortschrittspartei erstrebt die
Herrschaft des Parlaments, und die Sozialdemokratie bezeichnet bereits dieselbe
als den Herrn und die Regierung als dessen Knecht. Der sozialdemokratische
Anarchist Reinsdorf erklärt seine Verurteilung als Mordgeselle lediglich für eine
Machtfrage. Als die Regierung im Jahre >876 die Strafmittel gegen das
Umsichgreifen der Sozialdemokratie forderte, wurden ihr diese vom Abgeordneten
Bninberger und der Reichstagsmehrheit verweigert; was die Mvstschen Brandreden
nicht vermochten, mußten erst die Attentate gegen die Person des Kaisers ermög¬
lichen. Überall sehen wir ein Zerbröckeln des Ansehens der Obrigkeit, dem sofort
der offene Angriff folgt. Zur Seite steht das Bestreben der Parteiführer, die Un¬
zufriedenheit im Lande wach zu erhalten; alle Maßregeln, welche die Negierung
anstrebt, um den Volkswohlstand zu heben, den Arbeitern Arbeit zu schaffen, den
begründeten Beschwerden der untern Klassen abzuhelfen, werden bekämpft und mir


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/33>, abgerufen am 22.07.2024.