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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Mißbräuche desUebensversicherungswesens.

deren Eintritt versichert werden soll, zwar gleichfalls im natürlichen Laufe der
Dinge früher oder später eintreten müssen, aber doch nicht im Lichte einer Klasse
von Ereignissen aufzufassen sind, bei denen ein bestimmter Schaden andernfalls
vom Einzelnen zu tragen wäre und mittelst der Versicherung einer Gesamtheit
zugewälzt wird. Auch diese Versicherungen, welche vielleicht das einzig berech¬
tigte Gebiet eines privaten Versicherungswesens in sich darstellen, mögen von
hohem Werte für die bürgerliche Gesellschaft sein, indem mit ihrer Hilfe durch
verhältnismäßig kleine Opfer eine Sicherheit der Familie erkauft werden kann,
die sich auf anderen Wege nur durch ungleich größere Summen bewerkstelligen
ließe. Zugegeben also, daß die "Lebensversicherung," um welche es sich hier
handelt, gleichfalls eine sehr gute und zweckmäßige Sache und jede mit ihr sich
befassende Gesellschaft die Trägerin eines sozialen Fortschrittes sei. Aber schon
viele, der Sache an und für sich nicht abgeneigte Leute haben gegenüber den
zahllosen für sie gemachten und ihre unbegrenzte Zweckmäßigkeit als ganz
selbstverständlich voraussetzenden Reklamen für alle denkbaren Formen des Le-
bensversichernngswesens den Eindruck erhalten, daß da doch wohl manche Über¬
treibung mit unterlaufen möge, und daß die ganze Sache doch in erster Linie
ein "Geschäft" sei -- weniger für das Publikum, welches haranguirt wird, sich
auf dasselbe einzulassen, unbedingt aber und in größtem Maße für diejenigen,
welche eben in die Reklametrompete stoßen. Und so ist es anch in der That.
Für viele ist es eine absolute Notwendigkeit, für sehr viele eine lobenswerte
Vorsicht, für noch andre eine ihren VcrlMtnifseu entsprechende Geldanlage, ihr
Leben in der einen oder andern Form zu versichern. Aber weder ist es wahr,
daß irgendeine Form der Lebensversicherung sich für jeden empfehle, noch daß
nicht in sehr vielen Lebenslagen die gleichen Vorteile, welche die Versicherung
bietet, auch auf anderem Wege zu erzielen wären. Es ist recht merkwürdig,
daß dieselben Leute, welche die Abwehr jedes Hilfskassenversichernngszwanges
für die Arbeiter damit zu rechtfertigen wußten, der Arbeiter wolle vielleicht
lieber ein Grundstück erwerben oder ein kleines Baarkapital erübrigen oder alle
seine Mittel in höhere Ausbildung seiner Leistungsfähigkeit stecken -- daß die¬
selben Leute, sage ich, so außerordentlich geneigt sind, die Erwerbung einer
Lebensvcrsicherungspolice als eine absolute Pflicht jedes leidlich situirter Mannes
aufzufassen. Sollte hier nicht mindestens dasselbe gelten wie von den Arbeitern,
die keiner Hilfskasse aus eignem Antriebe beitreten wollen? Und muß man hier
nicht unwillkürlich auf den Gedanken kommen, daß in dem einen Falle der
Vorteil für Privatwirtschaft und Privatkapital, im andern der "heillose" staat¬
liche Charakter des zu übenden Zwanges das eigentlich Ansschlaggebende war?

Hiermit rücken wir den Gegenstand in die rechte Beleuchtung. Das ganze
Versicherungswesen ist ein gewaltiger Hebel der modernen Kapitalwirtschaft und
bildet darum einen der Punkte, wo das in seinem Ansprüche auf absolute Herr¬
schaft bedrohte Kapital einerseits alle seine geistigen und materiellen Mittel auf-


Mißbräuche desUebensversicherungswesens.

deren Eintritt versichert werden soll, zwar gleichfalls im natürlichen Laufe der
Dinge früher oder später eintreten müssen, aber doch nicht im Lichte einer Klasse
von Ereignissen aufzufassen sind, bei denen ein bestimmter Schaden andernfalls
vom Einzelnen zu tragen wäre und mittelst der Versicherung einer Gesamtheit
zugewälzt wird. Auch diese Versicherungen, welche vielleicht das einzig berech¬
tigte Gebiet eines privaten Versicherungswesens in sich darstellen, mögen von
hohem Werte für die bürgerliche Gesellschaft sein, indem mit ihrer Hilfe durch
verhältnismäßig kleine Opfer eine Sicherheit der Familie erkauft werden kann,
die sich auf anderen Wege nur durch ungleich größere Summen bewerkstelligen
ließe. Zugegeben also, daß die „Lebensversicherung," um welche es sich hier
handelt, gleichfalls eine sehr gute und zweckmäßige Sache und jede mit ihr sich
befassende Gesellschaft die Trägerin eines sozialen Fortschrittes sei. Aber schon
viele, der Sache an und für sich nicht abgeneigte Leute haben gegenüber den
zahllosen für sie gemachten und ihre unbegrenzte Zweckmäßigkeit als ganz
selbstverständlich voraussetzenden Reklamen für alle denkbaren Formen des Le-
bensversichernngswesens den Eindruck erhalten, daß da doch wohl manche Über¬
treibung mit unterlaufen möge, und daß die ganze Sache doch in erster Linie
ein „Geschäft" sei — weniger für das Publikum, welches haranguirt wird, sich
auf dasselbe einzulassen, unbedingt aber und in größtem Maße für diejenigen,
welche eben in die Reklametrompete stoßen. Und so ist es anch in der That.
Für viele ist es eine absolute Notwendigkeit, für sehr viele eine lobenswerte
Vorsicht, für noch andre eine ihren VcrlMtnifseu entsprechende Geldanlage, ihr
Leben in der einen oder andern Form zu versichern. Aber weder ist es wahr,
daß irgendeine Form der Lebensversicherung sich für jeden empfehle, noch daß
nicht in sehr vielen Lebenslagen die gleichen Vorteile, welche die Versicherung
bietet, auch auf anderem Wege zu erzielen wären. Es ist recht merkwürdig,
daß dieselben Leute, welche die Abwehr jedes Hilfskassenversichernngszwanges
für die Arbeiter damit zu rechtfertigen wußten, der Arbeiter wolle vielleicht
lieber ein Grundstück erwerben oder ein kleines Baarkapital erübrigen oder alle
seine Mittel in höhere Ausbildung seiner Leistungsfähigkeit stecken — daß die¬
selben Leute, sage ich, so außerordentlich geneigt sind, die Erwerbung einer
Lebensvcrsicherungspolice als eine absolute Pflicht jedes leidlich situirter Mannes
aufzufassen. Sollte hier nicht mindestens dasselbe gelten wie von den Arbeitern,
die keiner Hilfskasse aus eignem Antriebe beitreten wollen? Und muß man hier
nicht unwillkürlich auf den Gedanken kommen, daß in dem einen Falle der
Vorteil für Privatwirtschaft und Privatkapital, im andern der „heillose" staat¬
liche Charakter des zu übenden Zwanges das eigentlich Ansschlaggebende war?

Hiermit rücken wir den Gegenstand in die rechte Beleuchtung. Das ganze
Versicherungswesen ist ein gewaltiger Hebel der modernen Kapitalwirtschaft und
bildet darum einen der Punkte, wo das in seinem Ansprüche auf absolute Herr¬
schaft bedrohte Kapital einerseits alle seine geistigen und materiellen Mittel auf-


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[0228] Mißbräuche desUebensversicherungswesens. deren Eintritt versichert werden soll, zwar gleichfalls im natürlichen Laufe der Dinge früher oder später eintreten müssen, aber doch nicht im Lichte einer Klasse von Ereignissen aufzufassen sind, bei denen ein bestimmter Schaden andernfalls vom Einzelnen zu tragen wäre und mittelst der Versicherung einer Gesamtheit zugewälzt wird. Auch diese Versicherungen, welche vielleicht das einzig berech¬ tigte Gebiet eines privaten Versicherungswesens in sich darstellen, mögen von hohem Werte für die bürgerliche Gesellschaft sein, indem mit ihrer Hilfe durch verhältnismäßig kleine Opfer eine Sicherheit der Familie erkauft werden kann, die sich auf anderen Wege nur durch ungleich größere Summen bewerkstelligen ließe. Zugegeben also, daß die „Lebensversicherung," um welche es sich hier handelt, gleichfalls eine sehr gute und zweckmäßige Sache und jede mit ihr sich befassende Gesellschaft die Trägerin eines sozialen Fortschrittes sei. Aber schon viele, der Sache an und für sich nicht abgeneigte Leute haben gegenüber den zahllosen für sie gemachten und ihre unbegrenzte Zweckmäßigkeit als ganz selbstverständlich voraussetzenden Reklamen für alle denkbaren Formen des Le- bensversichernngswesens den Eindruck erhalten, daß da doch wohl manche Über¬ treibung mit unterlaufen möge, und daß die ganze Sache doch in erster Linie ein „Geschäft" sei — weniger für das Publikum, welches haranguirt wird, sich auf dasselbe einzulassen, unbedingt aber und in größtem Maße für diejenigen, welche eben in die Reklametrompete stoßen. Und so ist es anch in der That. Für viele ist es eine absolute Notwendigkeit, für sehr viele eine lobenswerte Vorsicht, für noch andre eine ihren VcrlMtnifseu entsprechende Geldanlage, ihr Leben in der einen oder andern Form zu versichern. Aber weder ist es wahr, daß irgendeine Form der Lebensversicherung sich für jeden empfehle, noch daß nicht in sehr vielen Lebenslagen die gleichen Vorteile, welche die Versicherung bietet, auch auf anderem Wege zu erzielen wären. Es ist recht merkwürdig, daß dieselben Leute, welche die Abwehr jedes Hilfskassenversichernngszwanges für die Arbeiter damit zu rechtfertigen wußten, der Arbeiter wolle vielleicht lieber ein Grundstück erwerben oder ein kleines Baarkapital erübrigen oder alle seine Mittel in höhere Ausbildung seiner Leistungsfähigkeit stecken — daß die¬ selben Leute, sage ich, so außerordentlich geneigt sind, die Erwerbung einer Lebensvcrsicherungspolice als eine absolute Pflicht jedes leidlich situirter Mannes aufzufassen. Sollte hier nicht mindestens dasselbe gelten wie von den Arbeitern, die keiner Hilfskasse aus eignem Antriebe beitreten wollen? Und muß man hier nicht unwillkürlich auf den Gedanken kommen, daß in dem einen Falle der Vorteil für Privatwirtschaft und Privatkapital, im andern der „heillose" staat¬ liche Charakter des zu übenden Zwanges das eigentlich Ansschlaggebende war? Hiermit rücken wir den Gegenstand in die rechte Beleuchtung. Das ganze Versicherungswesen ist ein gewaltiger Hebel der modernen Kapitalwirtschaft und bildet darum einen der Punkte, wo das in seinem Ansprüche auf absolute Herr¬ schaft bedrohte Kapital einerseits alle seine geistigen und materiellen Mittel auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/228>, abgerufen am 22.07.2024.