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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Der erste wissenschaftliche Tozialist.

politischen Leben teilnehme" sollten oder nicht, und auch dann wurden sie alle
Möglichkeiten sehr ernst und nüchtern abzuwägen haben. Die Abstineuzpolitik
ist stets eine zweischneidige Waffe. Sieht die Opposition sich einer entschlossenen
Regierung gegenüber, so spielt sie ein hohes Spiel. Lange Unthätigkeit hält
die beste Truppe nicht ohne Schaden aus, und die Deutschösterreicher haben
noch keineswegs bewiesen, daß ihnen stramme Zucht zur andern Natur geworden
wäre. Auch ist unter ihren vielen "Führern" kein Politiker, welcher den Ein¬
fluß und das Ansehen eines Rieger, geschweige eines Deal genösse. Das ist
gerade bei deu jüngsten Verhandlungen über die Frage der Abstinenz aufs neue
zu Tage getreten.

Von regieruugsfreuudlichcr Seite sind die Apostel der Abstiueuzpolitik
darauf aufmerksam gemacht worden, daß der Austritt der Deutschen denjenigen
Recht geben würde, welche behaupten, der KvnstitutioualiSninS passe nicht für
Österreich. Daß der Parlamentarismus für dieses Reich noch weniger Paßt
als für andre Länder, darüber muß man sich schon heute klar sein.




Der erste wissenschaftliche ^>ozialist.

<Lis zur Mitte unsers Jahrhunderts hatte sich der Sozialismus auf
unwissenschaftlichen Wege entwickelt. Er hätte noch nicht ver¬
standen, sich die unstreitigen positiven Ergebnisse der Volkswirt¬
schaftslehre anzueignen und auf ihnen weiterzubauen. Erst in
Proudhons Schriften wurde dies versucht, und was hier wegen
der mystischen Anffnssnngsweise des Verfassers nicht gelang, wurde von Karl
Johann Rvdbertus erreicht. Indem er die Konsequenzen aus den grund-
legenden Lehren Adam Smiths und Ricardos vom Werte zog und fern von
den Deklamationen der Franzosen in ruhigem, auf gründliches Studium gestütztem
Gedankengange die gesellschaftliche" Verhältnisse der Gegenwart prüfte, wurde
er der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Von da an hörte der
Sozialismus auf, eine Utopie zu sein, er wurde zu einer Theorie, einem Shstcm.
Dieses in seinen Hauptsätzen darzustellen, seine Keime in der früheren Literatur
nachzuweisen und sie selbst möglichst eingehend zu beleuchten, wird in einer kürzlich
erschienenen Schrift verflicht, die den Titel führt: Rodbertus, der Begründer
des wissenschaftlichen Sozialismus. Eine sozial-ökonomische Studie von
or. Georg Adler. (Leipzig, Duncker und Humblot, 1884, 90 S.) Da eine
zusammenfassende, alles wesentliche hervorhebende Darstellung des Rodbcrtusschcn


Der erste wissenschaftliche Tozialist.

politischen Leben teilnehme» sollten oder nicht, und auch dann wurden sie alle
Möglichkeiten sehr ernst und nüchtern abzuwägen haben. Die Abstineuzpolitik
ist stets eine zweischneidige Waffe. Sieht die Opposition sich einer entschlossenen
Regierung gegenüber, so spielt sie ein hohes Spiel. Lange Unthätigkeit hält
die beste Truppe nicht ohne Schaden aus, und die Deutschösterreicher haben
noch keineswegs bewiesen, daß ihnen stramme Zucht zur andern Natur geworden
wäre. Auch ist unter ihren vielen „Führern" kein Politiker, welcher den Ein¬
fluß und das Ansehen eines Rieger, geschweige eines Deal genösse. Das ist
gerade bei deu jüngsten Verhandlungen über die Frage der Abstinenz aufs neue
zu Tage getreten.

Von regieruugsfreuudlichcr Seite sind die Apostel der Abstiueuzpolitik
darauf aufmerksam gemacht worden, daß der Austritt der Deutschen denjenigen
Recht geben würde, welche behaupten, der KvnstitutioualiSninS passe nicht für
Österreich. Daß der Parlamentarismus für dieses Reich noch weniger Paßt
als für andre Länder, darüber muß man sich schon heute klar sein.




Der erste wissenschaftliche ^>ozialist.

<Lis zur Mitte unsers Jahrhunderts hatte sich der Sozialismus auf
unwissenschaftlichen Wege entwickelt. Er hätte noch nicht ver¬
standen, sich die unstreitigen positiven Ergebnisse der Volkswirt¬
schaftslehre anzueignen und auf ihnen weiterzubauen. Erst in
Proudhons Schriften wurde dies versucht, und was hier wegen
der mystischen Anffnssnngsweise des Verfassers nicht gelang, wurde von Karl
Johann Rvdbertus erreicht. Indem er die Konsequenzen aus den grund-
legenden Lehren Adam Smiths und Ricardos vom Werte zog und fern von
den Deklamationen der Franzosen in ruhigem, auf gründliches Studium gestütztem
Gedankengange die gesellschaftliche» Verhältnisse der Gegenwart prüfte, wurde
er der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Von da an hörte der
Sozialismus auf, eine Utopie zu sein, er wurde zu einer Theorie, einem Shstcm.
Dieses in seinen Hauptsätzen darzustellen, seine Keime in der früheren Literatur
nachzuweisen und sie selbst möglichst eingehend zu beleuchten, wird in einer kürzlich
erschienenen Schrift verflicht, die den Titel führt: Rodbertus, der Begründer
des wissenschaftlichen Sozialismus. Eine sozial-ökonomische Studie von
or. Georg Adler. (Leipzig, Duncker und Humblot, 1884, 90 S.) Da eine
zusammenfassende, alles wesentliche hervorhebende Darstellung des Rodbcrtusschcn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/71>, abgerufen am 25.08.2024.