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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Der erste wissenschaftliche Sozialist.

Gewalt aufrecht erhalten wird. Die Erklärung des Umstandes, daß i" diesem
faktischen Vorgänge doch, das ganze ethische Gebiet in nnos enthalten sein
kann, liegt erstens in dem individuellen Willen, der die Eigenschaft hat, sich ge¬
wöhnen zu können, zweitens in dem in die Geschichte gelegten sozialen Ent¬
wicklungsgesetze, das, mit der Familiengeineinschaft beginnend, durch die immer
weiteren Gemeinschaftskreise des Geschlechts, des Stammes, des Volkes, des
Staates zu jener schließlichen Lebensgemeinschaft des großen Menschentums führt,
die zu ihrem wesentlichen Teile in der menschlichen Willcnsgemcinschaft besteht.
Immer mehr tritt der Egoismus zurück. Moralische Urtriebe giebt es nicht,
vielmehr sind die Impulse des Willens anfänglich sinnlich-egoistischer Natur,
also unsittlich -- die christliche Erbsünde. Das Sittliche liegt dagegen "ob¬
jektiv in derjenigen Seite des zu allgemeiner Lebensgemeinschaft führenden so¬
zialen Entwicklungsgesetzes, subjektiv in der Konkordanz des individuellen Willens
mit diesem Gesetz, und hinter der Verwirklichung dieses Sittlichen hat immer
eine historische Gewalt gestanden, die dem individuellen Willen erst die Impulse
zu einer sittlichen Richtung eingegeben hat, heiße diese Gewalt nun Familien¬
vater, Stammhaupt, Staatsgewalt oder Kirche. Deshalb sind kategorische Im¬
perative, Gewissen n. d. nur geschichtlich anerzogen, nur Anteil des Einzelnen
an einem sozialen Sittlichkeitskapital." Wie in der Familienperiode der mensch¬
lichen Entwicklung, so blieben auch in der Stammpcriode derselben Moral und
Recht ungeschieden. Erst mit dem Übergang aus dem schon gesitteten Stamme
in den Staat erfolgte die Scheidung, indem es "abermals diese neue soziale
Gewalt war, die nach ihrem aus den Umständen geschöpften Ermessen die Pflege
eines Teiles dieses Gebietes fortan der Macht der sittlichen Freiheit überließ
und nur noch den andern Teil uuter seinen eignen Zwangsgcboten behielt.
Jener Teil bildete hinfort die Moral, dieser das Recht." Das letztere war
zunächst nnr positiv, nicht ideal, es hatte nur eine gebietende, objektive, ihm
von der sozialen Gewalt zugekommene, nicht auch schon fordernde subjektive, sich
an das Individuum knüpfende Natur. Noch im römischen Rechte herrscht diese
Einseitigkeit. Es kennt nur RechtSgebotc, die von der Staatsgewalt ausgehen,
aber nicht entfernt Forderungen wie die modernen Menschenrechte, und es be¬
hält jene Einseitigkeit noch zu der Zeit, als die s-LiMta,", diese höchste Blüte
des idealen Teiles des antiken Rechts, alle Lebensverhältnisse umzugestalten
beginnt. "Es sind nur Gebote einer sich weiter entwickelnden Gerechtigkeit,
welche in dieser Fortbildung des Rechtes walten, nicht der Forderungsdrang
unsers subjektiven Nechtsgcfühlö, wie er sich in den Naturrechtsshstemen aus¬
spricht." Erst mit dem christlich-germanischen Staate bildet sich auch der
andre Pol des Rechtes aus. "Die Erklärung hiervon liegt in dem individua¬
listischen Selbstgefühl, welches Erdbeschaffenhcit und Klima bei den Occidcntalen
stärker ausprägen als bei den Orientale", welches auf demjenigen spezifische"
Kulturgrade, auf dem vie Germane" standen, als sie die antike Erbschaft an-


Der erste wissenschaftliche Sozialist.

Gewalt aufrecht erhalten wird. Die Erklärung des Umstandes, daß i» diesem
faktischen Vorgänge doch, das ganze ethische Gebiet in nnos enthalten sein
kann, liegt erstens in dem individuellen Willen, der die Eigenschaft hat, sich ge¬
wöhnen zu können, zweitens in dem in die Geschichte gelegten sozialen Ent¬
wicklungsgesetze, das, mit der Familiengeineinschaft beginnend, durch die immer
weiteren Gemeinschaftskreise des Geschlechts, des Stammes, des Volkes, des
Staates zu jener schließlichen Lebensgemeinschaft des großen Menschentums führt,
die zu ihrem wesentlichen Teile in der menschlichen Willcnsgemcinschaft besteht.
Immer mehr tritt der Egoismus zurück. Moralische Urtriebe giebt es nicht,
vielmehr sind die Impulse des Willens anfänglich sinnlich-egoistischer Natur,
also unsittlich — die christliche Erbsünde. Das Sittliche liegt dagegen „ob¬
jektiv in derjenigen Seite des zu allgemeiner Lebensgemeinschaft führenden so¬
zialen Entwicklungsgesetzes, subjektiv in der Konkordanz des individuellen Willens
mit diesem Gesetz, und hinter der Verwirklichung dieses Sittlichen hat immer
eine historische Gewalt gestanden, die dem individuellen Willen erst die Impulse
zu einer sittlichen Richtung eingegeben hat, heiße diese Gewalt nun Familien¬
vater, Stammhaupt, Staatsgewalt oder Kirche. Deshalb sind kategorische Im¬
perative, Gewissen n. d. nur geschichtlich anerzogen, nur Anteil des Einzelnen
an einem sozialen Sittlichkeitskapital." Wie in der Familienperiode der mensch¬
lichen Entwicklung, so blieben auch in der Stammpcriode derselben Moral und
Recht ungeschieden. Erst mit dem Übergang aus dem schon gesitteten Stamme
in den Staat erfolgte die Scheidung, indem es „abermals diese neue soziale
Gewalt war, die nach ihrem aus den Umständen geschöpften Ermessen die Pflege
eines Teiles dieses Gebietes fortan der Macht der sittlichen Freiheit überließ
und nur noch den andern Teil uuter seinen eignen Zwangsgcboten behielt.
Jener Teil bildete hinfort die Moral, dieser das Recht." Das letztere war
zunächst nnr positiv, nicht ideal, es hatte nur eine gebietende, objektive, ihm
von der sozialen Gewalt zugekommene, nicht auch schon fordernde subjektive, sich
an das Individuum knüpfende Natur. Noch im römischen Rechte herrscht diese
Einseitigkeit. Es kennt nur RechtSgebotc, die von der Staatsgewalt ausgehen,
aber nicht entfernt Forderungen wie die modernen Menschenrechte, und es be¬
hält jene Einseitigkeit noch zu der Zeit, als die s-LiMta,«, diese höchste Blüte
des idealen Teiles des antiken Rechts, alle Lebensverhältnisse umzugestalten
beginnt. „Es sind nur Gebote einer sich weiter entwickelnden Gerechtigkeit,
welche in dieser Fortbildung des Rechtes walten, nicht der Forderungsdrang
unsers subjektiven Nechtsgcfühlö, wie er sich in den Naturrechtsshstemen aus¬
spricht." Erst mit dem christlich-germanischen Staate bildet sich auch der
andre Pol des Rechtes aus. „Die Erklärung hiervon liegt in dem individua¬
listischen Selbstgefühl, welches Erdbeschaffenhcit und Klima bei den Occidcntalen
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[0073] Der erste wissenschaftliche Sozialist. Gewalt aufrecht erhalten wird. Die Erklärung des Umstandes, daß i» diesem faktischen Vorgänge doch, das ganze ethische Gebiet in nnos enthalten sein kann, liegt erstens in dem individuellen Willen, der die Eigenschaft hat, sich ge¬ wöhnen zu können, zweitens in dem in die Geschichte gelegten sozialen Ent¬ wicklungsgesetze, das, mit der Familiengeineinschaft beginnend, durch die immer weiteren Gemeinschaftskreise des Geschlechts, des Stammes, des Volkes, des Staates zu jener schließlichen Lebensgemeinschaft des großen Menschentums führt, die zu ihrem wesentlichen Teile in der menschlichen Willcnsgemcinschaft besteht. Immer mehr tritt der Egoismus zurück. Moralische Urtriebe giebt es nicht, vielmehr sind die Impulse des Willens anfänglich sinnlich-egoistischer Natur, also unsittlich — die christliche Erbsünde. Das Sittliche liegt dagegen „ob¬ jektiv in derjenigen Seite des zu allgemeiner Lebensgemeinschaft führenden so¬ zialen Entwicklungsgesetzes, subjektiv in der Konkordanz des individuellen Willens mit diesem Gesetz, und hinter der Verwirklichung dieses Sittlichen hat immer eine historische Gewalt gestanden, die dem individuellen Willen erst die Impulse zu einer sittlichen Richtung eingegeben hat, heiße diese Gewalt nun Familien¬ vater, Stammhaupt, Staatsgewalt oder Kirche. Deshalb sind kategorische Im¬ perative, Gewissen n. d. nur geschichtlich anerzogen, nur Anteil des Einzelnen an einem sozialen Sittlichkeitskapital." Wie in der Familienperiode der mensch¬ lichen Entwicklung, so blieben auch in der Stammpcriode derselben Moral und Recht ungeschieden. Erst mit dem Übergang aus dem schon gesitteten Stamme in den Staat erfolgte die Scheidung, indem es „abermals diese neue soziale Gewalt war, die nach ihrem aus den Umständen geschöpften Ermessen die Pflege eines Teiles dieses Gebietes fortan der Macht der sittlichen Freiheit überließ und nur noch den andern Teil uuter seinen eignen Zwangsgcboten behielt. Jener Teil bildete hinfort die Moral, dieser das Recht." Das letztere war zunächst nnr positiv, nicht ideal, es hatte nur eine gebietende, objektive, ihm von der sozialen Gewalt zugekommene, nicht auch schon fordernde subjektive, sich an das Individuum knüpfende Natur. Noch im römischen Rechte herrscht diese Einseitigkeit. Es kennt nur RechtSgebotc, die von der Staatsgewalt ausgehen, aber nicht entfernt Forderungen wie die modernen Menschenrechte, und es be¬ hält jene Einseitigkeit noch zu der Zeit, als die s-LiMta,«, diese höchste Blüte des idealen Teiles des antiken Rechts, alle Lebensverhältnisse umzugestalten beginnt. „Es sind nur Gebote einer sich weiter entwickelnden Gerechtigkeit, welche in dieser Fortbildung des Rechtes walten, nicht der Forderungsdrang unsers subjektiven Nechtsgcfühlö, wie er sich in den Naturrechtsshstemen aus¬ spricht." Erst mit dem christlich-germanischen Staate bildet sich auch der andre Pol des Rechtes aus. „Die Erklärung hiervon liegt in dem individua¬ listischen Selbstgefühl, welches Erdbeschaffenhcit und Klima bei den Occidcntalen stärker ausprägen als bei den Orientale», welches auf demjenigen spezifische» Kulturgrade, auf dem vie Germane» standen, als sie die antike Erbschaft an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/73>, abgerufen am 25.08.2024.