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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Aus der französischen Revolution.

mehr als 1500 Personen befinden sich in den Gefängnissen, und 9 Millionen
Franks Buße werden auf die "reichen Egoisten" gelegt. Dabei kommt diese
Stadt gegenüber Marseille und Lyon noch sehr gut weg. Der letzte Rest der
girondisiischeu Führer, der nicht guillotinirt wird oder fliehen kann, legt Hand
an sich selbst. So ist der Jakobinismus überall Herr im Lande, das als in
Revolution befindlich erklärt wird. Es kann unter angeblichen Formen des
Gesetzes eine drakonische Maßregel nach der andern beschlossen werden. Der
Ausschuß des öffentlichen Wohls und der allgemeinen Sicherheit, die Nevo-
lutionstribunalc werden errichtet, reisende Prvkonsnln, ausgestattet mit unbe¬
schränkten Vollmachten, und Lokalausschüsse brandschatzen, verhaften lind töten
nach freiem Ermessen und ohne Kontrole. Was unter dem cmoivn rvgiinv
kaum im einzelnen Falle der absolutistische Monarch zu thun gewagt hat, wird
jetzt frei und offen als regelmäßiges Verfahren gehandhabt.

Aber nicht bloß der Unsinn, anch die Greuel und Scheußlichkeiten hatten
ihre Methode, und diese war nichts andres als die exakte Ausführung des
jakobinischen Programms, wie es sich aus dem Rousseauschen oorlliAt foci",!,
aus der abstrakten Theorie eines spekulirenden, jeder Kenntnis der Dinge ent¬
behrenden oder sich ihr gewaltsam verschließenden Philosophen in den beschränkten
und leeren Köpfen fanatischer Sektirer ausgebildet hatte. Die Quintessenz des
(!uirtr"t soviel sah man in der vollständigen Entäußerung jedes Individuums und
seiner Rechte zu gunsten des Gemeinwesens. Dieser Satz, konsequent durch¬
geführt, war ein Freibrief für jede Gewaltthat und legalisirte Mord und Raub.
Nach diesem Dogma ist der Staat Eigentümer des gesamten Vermögens der
Einzelnen, und so wurden die Güter der Verdächtigen und Reichen eingezogen
und teils für öffentliche jakobinische Zwecke verwendet, teils unter die braven
Sanskülotten verteilt. Dieses Dogma berechtigte zur Requisition von Lebens¬
mitteln und Kleidern und gab die Habe des Individuums dem von einigen
entschlossenen Verbrechern geleiteten Pöbel preis. Dem Gemeinwesen gehören
aber auch die Individuen selbst, und so wurden auch die Widerstrebenden zur
Vermeidung harter Leibes- und Lebensstrafen für den Kriegs- und Zivildienst
ohne sonstige gesetzliche Ermächtigung gepreßt. Der Staat allein ist berufen,
die Idee des Guten anf Erden zu verwirklichen, er hat den Menschen zu er¬
ziehen, ihm seinen Glauben, seine Sitten, seine Gedanken und innersten Empfin¬
dungen vorzuschreiben. In Verkennung der Grundsätze des vortrat sooiÄ hat
die tausendjährige Geschichte nach jakobinischer Anschauung den natürlichen
Menschen verkommen lassen und ihn zum Sklaven mißgestaltet. Aufgabe des
Jakobinismus ist daher die Regeneration des Menschengeschlechtes und dessen
Überleitung zur Freiheit. Gegenüber der Größe dieses Unternehmens ist nicht
bloß jeder Physische Zwang erlaubt, sondern auch geboten. Zwei Faktoren sind
es, welche die Verkümmerung und Mißgestaltung des natürlichen Menschen ver¬
ursacht haben: die positive Religion und die soziale Ungleichheit. Gegen diese


Aus der französischen Revolution.

mehr als 1500 Personen befinden sich in den Gefängnissen, und 9 Millionen
Franks Buße werden auf die „reichen Egoisten" gelegt. Dabei kommt diese
Stadt gegenüber Marseille und Lyon noch sehr gut weg. Der letzte Rest der
girondisiischeu Führer, der nicht guillotinirt wird oder fliehen kann, legt Hand
an sich selbst. So ist der Jakobinismus überall Herr im Lande, das als in
Revolution befindlich erklärt wird. Es kann unter angeblichen Formen des
Gesetzes eine drakonische Maßregel nach der andern beschlossen werden. Der
Ausschuß des öffentlichen Wohls und der allgemeinen Sicherheit, die Nevo-
lutionstribunalc werden errichtet, reisende Prvkonsnln, ausgestattet mit unbe¬
schränkten Vollmachten, und Lokalausschüsse brandschatzen, verhaften lind töten
nach freiem Ermessen und ohne Kontrole. Was unter dem cmoivn rvgiinv
kaum im einzelnen Falle der absolutistische Monarch zu thun gewagt hat, wird
jetzt frei und offen als regelmäßiges Verfahren gehandhabt.

Aber nicht bloß der Unsinn, anch die Greuel und Scheußlichkeiten hatten
ihre Methode, und diese war nichts andres als die exakte Ausführung des
jakobinischen Programms, wie es sich aus dem Rousseauschen oorlliAt foci»,!,
aus der abstrakten Theorie eines spekulirenden, jeder Kenntnis der Dinge ent¬
behrenden oder sich ihr gewaltsam verschließenden Philosophen in den beschränkten
und leeren Köpfen fanatischer Sektirer ausgebildet hatte. Die Quintessenz des
(!uirtr»t soviel sah man in der vollständigen Entäußerung jedes Individuums und
seiner Rechte zu gunsten des Gemeinwesens. Dieser Satz, konsequent durch¬
geführt, war ein Freibrief für jede Gewaltthat und legalisirte Mord und Raub.
Nach diesem Dogma ist der Staat Eigentümer des gesamten Vermögens der
Einzelnen, und so wurden die Güter der Verdächtigen und Reichen eingezogen
und teils für öffentliche jakobinische Zwecke verwendet, teils unter die braven
Sanskülotten verteilt. Dieses Dogma berechtigte zur Requisition von Lebens¬
mitteln und Kleidern und gab die Habe des Individuums dem von einigen
entschlossenen Verbrechern geleiteten Pöbel preis. Dem Gemeinwesen gehören
aber auch die Individuen selbst, und so wurden auch die Widerstrebenden zur
Vermeidung harter Leibes- und Lebensstrafen für den Kriegs- und Zivildienst
ohne sonstige gesetzliche Ermächtigung gepreßt. Der Staat allein ist berufen,
die Idee des Guten anf Erden zu verwirklichen, er hat den Menschen zu er¬
ziehen, ihm seinen Glauben, seine Sitten, seine Gedanken und innersten Empfin¬
dungen vorzuschreiben. In Verkennung der Grundsätze des vortrat sooiÄ hat
die tausendjährige Geschichte nach jakobinischer Anschauung den natürlichen
Menschen verkommen lassen und ihn zum Sklaven mißgestaltet. Aufgabe des
Jakobinismus ist daher die Regeneration des Menschengeschlechtes und dessen
Überleitung zur Freiheit. Gegenüber der Größe dieses Unternehmens ist nicht
bloß jeder Physische Zwang erlaubt, sondern auch geboten. Zwei Faktoren sind
es, welche die Verkümmerung und Mißgestaltung des natürlichen Menschen ver¬
ursacht haben: die positive Religion und die soziale Ungleichheit. Gegen diese


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[0026] Aus der französischen Revolution. mehr als 1500 Personen befinden sich in den Gefängnissen, und 9 Millionen Franks Buße werden auf die „reichen Egoisten" gelegt. Dabei kommt diese Stadt gegenüber Marseille und Lyon noch sehr gut weg. Der letzte Rest der girondisiischeu Führer, der nicht guillotinirt wird oder fliehen kann, legt Hand an sich selbst. So ist der Jakobinismus überall Herr im Lande, das als in Revolution befindlich erklärt wird. Es kann unter angeblichen Formen des Gesetzes eine drakonische Maßregel nach der andern beschlossen werden. Der Ausschuß des öffentlichen Wohls und der allgemeinen Sicherheit, die Nevo- lutionstribunalc werden errichtet, reisende Prvkonsnln, ausgestattet mit unbe¬ schränkten Vollmachten, und Lokalausschüsse brandschatzen, verhaften lind töten nach freiem Ermessen und ohne Kontrole. Was unter dem cmoivn rvgiinv kaum im einzelnen Falle der absolutistische Monarch zu thun gewagt hat, wird jetzt frei und offen als regelmäßiges Verfahren gehandhabt. Aber nicht bloß der Unsinn, anch die Greuel und Scheußlichkeiten hatten ihre Methode, und diese war nichts andres als die exakte Ausführung des jakobinischen Programms, wie es sich aus dem Rousseauschen oorlliAt foci»,!, aus der abstrakten Theorie eines spekulirenden, jeder Kenntnis der Dinge ent¬ behrenden oder sich ihr gewaltsam verschließenden Philosophen in den beschränkten und leeren Köpfen fanatischer Sektirer ausgebildet hatte. Die Quintessenz des (!uirtr»t soviel sah man in der vollständigen Entäußerung jedes Individuums und seiner Rechte zu gunsten des Gemeinwesens. Dieser Satz, konsequent durch¬ geführt, war ein Freibrief für jede Gewaltthat und legalisirte Mord und Raub. Nach diesem Dogma ist der Staat Eigentümer des gesamten Vermögens der Einzelnen, und so wurden die Güter der Verdächtigen und Reichen eingezogen und teils für öffentliche jakobinische Zwecke verwendet, teils unter die braven Sanskülotten verteilt. Dieses Dogma berechtigte zur Requisition von Lebens¬ mitteln und Kleidern und gab die Habe des Individuums dem von einigen entschlossenen Verbrechern geleiteten Pöbel preis. Dem Gemeinwesen gehören aber auch die Individuen selbst, und so wurden auch die Widerstrebenden zur Vermeidung harter Leibes- und Lebensstrafen für den Kriegs- und Zivildienst ohne sonstige gesetzliche Ermächtigung gepreßt. Der Staat allein ist berufen, die Idee des Guten anf Erden zu verwirklichen, er hat den Menschen zu er¬ ziehen, ihm seinen Glauben, seine Sitten, seine Gedanken und innersten Empfin¬ dungen vorzuschreiben. In Verkennung der Grundsätze des vortrat sooiÄ hat die tausendjährige Geschichte nach jakobinischer Anschauung den natürlichen Menschen verkommen lassen und ihn zum Sklaven mißgestaltet. Aufgabe des Jakobinismus ist daher die Regeneration des Menschengeschlechtes und dessen Überleitung zur Freiheit. Gegenüber der Größe dieses Unternehmens ist nicht bloß jeder Physische Zwang erlaubt, sondern auch geboten. Zwei Faktoren sind es, welche die Verkümmerung und Mißgestaltung des natürlichen Menschen ver¬ ursacht haben: die positive Religion und die soziale Ungleichheit. Gegen diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/26>, abgerufen am 22.07.2024.