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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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England und Rußland in Asien.

nach Chiwa, von Krasiwwodsk nach Askabci bunt von dort nach Merw, Sar-
rachs und Pri-i-Chatnn. So oft er eine dieser Stationen erreichte, erhoben
sich warnende Stimmen, und zuweilen begegnete man ihnen mit spöttischen
Redensarten, zuweilen mit feierlichen Worten, die als Beweise gelten sollten,
aber ebenso seicht und abergläubisch waren. Rußland stimmte natürlich in das
Lied dieser vorwiegenden Meinung ein und versah seine britischen Verbündeten
zu ihrer Fabrikation imponirender Scheingründe mit faulem Stoffe, indem es
ihnen plausibel aussehende Thatsachen, Proteste und selbst allerlei Versprechungen
lieferte. Man hatte durchaus keine Absicht, sich Indien zu nähern. Man hätte
auf dem Wege dahin brennende Sandwüsten, dürre Felsen, hohe und unüber-
steigbare Gebirgsketten vor sich. Man dächte an kein andres Ziel, als an die
Unterdrückung der Sklaverei, an die Bestrafung schlimmer Nachbarn, die Aus¬
dehnung des Handels und ähnliche mehr oder minder harmlose Dinge. . . .
So wurden die Charade aufgesogen, die Turkomanen bemeistert und verschlungen
und Afghanistan und Chorafscm mit dem gleichen Schicksale bedroht. Alles,
was sich innerhalb der letzten sechzehn Jahre begeben hat, ist mit Einschluß des
Baues einer Eisenbahn vom Kaspischen Meere vorausgesagt worden, aber bei
jedem der aufeinander folgenden Schritte Rußlands hörte man die, welche für
Wissende galten, aber nichts wußten, welche sehen wollten, aber blind waren,
welche die Verantwortlichkeit trugen, aber keine Neigung hatten, das in sie
gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, die Propheten des heraufziehenden Unheils,
das nun herangekommen ist, lächerlich machen und anklagen."

"Haben wir, so fragt das Blatt weiter, jetzt volle Sicherheit, daß man
den heutigen Stand der Dinge begreift, daß die von der Vergangenheit erteilte
Lehre Frucht getragen hat, daß die Größe der Aufgabe, die uns hier gestellt
ist, in ihrer ganzen Ausdehnung verstanden wird? Nichts läßt darauf schließen,
daß die Regierung sich der gegenwärtigen Lage vollständig bewußt sei. ausge¬
nommen der Umstand, daß in der Nähe von Maimenah eine Kommission zur
Bestimmung der afghanischen Nordgrenze lagert und die Ankunft der russischen
Kollegen erwartet, während russische Truppen sich strategischer Punkte weiter und
immer weiter nach Herat hin bemächtigen. Rußland beabsichtigt, wie es scheint,
Merst seine Grenzen abzustecken; es handelt dabei nach dem Grundsatze LeM
possiÄcmtW, Besitz ist die größere Hälfte des Rechts, es denkt uns zur An¬
nahme derselben zu zwingen oder, was ihm am besten passen würde, die ganze
Frage als eine offene fortbestehen zu lassen. Es spielt sich als Anwalt und
Vorkämpfer der Nationalitäten in Mittelasien auf und wird sich nur mit dem
gesamten Gebiete begnügen, aus welches die dortigen Turkoinanenstämme, seine
neuen Unterthanen, Anspruch erheben. Es ist daher nicht viel Hoffnung vor¬
handen, daß die Grenzmarken werden weiter entfernt von Herat abgesteckt werden,
als vorherige Usurpation sie vorschieben kann, und das steigert die jetzt unbe-
bedingt nachweisbare Gefahr, daß Rußland mit den Truppen, über die es ver-


England und Rußland in Asien.

nach Chiwa, von Krasiwwodsk nach Askabci bunt von dort nach Merw, Sar-
rachs und Pri-i-Chatnn. So oft er eine dieser Stationen erreichte, erhoben
sich warnende Stimmen, und zuweilen begegnete man ihnen mit spöttischen
Redensarten, zuweilen mit feierlichen Worten, die als Beweise gelten sollten,
aber ebenso seicht und abergläubisch waren. Rußland stimmte natürlich in das
Lied dieser vorwiegenden Meinung ein und versah seine britischen Verbündeten
zu ihrer Fabrikation imponirender Scheingründe mit faulem Stoffe, indem es
ihnen plausibel aussehende Thatsachen, Proteste und selbst allerlei Versprechungen
lieferte. Man hatte durchaus keine Absicht, sich Indien zu nähern. Man hätte
auf dem Wege dahin brennende Sandwüsten, dürre Felsen, hohe und unüber-
steigbare Gebirgsketten vor sich. Man dächte an kein andres Ziel, als an die
Unterdrückung der Sklaverei, an die Bestrafung schlimmer Nachbarn, die Aus¬
dehnung des Handels und ähnliche mehr oder minder harmlose Dinge. . . .
So wurden die Charade aufgesogen, die Turkomanen bemeistert und verschlungen
und Afghanistan und Chorafscm mit dem gleichen Schicksale bedroht. Alles,
was sich innerhalb der letzten sechzehn Jahre begeben hat, ist mit Einschluß des
Baues einer Eisenbahn vom Kaspischen Meere vorausgesagt worden, aber bei
jedem der aufeinander folgenden Schritte Rußlands hörte man die, welche für
Wissende galten, aber nichts wußten, welche sehen wollten, aber blind waren,
welche die Verantwortlichkeit trugen, aber keine Neigung hatten, das in sie
gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, die Propheten des heraufziehenden Unheils,
das nun herangekommen ist, lächerlich machen und anklagen."

„Haben wir, so fragt das Blatt weiter, jetzt volle Sicherheit, daß man
den heutigen Stand der Dinge begreift, daß die von der Vergangenheit erteilte
Lehre Frucht getragen hat, daß die Größe der Aufgabe, die uns hier gestellt
ist, in ihrer ganzen Ausdehnung verstanden wird? Nichts läßt darauf schließen,
daß die Regierung sich der gegenwärtigen Lage vollständig bewußt sei. ausge¬
nommen der Umstand, daß in der Nähe von Maimenah eine Kommission zur
Bestimmung der afghanischen Nordgrenze lagert und die Ankunft der russischen
Kollegen erwartet, während russische Truppen sich strategischer Punkte weiter und
immer weiter nach Herat hin bemächtigen. Rußland beabsichtigt, wie es scheint,
Merst seine Grenzen abzustecken; es handelt dabei nach dem Grundsatze LeM
possiÄcmtW, Besitz ist die größere Hälfte des Rechts, es denkt uns zur An¬
nahme derselben zu zwingen oder, was ihm am besten passen würde, die ganze
Frage als eine offene fortbestehen zu lassen. Es spielt sich als Anwalt und
Vorkämpfer der Nationalitäten in Mittelasien auf und wird sich nur mit dem
gesamten Gebiete begnügen, aus welches die dortigen Turkoinanenstämme, seine
neuen Unterthanen, Anspruch erheben. Es ist daher nicht viel Hoffnung vor¬
handen, daß die Grenzmarken werden weiter entfernt von Herat abgesteckt werden,
als vorherige Usurpation sie vorschieben kann, und das steigert die jetzt unbe-
bedingt nachweisbare Gefahr, daß Rußland mit den Truppen, über die es ver-


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[0283] England und Rußland in Asien. nach Chiwa, von Krasiwwodsk nach Askabci bunt von dort nach Merw, Sar- rachs und Pri-i-Chatnn. So oft er eine dieser Stationen erreichte, erhoben sich warnende Stimmen, und zuweilen begegnete man ihnen mit spöttischen Redensarten, zuweilen mit feierlichen Worten, die als Beweise gelten sollten, aber ebenso seicht und abergläubisch waren. Rußland stimmte natürlich in das Lied dieser vorwiegenden Meinung ein und versah seine britischen Verbündeten zu ihrer Fabrikation imponirender Scheingründe mit faulem Stoffe, indem es ihnen plausibel aussehende Thatsachen, Proteste und selbst allerlei Versprechungen lieferte. Man hatte durchaus keine Absicht, sich Indien zu nähern. Man hätte auf dem Wege dahin brennende Sandwüsten, dürre Felsen, hohe und unüber- steigbare Gebirgsketten vor sich. Man dächte an kein andres Ziel, als an die Unterdrückung der Sklaverei, an die Bestrafung schlimmer Nachbarn, die Aus¬ dehnung des Handels und ähnliche mehr oder minder harmlose Dinge. . . . So wurden die Charade aufgesogen, die Turkomanen bemeistert und verschlungen und Afghanistan und Chorafscm mit dem gleichen Schicksale bedroht. Alles, was sich innerhalb der letzten sechzehn Jahre begeben hat, ist mit Einschluß des Baues einer Eisenbahn vom Kaspischen Meere vorausgesagt worden, aber bei jedem der aufeinander folgenden Schritte Rußlands hörte man die, welche für Wissende galten, aber nichts wußten, welche sehen wollten, aber blind waren, welche die Verantwortlichkeit trugen, aber keine Neigung hatten, das in sie gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, die Propheten des heraufziehenden Unheils, das nun herangekommen ist, lächerlich machen und anklagen." „Haben wir, so fragt das Blatt weiter, jetzt volle Sicherheit, daß man den heutigen Stand der Dinge begreift, daß die von der Vergangenheit erteilte Lehre Frucht getragen hat, daß die Größe der Aufgabe, die uns hier gestellt ist, in ihrer ganzen Ausdehnung verstanden wird? Nichts läßt darauf schließen, daß die Regierung sich der gegenwärtigen Lage vollständig bewußt sei. ausge¬ nommen der Umstand, daß in der Nähe von Maimenah eine Kommission zur Bestimmung der afghanischen Nordgrenze lagert und die Ankunft der russischen Kollegen erwartet, während russische Truppen sich strategischer Punkte weiter und immer weiter nach Herat hin bemächtigen. Rußland beabsichtigt, wie es scheint, Merst seine Grenzen abzustecken; es handelt dabei nach dem Grundsatze LeM possiÄcmtW, Besitz ist die größere Hälfte des Rechts, es denkt uns zur An¬ nahme derselben zu zwingen oder, was ihm am besten passen würde, die ganze Frage als eine offene fortbestehen zu lassen. Es spielt sich als Anwalt und Vorkämpfer der Nationalitäten in Mittelasien auf und wird sich nur mit dem gesamten Gebiete begnügen, aus welches die dortigen Turkoinanenstämme, seine neuen Unterthanen, Anspruch erheben. Es ist daher nicht viel Hoffnung vor¬ handen, daß die Grenzmarken werden weiter entfernt von Herat abgesteckt werden, als vorherige Usurpation sie vorschieben kann, und das steigert die jetzt unbe- bedingt nachweisbare Gefahr, daß Rußland mit den Truppen, über die es ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/283>, abgerufen am 25.08.2024.