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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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entgegen, jedes tiefere Eingehen auf das Werk offenbart ihm nur immer mehr
seinen wahrhaft kunstvollen Bau.

Dies der gemeinsame Charakter der Erzählung "Villa Schönow" und des
liebenswürdigen "Sommerferienheftes" von Vater Pfisters Mühle, von denen
das letztere den Lesern dieser Blätter wohl in freundlicher Erinnerung
bleiben wird.

Bezeichnend für den Reichtum der Erfindungsgabe Wilhelm Raabes ist es
aber, in wie verschiedner Weise er von seiner Stimmung und Teilnahme an
dem gegenwärtigen Leben der Nation dichterische Mitteilung machen konnte;
denn über jene Gemeinsamkeit der Grundstimmung geht die Ähnlichkeit der beiden
Werke nicht hinaus.

Oder doch, noch ein Umstand ist ihnen gemeinsam. Der Autor sieht von
seinem stillen Poetenwinkel aus, welche Rolle nachgerade Berlin im deutschen
Reiche zu spielen beginnt, und er trägt auch diesem Faktum Rechnung. Es
scheint uns kein bloßer Zufall zu sein, daß in "Pfisters Mühle" Berlin einen
wirksamen Hintergrund zu der ländlichen Sommerfrische abgeben muß, auf
welcher die eigentliche Geschichte und ihre Erzählung, die selbst wieder humori¬
stischer Weise Handlung ist, sich abspielen; und in "Villa Schönow" ist sogar das
spezifisch Berlinische Wesen der Mittelpunkt der Dichtung selbst. Auch dies ist ein
Beitrag mehr zu unserm Urteil von dem vollen Aufgehen des Dichters in der
Gegenwart: denn wie in der Wirklichkeit die Reichshauptstadt sich inimer mehr
zum Zentrum des nationalen Lebens zu krhftallisiren strebt, so gewinnt sie auch für
unsern Dichter, der sich die Aufgabe stellte, von diesem Leben ein in seiner hu¬
moristischen Art gefaßtes Bild zu entwerfen, in gleichem Sinne an Bedeutung.

Das Motiv von "Pfisters Mühle" bildet ein Faktum, welches jetzt in
Deutschland die Kopfe der Regierenden und der Regierten am meisten in An¬
spruch nimmt und welches man als das Grundproblem der innern Politik be¬
zeichnen könnte. Es ist dies der Umwandlungsprozeß aus einem Agrikultur-
in einen Industriestaat, in welchem wir mitten drin stehen. Natürlich bildet
dieses Motiv nnr den innersten Kern der Erzählung vom Schicksale der Mühle
Vater Pfisters, welche im übrigen soviel wie garnichts mit Nationalökonomie
sich abgiebt, sondern nur nach echt dichterischer Weise eine Reihe der kostbarsten
Gestalten vorführt. In der Art und Weise aber, wie Raabe den Konflikt des
armen Müllers gestaltet und löst, liegt sein weltbejahender Humor, der die
Idylle auszuweiden versteht auf das Ganze des Lebens, wie er auch im vor¬
gesetzten Motto aus Seneca "Von der Gemütsruhe" es andeutet: "Und in dem
Blick auf das Ganze ist der doch ein stärkerer Geist, welcher das Lachen, als
der, welcher das Weinen nicht halten kann." Der Aufschwung der Industrie,
welchen Raabe nur als Frucht der wissenschaftlichen Arbeit erkennt -- besitzen
doch die deutschen Chemiker einen Weltruf --, stimmt den Humoristen nichts
weniger als sentimental. Diese großartige Thätigkeit erfreut ihn und gefällt ihm,


Krenzbotm I. 1885. 30

entgegen, jedes tiefere Eingehen auf das Werk offenbart ihm nur immer mehr
seinen wahrhaft kunstvollen Bau.

Dies der gemeinsame Charakter der Erzählung „Villa Schönow" und des
liebenswürdigen „Sommerferienheftes" von Vater Pfisters Mühle, von denen
das letztere den Lesern dieser Blätter wohl in freundlicher Erinnerung
bleiben wird.

Bezeichnend für den Reichtum der Erfindungsgabe Wilhelm Raabes ist es
aber, in wie verschiedner Weise er von seiner Stimmung und Teilnahme an
dem gegenwärtigen Leben der Nation dichterische Mitteilung machen konnte;
denn über jene Gemeinsamkeit der Grundstimmung geht die Ähnlichkeit der beiden
Werke nicht hinaus.

Oder doch, noch ein Umstand ist ihnen gemeinsam. Der Autor sieht von
seinem stillen Poetenwinkel aus, welche Rolle nachgerade Berlin im deutschen
Reiche zu spielen beginnt, und er trägt auch diesem Faktum Rechnung. Es
scheint uns kein bloßer Zufall zu sein, daß in „Pfisters Mühle" Berlin einen
wirksamen Hintergrund zu der ländlichen Sommerfrische abgeben muß, auf
welcher die eigentliche Geschichte und ihre Erzählung, die selbst wieder humori¬
stischer Weise Handlung ist, sich abspielen; und in „Villa Schönow" ist sogar das
spezifisch Berlinische Wesen der Mittelpunkt der Dichtung selbst. Auch dies ist ein
Beitrag mehr zu unserm Urteil von dem vollen Aufgehen des Dichters in der
Gegenwart: denn wie in der Wirklichkeit die Reichshauptstadt sich inimer mehr
zum Zentrum des nationalen Lebens zu krhftallisiren strebt, so gewinnt sie auch für
unsern Dichter, der sich die Aufgabe stellte, von diesem Leben ein in seiner hu¬
moristischen Art gefaßtes Bild zu entwerfen, in gleichem Sinne an Bedeutung.

Das Motiv von „Pfisters Mühle" bildet ein Faktum, welches jetzt in
Deutschland die Kopfe der Regierenden und der Regierten am meisten in An¬
spruch nimmt und welches man als das Grundproblem der innern Politik be¬
zeichnen könnte. Es ist dies der Umwandlungsprozeß aus einem Agrikultur-
in einen Industriestaat, in welchem wir mitten drin stehen. Natürlich bildet
dieses Motiv nnr den innersten Kern der Erzählung vom Schicksale der Mühle
Vater Pfisters, welche im übrigen soviel wie garnichts mit Nationalökonomie
sich abgiebt, sondern nur nach echt dichterischer Weise eine Reihe der kostbarsten
Gestalten vorführt. In der Art und Weise aber, wie Raabe den Konflikt des
armen Müllers gestaltet und löst, liegt sein weltbejahender Humor, der die
Idylle auszuweiden versteht auf das Ganze des Lebens, wie er auch im vor¬
gesetzten Motto aus Seneca „Von der Gemütsruhe" es andeutet: „Und in dem
Blick auf das Ganze ist der doch ein stärkerer Geist, welcher das Lachen, als
der, welcher das Weinen nicht halten kann." Der Aufschwung der Industrie,
welchen Raabe nur als Frucht der wissenschaftlichen Arbeit erkennt — besitzen
doch die deutschen Chemiker einen Weltruf —, stimmt den Humoristen nichts
weniger als sentimental. Diese großartige Thätigkeit erfreut ihn und gefällt ihm,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/245>, abgerufen am 25.08.2024.