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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Literatur

unser Interesse in Anspruch nimmt als der Verdammte in der Hölle, Auch
wollte der Dichter, welcher die Schuld der Liebenden nicht beseitigen konnte, das
Mitleiden der Leser umsomehr rühren, je größer er das Mißverhältnis der Strafe
zur Schuld hinstellte. Endlich sollte es als ein Zeichen unbegrenzter Liebe gelten,
daß diese Liebe selbst die Höllenqualen überdauert.




Literatur.
Die Nnfallgesetzgebung der europäischen Staaten. Von T, Böditer, Geh, Reg,-Rat
und vortragenden'Rat im Reichsamt des Innern, Leipzig, Duncker und Humblot, 1884,

Auf dem ganzen Gebiete der europäischen Kultur steht die Regelung der aus
dem Unfall hervorgehenden Rechtsverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitern
schon seit einer Reihe von Jahren ans der Tagesordnung, Die Frage ist in
dauernder Bewegung; selbst da, wo die Gesetzgebung dazu gelaugte, die Haftpflicht
der Arbeitgeber uach ihrer privatrechtlichen Seite zu erweitern, wie dies u. a. auch
in Deutschland durch das Haftpflichtgesetz vom 7, Juni 1371 geschehen, ist weder
Befriedigung noch Ruhe eingetreten. Im Gegenteil, wenn früher das Wohlwollen
der Arbeitgeber den verunglückten Arbeiter nach Kräften zu unterstützen suchte, ist
jetzt das Schwergewicht aus dem Gebiete der Humanität auf das des Prozessirens
gefallen, wodurch die Gegensätze und die Verbitterung zwischen den beteiligten
Klassen uur gewachsen sind. Die Unfallseutschädigung ist ein Alpdruck, der das
Völkergewissen beschwert, und es ist deshalb ein neues, charakteristisches Merkmal
des genialen Reichskanzlers, daß er mit der ganzen Macht seiner Persönlichkeit und
mit der Begeisterung, welche die sittliche Kraft und die Überzeugung des Guten
einflößt, dem immer drohender werdenden Gespenst der Frage kühn ins Gesicht
sah und den Weg zur Lösung nicht auf dem Gebiete des privaten, sondern des
öffentlichen Rechts suchte. Mit dem Jahre 1381 beginnen, eingeleitet durch die
t'aisertiche Botschaft vom 17, November 1831, die Reformversuche des Reichskanzlers,
durch eine allgemeine Unfallversicherung mit staatlichem Charakter eine befriedigende
Lösung zu finden. Es ist bekannt, wie wenig Entgegenkommen der Reichskanzler
im Parlament für seine Pläne gefunden hat. Vergebens hat er selbst von seinen
Ideen soviel als möglich geopfert, um eine Annäherung mit den Gegnern herbei¬
zuführen. Gegenwärtig ist der dritte Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes an
den Reichstag gelangt. Es gehört zu den beliebtesten Manövern der Gegner, mit
denen alle furchtsamen Philisterherzen im deutschen Reiche bange gemacht werden,
daß alle die Entwürfe unreife Produkte einer kühnen Phantasie seien und jedes
sichern Bodens entbehrten; parlamentarisch wagte sogar der Abgeordnete Bcimberger
diese Entwürfe als "Schrullen" zu bezeichnen. Besser als durch das vorliegende
Buch kann dieser schwere Vorwurf nicht widerlegt werden. Bödiker gehört zu
deu berufensten Mitarbeitern des Kanzlers; er ist kein Neuling auf dem wirtschaft¬
lichen Gebiete, sondern hat sich bereits, abgesehen von früher" theoretischen Arbeiten,
durch seine Thätigkeit in der Richtung der Gewerbeordnung bewährt. Er ist der


Literatur

unser Interesse in Anspruch nimmt als der Verdammte in der Hölle, Auch
wollte der Dichter, welcher die Schuld der Liebenden nicht beseitigen konnte, das
Mitleiden der Leser umsomehr rühren, je größer er das Mißverhältnis der Strafe
zur Schuld hinstellte. Endlich sollte es als ein Zeichen unbegrenzter Liebe gelten,
daß diese Liebe selbst die Höllenqualen überdauert.




Literatur.
Die Nnfallgesetzgebung der europäischen Staaten. Von T, Böditer, Geh, Reg,-Rat
und vortragenden'Rat im Reichsamt des Innern, Leipzig, Duncker und Humblot, 1884,

Auf dem ganzen Gebiete der europäischen Kultur steht die Regelung der aus
dem Unfall hervorgehenden Rechtsverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitern
schon seit einer Reihe von Jahren ans der Tagesordnung, Die Frage ist in
dauernder Bewegung; selbst da, wo die Gesetzgebung dazu gelaugte, die Haftpflicht
der Arbeitgeber uach ihrer privatrechtlichen Seite zu erweitern, wie dies u. a. auch
in Deutschland durch das Haftpflichtgesetz vom 7, Juni 1371 geschehen, ist weder
Befriedigung noch Ruhe eingetreten. Im Gegenteil, wenn früher das Wohlwollen
der Arbeitgeber den verunglückten Arbeiter nach Kräften zu unterstützen suchte, ist
jetzt das Schwergewicht aus dem Gebiete der Humanität auf das des Prozessirens
gefallen, wodurch die Gegensätze und die Verbitterung zwischen den beteiligten
Klassen uur gewachsen sind. Die Unfallseutschädigung ist ein Alpdruck, der das
Völkergewissen beschwert, und es ist deshalb ein neues, charakteristisches Merkmal
des genialen Reichskanzlers, daß er mit der ganzen Macht seiner Persönlichkeit und
mit der Begeisterung, welche die sittliche Kraft und die Überzeugung des Guten
einflößt, dem immer drohender werdenden Gespenst der Frage kühn ins Gesicht
sah und den Weg zur Lösung nicht auf dem Gebiete des privaten, sondern des
öffentlichen Rechts suchte. Mit dem Jahre 1381 beginnen, eingeleitet durch die
t'aisertiche Botschaft vom 17, November 1831, die Reformversuche des Reichskanzlers,
durch eine allgemeine Unfallversicherung mit staatlichem Charakter eine befriedigende
Lösung zu finden. Es ist bekannt, wie wenig Entgegenkommen der Reichskanzler
im Parlament für seine Pläne gefunden hat. Vergebens hat er selbst von seinen
Ideen soviel als möglich geopfert, um eine Annäherung mit den Gegnern herbei¬
zuführen. Gegenwärtig ist der dritte Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes an
den Reichstag gelangt. Es gehört zu den beliebtesten Manövern der Gegner, mit
denen alle furchtsamen Philisterherzen im deutschen Reiche bange gemacht werden,
daß alle die Entwürfe unreife Produkte einer kühnen Phantasie seien und jedes
sichern Bodens entbehrten; parlamentarisch wagte sogar der Abgeordnete Bcimberger
diese Entwürfe als „Schrullen" zu bezeichnen. Besser als durch das vorliegende
Buch kann dieser schwere Vorwurf nicht widerlegt werden. Bödiker gehört zu
deu berufensten Mitarbeitern des Kanzlers; er ist kein Neuling auf dem wirtschaft¬
lichen Gebiete, sondern hat sich bereits, abgesehen von früher» theoretischen Arbeiten,
durch seine Thätigkeit in der Richtung der Gewerbeordnung bewährt. Er ist der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/688>, abgerufen am 23.07.2024.