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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Auf der Leiter des Glücks.

Von mir, fuhr er fort, ist Ihnen nur zu viel bekannt. Unsre erste Be¬
gegnung gleich hat Sie belehrt, daß ich auf meinen Reisen nicht vorzugsweise
Sitte und Austand studirt hatte. Haben Sie mir den geraubten Kuß verziehen,
Fräulein Elise?

Wer denkt noch daran? gab sie, ohne ihn anzusehen, zur Antwort.

Auch was weiter unter Ihren Augen an richtigen Getändel getrieben
wurde, fuhr er wieder fort, lassen Sie es begraben und vergessen sein. Ich habe
ein schweres Jahr des Grübelns und Nachdenkens hinter mir, bin ein ganz
andrer geworden, atme erst seit gestern wieder auf. Setzen Sie sich, fuhr er
uach einer Pause in noch herzlicherem Tone fort, reden wir als alte Nachbars¬
leute. Wir waren es doch einmal. Ich möchte Ihnen von meinen guten Eltern
erzählen, Sie sagen mir dann etwas von den Ihren.

Niemals! rief sie, aber sie setzte sich.

Er verstummte und sah sie fragend an. Sie hatte die Stirn in die Hand
gestützt. Das weiße Kopftuch der Diakonissin bedeckte fast die ganze ihm zu¬
gekehrte Seite ihres Gesichts. Aber ob sie auf Schönheit Anspruch hatte oder
ob sie auch jetzt noch zu jenen Unscheinbaren gehörte, die mehr nur durch ihr
ganzes Wesen interessiren und rühren -- fern lag es ihm, daran zu denken.
Daß sie voll Herzensgüte war, von diesem Gefühl hatte seine Sehnsucht nach
Wiederauffinden ihrer Spur unablässig gezehrt. Er war von demselben auch in
diesem Augenblicke erfüllt.

Fräulein Elise, begann er "ach einer Weile von neuem, Sie haben also
keine freundlichen Kindheitserinnerungen, keine liebe Heimat. Das erklärt mir
vieles. Aber umso minder recht handeln Sie, wenn Sie auch eine Teilnahme
zurückstoße", wie ich sie Ihnen entgegenbringe.

Ich stoße Ihre Teilnahme nicht zurück, sagte sie mit gepreßter Stimme;
aber ich frage: wozu das alles?

Um -- um -- ja, wozu? Sie trafen das rechte Wort.

Um mich zu beunruhigen! rief sie; eben hatte ich mein Gleichgewicht wieder¬
gefunden.

Er reichte ihr die Hand hinüber. O nein, nicht um Sie zu beunruhigen
-- aber sie nahm die Hand nicht --, um Ihnen offen zu sagen, wie es mit mir steht.

Als ob ichs nicht wüßte!

Sie?

Ich-

Und da lassen Sie mich Ihnen die Hand vergebens entgegenstrecken?
Eben deshalb thu ichs.

Rätselhaftes Wesen! Und wenn ich nun nicht länger, was in mir vor¬
geht, hinter halben Andeutungen Versteckens spielen ließe? Wenn ich dir sagte --

Wozu? Ich weiß es ja! Sie siud ja gut, Sie würden ja nicht so zu
einem armen Mädchen reden, wenn Sie nicht Balsam für jede Wunde, die Sie


Auf der Leiter des Glücks.

Von mir, fuhr er fort, ist Ihnen nur zu viel bekannt. Unsre erste Be¬
gegnung gleich hat Sie belehrt, daß ich auf meinen Reisen nicht vorzugsweise
Sitte und Austand studirt hatte. Haben Sie mir den geraubten Kuß verziehen,
Fräulein Elise?

Wer denkt noch daran? gab sie, ohne ihn anzusehen, zur Antwort.

Auch was weiter unter Ihren Augen an richtigen Getändel getrieben
wurde, fuhr er wieder fort, lassen Sie es begraben und vergessen sein. Ich habe
ein schweres Jahr des Grübelns und Nachdenkens hinter mir, bin ein ganz
andrer geworden, atme erst seit gestern wieder auf. Setzen Sie sich, fuhr er
uach einer Pause in noch herzlicherem Tone fort, reden wir als alte Nachbars¬
leute. Wir waren es doch einmal. Ich möchte Ihnen von meinen guten Eltern
erzählen, Sie sagen mir dann etwas von den Ihren.

Niemals! rief sie, aber sie setzte sich.

Er verstummte und sah sie fragend an. Sie hatte die Stirn in die Hand
gestützt. Das weiße Kopftuch der Diakonissin bedeckte fast die ganze ihm zu¬
gekehrte Seite ihres Gesichts. Aber ob sie auf Schönheit Anspruch hatte oder
ob sie auch jetzt noch zu jenen Unscheinbaren gehörte, die mehr nur durch ihr
ganzes Wesen interessiren und rühren — fern lag es ihm, daran zu denken.
Daß sie voll Herzensgüte war, von diesem Gefühl hatte seine Sehnsucht nach
Wiederauffinden ihrer Spur unablässig gezehrt. Er war von demselben auch in
diesem Augenblicke erfüllt.

Fräulein Elise, begann er »ach einer Weile von neuem, Sie haben also
keine freundlichen Kindheitserinnerungen, keine liebe Heimat. Das erklärt mir
vieles. Aber umso minder recht handeln Sie, wenn Sie auch eine Teilnahme
zurückstoße», wie ich sie Ihnen entgegenbringe.

Ich stoße Ihre Teilnahme nicht zurück, sagte sie mit gepreßter Stimme;
aber ich frage: wozu das alles?

Um — um — ja, wozu? Sie trafen das rechte Wort.

Um mich zu beunruhigen! rief sie; eben hatte ich mein Gleichgewicht wieder¬
gefunden.

Er reichte ihr die Hand hinüber. O nein, nicht um Sie zu beunruhigen
— aber sie nahm die Hand nicht —, um Ihnen offen zu sagen, wie es mit mir steht.

Als ob ichs nicht wüßte!

Sie?

Ich-

Und da lassen Sie mich Ihnen die Hand vergebens entgegenstrecken?
Eben deshalb thu ichs.

Rätselhaftes Wesen! Und wenn ich nun nicht länger, was in mir vor¬
geht, hinter halben Andeutungen Versteckens spielen ließe? Wenn ich dir sagte —

Wozu? Ich weiß es ja! Sie siud ja gut, Sie würden ja nicht so zu
einem armen Mädchen reden, wenn Sie nicht Balsam für jede Wunde, die Sie


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[0584] Auf der Leiter des Glücks. Von mir, fuhr er fort, ist Ihnen nur zu viel bekannt. Unsre erste Be¬ gegnung gleich hat Sie belehrt, daß ich auf meinen Reisen nicht vorzugsweise Sitte und Austand studirt hatte. Haben Sie mir den geraubten Kuß verziehen, Fräulein Elise? Wer denkt noch daran? gab sie, ohne ihn anzusehen, zur Antwort. Auch was weiter unter Ihren Augen an richtigen Getändel getrieben wurde, fuhr er wieder fort, lassen Sie es begraben und vergessen sein. Ich habe ein schweres Jahr des Grübelns und Nachdenkens hinter mir, bin ein ganz andrer geworden, atme erst seit gestern wieder auf. Setzen Sie sich, fuhr er uach einer Pause in noch herzlicherem Tone fort, reden wir als alte Nachbars¬ leute. Wir waren es doch einmal. Ich möchte Ihnen von meinen guten Eltern erzählen, Sie sagen mir dann etwas von den Ihren. Niemals! rief sie, aber sie setzte sich. Er verstummte und sah sie fragend an. Sie hatte die Stirn in die Hand gestützt. Das weiße Kopftuch der Diakonissin bedeckte fast die ganze ihm zu¬ gekehrte Seite ihres Gesichts. Aber ob sie auf Schönheit Anspruch hatte oder ob sie auch jetzt noch zu jenen Unscheinbaren gehörte, die mehr nur durch ihr ganzes Wesen interessiren und rühren — fern lag es ihm, daran zu denken. Daß sie voll Herzensgüte war, von diesem Gefühl hatte seine Sehnsucht nach Wiederauffinden ihrer Spur unablässig gezehrt. Er war von demselben auch in diesem Augenblicke erfüllt. Fräulein Elise, begann er »ach einer Weile von neuem, Sie haben also keine freundlichen Kindheitserinnerungen, keine liebe Heimat. Das erklärt mir vieles. Aber umso minder recht handeln Sie, wenn Sie auch eine Teilnahme zurückstoße», wie ich sie Ihnen entgegenbringe. Ich stoße Ihre Teilnahme nicht zurück, sagte sie mit gepreßter Stimme; aber ich frage: wozu das alles? Um — um — ja, wozu? Sie trafen das rechte Wort. Um mich zu beunruhigen! rief sie; eben hatte ich mein Gleichgewicht wieder¬ gefunden. Er reichte ihr die Hand hinüber. O nein, nicht um Sie zu beunruhigen — aber sie nahm die Hand nicht —, um Ihnen offen zu sagen, wie es mit mir steht. Als ob ichs nicht wüßte! Sie? Ich- Und da lassen Sie mich Ihnen die Hand vergebens entgegenstrecken? Eben deshalb thu ichs. Rätselhaftes Wesen! Und wenn ich nun nicht länger, was in mir vor¬ geht, hinter halben Andeutungen Versteckens spielen ließe? Wenn ich dir sagte — Wozu? Ich weiß es ja! Sie siud ja gut, Sie würden ja nicht so zu einem armen Mädchen reden, wenn Sie nicht Balsam für jede Wunde, die Sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/584>, abgerufen am 22.07.2024.