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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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England und Rußland in Asien.

Nicht minder bedeutend, ja noch wichtiger sind die Erfolge, welche Ru߬
land in den letzten Jahrzehnten auf dem direkten Wege durch das innere Asien
nach Afghanistan, zunächst nach Herat, dann nach Kandahar und Kabul, diplo¬
matisch und militärisch errungen hat. Auch in England empfindet man in
weiten Kreisen darüber von Jahr zu Jahr mehr Beklemmung, die sich zuweilen
in lauter Klage über die schwachsichtige, unentschlossene und zaghafte Politik
des jetzt am Ruder befindlichen Parteiregiments vernehmen läßt und die dop¬
pelte Berechtigung hat, wenn man sie mit Beaconssields Verhalten in dieser
Angelegenheit vergleicht. Erst vor kurzem machte sich die schwere Besorgnis,
welche sich jener Kreise bemächtigt hat, in dem verbreiterten Blatte Londons,
dem konservativen vint^ ?e1sg'ra,xk, in einem Leitartikel Luft, den wir als ein
Zeichen, daß man unter den verständigen Politikern an der Themse für diese
schwarze Wolke am nördlichen Gesichtskreise Indiens keineswegs mehr blind ist,
in seinen Hauptgedanken folgen lassen. Es hieß da u. a., nachdem auf die
überraschend neue Thatsache aufmerksam gemacht worden war, daß die russischen
Truppen in den letzten zwölf Monaten eine Stellung gewonnen haben, die sie
in den Stand setzt, in jedem ihnen geeignet erscheinenden Augenblicke sich der
Oasenstadt Herat zu bemächtigen: "Die heutige Lage der Dinge wurde uns
schon vor vielen Jahren mit staunenswerter Genauigkeit vorausgesagt, aber die
Leute, welche die Frage sorgfältig studirt und erwogen hatten und auf Grund
dessen die Folgen der russischen Politik in Mittelasien angeben konnten, wurden
verspottet oder mit mitleidiger Gcringschätzigkeit behandelt. Den Inhabern der
Gewalt und beglaubigten Führern der öffentlichen Meinung scheint es nicht bloß
an der höhern Eigenschaft scharfen und weiten Blickes, sondern auch an der
Gabe gefehlt zu haben, nahegelegenes und Offenkundiges zu kombiniren und
daraus Schlüsse zu ziehen. ... So haben sie gehandelt, wie wir es sahen,
wenigstens nach dem Hinscheiden Lord Clarendons, ausgenommen während einer
kurzen lichten Zwischenpause, wo die heutige Negierung sich bewogen fand, das
festzusetzen, was wir häufig afghanische Grenzlinie Gladstones und Grcmvilles
genannt haben -- eine Art von "Bis hierher und nicht weiter" ans dem Papier.
Bereits vor sechzehn Jahren waren Gang und Ziel der russischen Politik so
offenkundig wie jetzt. Es handelte sich um eine Bewegung zum Angriff auf
Indien, unternommen in der Hoffnung, dieselbe werde die Aktion Englands von
den Dardanellen bis zum Persischen Meerbusen begrenzen und lahmen."

Zwar täuscht sich der Verfasser, wenn er meint, das Vorgehen Rußlands
in Mittelasien sei nur ein Mittel zu Zwecken im südöstlichen Europa und im
westlichen Asien, nur ein Manöver zur Ableitung und Irreführung, namentlich
wenn er glaubt, es habe diese Bedeutung noch jetzt und werde sie behalten. Aber
er meint das wohl auch nicht im Ernste, da er nach einigen weiteren Bemerkungen
fortfährt: "Der schwarze Geier, wie Vambery das Symbol Rußlands be¬
zeichnet, flog von Taschkend nach Samarkand, von der Hauptstadt Timurs,


England und Rußland in Asien.

Nicht minder bedeutend, ja noch wichtiger sind die Erfolge, welche Ru߬
land in den letzten Jahrzehnten auf dem direkten Wege durch das innere Asien
nach Afghanistan, zunächst nach Herat, dann nach Kandahar und Kabul, diplo¬
matisch und militärisch errungen hat. Auch in England empfindet man in
weiten Kreisen darüber von Jahr zu Jahr mehr Beklemmung, die sich zuweilen
in lauter Klage über die schwachsichtige, unentschlossene und zaghafte Politik
des jetzt am Ruder befindlichen Parteiregiments vernehmen läßt und die dop¬
pelte Berechtigung hat, wenn man sie mit Beaconssields Verhalten in dieser
Angelegenheit vergleicht. Erst vor kurzem machte sich die schwere Besorgnis,
welche sich jener Kreise bemächtigt hat, in dem verbreiterten Blatte Londons,
dem konservativen vint^ ?e1sg'ra,xk, in einem Leitartikel Luft, den wir als ein
Zeichen, daß man unter den verständigen Politikern an der Themse für diese
schwarze Wolke am nördlichen Gesichtskreise Indiens keineswegs mehr blind ist,
in seinen Hauptgedanken folgen lassen. Es hieß da u. a., nachdem auf die
überraschend neue Thatsache aufmerksam gemacht worden war, daß die russischen
Truppen in den letzten zwölf Monaten eine Stellung gewonnen haben, die sie
in den Stand setzt, in jedem ihnen geeignet erscheinenden Augenblicke sich der
Oasenstadt Herat zu bemächtigen: „Die heutige Lage der Dinge wurde uns
schon vor vielen Jahren mit staunenswerter Genauigkeit vorausgesagt, aber die
Leute, welche die Frage sorgfältig studirt und erwogen hatten und auf Grund
dessen die Folgen der russischen Politik in Mittelasien angeben konnten, wurden
verspottet oder mit mitleidiger Gcringschätzigkeit behandelt. Den Inhabern der
Gewalt und beglaubigten Führern der öffentlichen Meinung scheint es nicht bloß
an der höhern Eigenschaft scharfen und weiten Blickes, sondern auch an der
Gabe gefehlt zu haben, nahegelegenes und Offenkundiges zu kombiniren und
daraus Schlüsse zu ziehen. ... So haben sie gehandelt, wie wir es sahen,
wenigstens nach dem Hinscheiden Lord Clarendons, ausgenommen während einer
kurzen lichten Zwischenpause, wo die heutige Negierung sich bewogen fand, das
festzusetzen, was wir häufig afghanische Grenzlinie Gladstones und Grcmvilles
genannt haben — eine Art von »Bis hierher und nicht weiter« ans dem Papier.
Bereits vor sechzehn Jahren waren Gang und Ziel der russischen Politik so
offenkundig wie jetzt. Es handelte sich um eine Bewegung zum Angriff auf
Indien, unternommen in der Hoffnung, dieselbe werde die Aktion Englands von
den Dardanellen bis zum Persischen Meerbusen begrenzen und lahmen."

Zwar täuscht sich der Verfasser, wenn er meint, das Vorgehen Rußlands
in Mittelasien sei nur ein Mittel zu Zwecken im südöstlichen Europa und im
westlichen Asien, nur ein Manöver zur Ableitung und Irreführung, namentlich
wenn er glaubt, es habe diese Bedeutung noch jetzt und werde sie behalten. Aber
er meint das wohl auch nicht im Ernste, da er nach einigen weiteren Bemerkungen
fortfährt: „Der schwarze Geier, wie Vambery das Symbol Rußlands be¬
zeichnet, flog von Taschkend nach Samarkand, von der Hauptstadt Timurs,


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[0282] England und Rußland in Asien. Nicht minder bedeutend, ja noch wichtiger sind die Erfolge, welche Ru߬ land in den letzten Jahrzehnten auf dem direkten Wege durch das innere Asien nach Afghanistan, zunächst nach Herat, dann nach Kandahar und Kabul, diplo¬ matisch und militärisch errungen hat. Auch in England empfindet man in weiten Kreisen darüber von Jahr zu Jahr mehr Beklemmung, die sich zuweilen in lauter Klage über die schwachsichtige, unentschlossene und zaghafte Politik des jetzt am Ruder befindlichen Parteiregiments vernehmen läßt und die dop¬ pelte Berechtigung hat, wenn man sie mit Beaconssields Verhalten in dieser Angelegenheit vergleicht. Erst vor kurzem machte sich die schwere Besorgnis, welche sich jener Kreise bemächtigt hat, in dem verbreiterten Blatte Londons, dem konservativen vint^ ?e1sg'ra,xk, in einem Leitartikel Luft, den wir als ein Zeichen, daß man unter den verständigen Politikern an der Themse für diese schwarze Wolke am nördlichen Gesichtskreise Indiens keineswegs mehr blind ist, in seinen Hauptgedanken folgen lassen. Es hieß da u. a., nachdem auf die überraschend neue Thatsache aufmerksam gemacht worden war, daß die russischen Truppen in den letzten zwölf Monaten eine Stellung gewonnen haben, die sie in den Stand setzt, in jedem ihnen geeignet erscheinenden Augenblicke sich der Oasenstadt Herat zu bemächtigen: „Die heutige Lage der Dinge wurde uns schon vor vielen Jahren mit staunenswerter Genauigkeit vorausgesagt, aber die Leute, welche die Frage sorgfältig studirt und erwogen hatten und auf Grund dessen die Folgen der russischen Politik in Mittelasien angeben konnten, wurden verspottet oder mit mitleidiger Gcringschätzigkeit behandelt. Den Inhabern der Gewalt und beglaubigten Führern der öffentlichen Meinung scheint es nicht bloß an der höhern Eigenschaft scharfen und weiten Blickes, sondern auch an der Gabe gefehlt zu haben, nahegelegenes und Offenkundiges zu kombiniren und daraus Schlüsse zu ziehen. ... So haben sie gehandelt, wie wir es sahen, wenigstens nach dem Hinscheiden Lord Clarendons, ausgenommen während einer kurzen lichten Zwischenpause, wo die heutige Negierung sich bewogen fand, das festzusetzen, was wir häufig afghanische Grenzlinie Gladstones und Grcmvilles genannt haben — eine Art von »Bis hierher und nicht weiter« ans dem Papier. Bereits vor sechzehn Jahren waren Gang und Ziel der russischen Politik so offenkundig wie jetzt. Es handelte sich um eine Bewegung zum Angriff auf Indien, unternommen in der Hoffnung, dieselbe werde die Aktion Englands von den Dardanellen bis zum Persischen Meerbusen begrenzen und lahmen." Zwar täuscht sich der Verfasser, wenn er meint, das Vorgehen Rußlands in Mittelasien sei nur ein Mittel zu Zwecken im südöstlichen Europa und im westlichen Asien, nur ein Manöver zur Ableitung und Irreführung, namentlich wenn er glaubt, es habe diese Bedeutung noch jetzt und werde sie behalten. Aber er meint das wohl auch nicht im Ernste, da er nach einigen weiteren Bemerkungen fortfährt: „Der schwarze Geier, wie Vambery das Symbol Rußlands be¬ zeichnet, flog von Taschkend nach Samarkand, von der Hauptstadt Timurs,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/282>, abgerufen am 23.07.2024.