Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Uhlenhans.

Spielhagcns neuer Roman soll sicherlich, nach seines Autors Forderung
in den "Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans," ein Abbild der
modernen Welt oder wenigstens eines abgeschlossenen Stückes derselben ent¬
halten, und dieser Inhalt erhebt den Anspruch, bedeutend zu sein. Nun
tritt wirklich in den gegenseitigen Bezügen der handelnden Personen, in ihren
Interessen, sowie in dem Inhalte der Handlung selbst übereinstimmend und vor¬
herrschend ein Motiv auf, zu dem nicht bloß jedermann im Roman bewußt oder
unbewußt Stellung nimmt, sondern das gerade die Charaktere, durch welche
die Handlung in Fluß kommt und Richtung wie Ziel erhält, vollständig aus¬
füllt und beherrscht. Es ist die Sorge um Stellung und Ansehen in der mensch¬
lichen Gesellschaft, das Streben, sich zur Geltung zu bringen und sich darin
zu behaupten. In der That ein ebenso bedeutendes, als in mehrfacher Hinsicht
modernes Motiv. Bedeutend, d. h. sowohl im Kreise individueller Empfindungen
und Strebungen als auch unter den Faktoren des allgemeinen Weltlaufs, von
hervorragendem Werte schon deshalb, weil es eine der Bedingungen enthält,
unter denen eine menschliche Gesellschaft im sozialen Sinne des Wortes möglich
ist; modern besonders im Zeitalter des Darwinismus, dessen Halbwahrheit von
dem Kampfe ums Dasein es von einer neuen und interessanten Seite beleuchtet.
Zudem in hohem Grade dankbar und ergiebig, weil es nicht nur die Entfaltung
individueller menschlicher Empfindungen und Leidenschaften in den Bestrebungen
aller gegen alle gestattet, sondern auch, im Kampfe des Einzelnen mit vielleicht
berechtigten Interessen gegen allgemeine und notwendige Verhältnisse, rein tra¬
gische Motive voll Tiefe und Kraft zu entwickeln erlaubt. Eine interessante
Vielfältigkeit der Charaktere, fesselnde Gegensätze, energische Licht- und Schatten-
Partien in der Handlung scheinen also gewährleistet. Haben wir den Dichter
recht interpretirt, so müssen wir rühmen, daß er einen meisterhaften Griff in
das lebendige Getriebe der Zeit gethan.

Wie hat er ihn entfaltet, wie jenes Grundmotiv ausgeführt? Da das
Leben eine Fülle von Beziehungen und Strebungen neben, gegen und durch
einander enthält, so kann es auch für den Dichter, der einen Abschnitt des Welt¬
bildes geben will, nicht genug sein, auf verschiedne Personen ein Grundmotiv
seinen einzelnen Richtungen nach zu verteilen und in einer passend erfundenen
Handlung zum Ausdruck zu bringen. "Abschnitt" ist ja nicht so zu verstehen,
als sollte von der Vielseitigkeit des wirklichen Lebens alles abgeschnitten werden,
worin sich jenes Grundmotiv nicht lebendig zeigt. Vielmehr muß gerade zur
Charakteristik der Rolle, die es im wirklichen Leben spielt, eine vergleichende
Schätzung neben andern Motiven menschlichen Handelns ermöglicht werden. Es
ist deshalb notwendig, eine Handlung nicht lediglich ack roe, zur Illustrirung
dieser speziellen Verhältnisse, zu erfinden, sondern eine reichere, vielseitigere
Handlung so zu kombiniren, daß unter allen in Fluß kommenden Motiven dies
eine systematisch nach allen seinen Beziehungen zum Ausdruck und durch den


Uhlenhans.

Spielhagcns neuer Roman soll sicherlich, nach seines Autors Forderung
in den „Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans," ein Abbild der
modernen Welt oder wenigstens eines abgeschlossenen Stückes derselben ent¬
halten, und dieser Inhalt erhebt den Anspruch, bedeutend zu sein. Nun
tritt wirklich in den gegenseitigen Bezügen der handelnden Personen, in ihren
Interessen, sowie in dem Inhalte der Handlung selbst übereinstimmend und vor¬
herrschend ein Motiv auf, zu dem nicht bloß jedermann im Roman bewußt oder
unbewußt Stellung nimmt, sondern das gerade die Charaktere, durch welche
die Handlung in Fluß kommt und Richtung wie Ziel erhält, vollständig aus¬
füllt und beherrscht. Es ist die Sorge um Stellung und Ansehen in der mensch¬
lichen Gesellschaft, das Streben, sich zur Geltung zu bringen und sich darin
zu behaupten. In der That ein ebenso bedeutendes, als in mehrfacher Hinsicht
modernes Motiv. Bedeutend, d. h. sowohl im Kreise individueller Empfindungen
und Strebungen als auch unter den Faktoren des allgemeinen Weltlaufs, von
hervorragendem Werte schon deshalb, weil es eine der Bedingungen enthält,
unter denen eine menschliche Gesellschaft im sozialen Sinne des Wortes möglich
ist; modern besonders im Zeitalter des Darwinismus, dessen Halbwahrheit von
dem Kampfe ums Dasein es von einer neuen und interessanten Seite beleuchtet.
Zudem in hohem Grade dankbar und ergiebig, weil es nicht nur die Entfaltung
individueller menschlicher Empfindungen und Leidenschaften in den Bestrebungen
aller gegen alle gestattet, sondern auch, im Kampfe des Einzelnen mit vielleicht
berechtigten Interessen gegen allgemeine und notwendige Verhältnisse, rein tra¬
gische Motive voll Tiefe und Kraft zu entwickeln erlaubt. Eine interessante
Vielfältigkeit der Charaktere, fesselnde Gegensätze, energische Licht- und Schatten-
Partien in der Handlung scheinen also gewährleistet. Haben wir den Dichter
recht interpretirt, so müssen wir rühmen, daß er einen meisterhaften Griff in
das lebendige Getriebe der Zeit gethan.

Wie hat er ihn entfaltet, wie jenes Grundmotiv ausgeführt? Da das
Leben eine Fülle von Beziehungen und Strebungen neben, gegen und durch
einander enthält, so kann es auch für den Dichter, der einen Abschnitt des Welt¬
bildes geben will, nicht genug sein, auf verschiedne Personen ein Grundmotiv
seinen einzelnen Richtungen nach zu verteilen und in einer passend erfundenen
Handlung zum Ausdruck zu bringen. „Abschnitt" ist ja nicht so zu verstehen,
als sollte von der Vielseitigkeit des wirklichen Lebens alles abgeschnitten werden,
worin sich jenes Grundmotiv nicht lebendig zeigt. Vielmehr muß gerade zur
Charakteristik der Rolle, die es im wirklichen Leben spielt, eine vergleichende
Schätzung neben andern Motiven menschlichen Handelns ermöglicht werden. Es
ist deshalb notwendig, eine Handlung nicht lediglich ack roe, zur Illustrirung
dieser speziellen Verhältnisse, zu erfinden, sondern eine reichere, vielseitigere
Handlung so zu kombiniren, daß unter allen in Fluß kommenden Motiven dies
eine systematisch nach allen seinen Beziehungen zum Ausdruck und durch den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0614" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155497"/>
          <fw type="header" place="top"> Uhlenhans.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2464"> Spielhagcns neuer Roman soll sicherlich, nach seines Autors Forderung<lb/>
in den &#x201E;Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans," ein Abbild der<lb/>
modernen Welt oder wenigstens eines abgeschlossenen Stückes derselben ent¬<lb/>
halten, und dieser Inhalt erhebt den Anspruch, bedeutend zu sein. Nun<lb/>
tritt wirklich in den gegenseitigen Bezügen der handelnden Personen, in ihren<lb/>
Interessen, sowie in dem Inhalte der Handlung selbst übereinstimmend und vor¬<lb/>
herrschend ein Motiv auf, zu dem nicht bloß jedermann im Roman bewußt oder<lb/>
unbewußt Stellung nimmt, sondern das gerade die Charaktere, durch welche<lb/>
die Handlung in Fluß kommt und Richtung wie Ziel erhält, vollständig aus¬<lb/>
füllt und beherrscht. Es ist die Sorge um Stellung und Ansehen in der mensch¬<lb/>
lichen Gesellschaft, das Streben, sich zur Geltung zu bringen und sich darin<lb/>
zu behaupten. In der That ein ebenso bedeutendes, als in mehrfacher Hinsicht<lb/>
modernes Motiv. Bedeutend, d. h. sowohl im Kreise individueller Empfindungen<lb/>
und Strebungen als auch unter den Faktoren des allgemeinen Weltlaufs, von<lb/>
hervorragendem Werte schon deshalb, weil es eine der Bedingungen enthält,<lb/>
unter denen eine menschliche Gesellschaft im sozialen Sinne des Wortes möglich<lb/>
ist; modern besonders im Zeitalter des Darwinismus, dessen Halbwahrheit von<lb/>
dem Kampfe ums Dasein es von einer neuen und interessanten Seite beleuchtet.<lb/>
Zudem in hohem Grade dankbar und ergiebig, weil es nicht nur die Entfaltung<lb/>
individueller menschlicher Empfindungen und Leidenschaften in den Bestrebungen<lb/>
aller gegen alle gestattet, sondern auch, im Kampfe des Einzelnen mit vielleicht<lb/>
berechtigten Interessen gegen allgemeine und notwendige Verhältnisse, rein tra¬<lb/>
gische Motive voll Tiefe und Kraft zu entwickeln erlaubt. Eine interessante<lb/>
Vielfältigkeit der Charaktere, fesselnde Gegensätze, energische Licht- und Schatten-<lb/>
Partien in der Handlung scheinen also gewährleistet. Haben wir den Dichter<lb/>
recht interpretirt, so müssen wir rühmen, daß er einen meisterhaften Griff in<lb/>
das lebendige Getriebe der Zeit gethan.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2465" next="#ID_2466"> Wie hat er ihn entfaltet, wie jenes Grundmotiv ausgeführt? Da das<lb/>
Leben eine Fülle von Beziehungen und Strebungen neben, gegen und durch<lb/>
einander enthält, so kann es auch für den Dichter, der einen Abschnitt des Welt¬<lb/>
bildes geben will, nicht genug sein, auf verschiedne Personen ein Grundmotiv<lb/>
seinen einzelnen Richtungen nach zu verteilen und in einer passend erfundenen<lb/>
Handlung zum Ausdruck zu bringen. &#x201E;Abschnitt" ist ja nicht so zu verstehen,<lb/>
als sollte von der Vielseitigkeit des wirklichen Lebens alles abgeschnitten werden,<lb/>
worin sich jenes Grundmotiv nicht lebendig zeigt. Vielmehr muß gerade zur<lb/>
Charakteristik der Rolle, die es im wirklichen Leben spielt, eine vergleichende<lb/>
Schätzung neben andern Motiven menschlichen Handelns ermöglicht werden. Es<lb/>
ist deshalb notwendig, eine Handlung nicht lediglich ack roe, zur Illustrirung<lb/>
dieser speziellen Verhältnisse, zu erfinden, sondern eine reichere, vielseitigere<lb/>
Handlung so zu kombiniren, daß unter allen in Fluß kommenden Motiven dies<lb/>
eine systematisch nach allen seinen Beziehungen zum Ausdruck und durch den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0614] Uhlenhans. Spielhagcns neuer Roman soll sicherlich, nach seines Autors Forderung in den „Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans," ein Abbild der modernen Welt oder wenigstens eines abgeschlossenen Stückes derselben ent¬ halten, und dieser Inhalt erhebt den Anspruch, bedeutend zu sein. Nun tritt wirklich in den gegenseitigen Bezügen der handelnden Personen, in ihren Interessen, sowie in dem Inhalte der Handlung selbst übereinstimmend und vor¬ herrschend ein Motiv auf, zu dem nicht bloß jedermann im Roman bewußt oder unbewußt Stellung nimmt, sondern das gerade die Charaktere, durch welche die Handlung in Fluß kommt und Richtung wie Ziel erhält, vollständig aus¬ füllt und beherrscht. Es ist die Sorge um Stellung und Ansehen in der mensch¬ lichen Gesellschaft, das Streben, sich zur Geltung zu bringen und sich darin zu behaupten. In der That ein ebenso bedeutendes, als in mehrfacher Hinsicht modernes Motiv. Bedeutend, d. h. sowohl im Kreise individueller Empfindungen und Strebungen als auch unter den Faktoren des allgemeinen Weltlaufs, von hervorragendem Werte schon deshalb, weil es eine der Bedingungen enthält, unter denen eine menschliche Gesellschaft im sozialen Sinne des Wortes möglich ist; modern besonders im Zeitalter des Darwinismus, dessen Halbwahrheit von dem Kampfe ums Dasein es von einer neuen und interessanten Seite beleuchtet. Zudem in hohem Grade dankbar und ergiebig, weil es nicht nur die Entfaltung individueller menschlicher Empfindungen und Leidenschaften in den Bestrebungen aller gegen alle gestattet, sondern auch, im Kampfe des Einzelnen mit vielleicht berechtigten Interessen gegen allgemeine und notwendige Verhältnisse, rein tra¬ gische Motive voll Tiefe und Kraft zu entwickeln erlaubt. Eine interessante Vielfältigkeit der Charaktere, fesselnde Gegensätze, energische Licht- und Schatten- Partien in der Handlung scheinen also gewährleistet. Haben wir den Dichter recht interpretirt, so müssen wir rühmen, daß er einen meisterhaften Griff in das lebendige Getriebe der Zeit gethan. Wie hat er ihn entfaltet, wie jenes Grundmotiv ausgeführt? Da das Leben eine Fülle von Beziehungen und Strebungen neben, gegen und durch einander enthält, so kann es auch für den Dichter, der einen Abschnitt des Welt¬ bildes geben will, nicht genug sein, auf verschiedne Personen ein Grundmotiv seinen einzelnen Richtungen nach zu verteilen und in einer passend erfundenen Handlung zum Ausdruck zu bringen. „Abschnitt" ist ja nicht so zu verstehen, als sollte von der Vielseitigkeit des wirklichen Lebens alles abgeschnitten werden, worin sich jenes Grundmotiv nicht lebendig zeigt. Vielmehr muß gerade zur Charakteristik der Rolle, die es im wirklichen Leben spielt, eine vergleichende Schätzung neben andern Motiven menschlichen Handelns ermöglicht werden. Es ist deshalb notwendig, eine Handlung nicht lediglich ack roe, zur Illustrirung dieser speziellen Verhältnisse, zu erfinden, sondern eine reichere, vielseitigere Handlung so zu kombiniren, daß unter allen in Fluß kommenden Motiven dies eine systematisch nach allen seinen Beziehungen zum Ausdruck und durch den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/614
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/614>, abgerufen am 04.07.2024.