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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die Einverleibung von Merw.

haupteu, daß solche Rücksichtncihmc eine Prämie auf die Kindererzeugung sei. Viel
wahrer ist das Gegenteil, daß die Nichtberücksichtigung der Familie das Jung-
gesellenleben begünstigt, die Zahl der Ehen vermindert und die der unehelichen
Kinder, und was damit zusammenhängt, vermehrt.

^. Und was wäre denn nun aus alledem zu schließen?

L. Daß im Steuerwesen einfach der bekannte mephistophelische Spruch umzukehren
ist, weil da die Theorie zuweilen grün und golden, die Praxis aber allezeit gran
ist, und daß unter allen Umständen die Einkommensteuer das Lob nicht verdient,
das ihr solche Personen zollen, auf welche Doktrin und Politische Schlagwörter all¬
mächtigen Einfluß haben.




Die Ginverleibung von Merw.

ährend das Ministerium Glcidstone sich noch abmühte, die von seiner
Verblendung und Schwachmntigkeit in Ägypten begangnen Ver¬
säumnisse und Mißgriffe nach Möglichkeit wieder gutzumachen,
traf aus Mittelasien die Kunde von einem Ereignisse ein, welches
von vielen als eine neue Niederlage jener Politik betrachtet wird,
die Kandahar und den Sudan räumte. Maro, die Oasenstadt der
Turkmenen, die wichtigste Etappe auf dem Wege nach Herat und von da nach
Afghanistan, ist dem russischen Reiche einverleibt worden. Die Nachricht war
zuerst im Mrä zu lesen, der die Annexion des Schlüssels von Britisch-Judien von
feiten Rußlands mit den Worten meldete: "Die Turkmenen vou Maro haben
soeben deu Kaiser von Rußland eingeladen, die Regierung ihres Landes zu über¬
nehmen." Nach weitern Berichten ans Taschkend", die in Petersburg eintrafen,
begann sich am 20. Dezember v. I. ein russisches Heer zum Vormarsche uach
Merw in Bewegung zu setze". Bevor die Expedition aufbrach, hielt der bekannte
General Tfcheruajeff, begleitet vou einem höheren französischen Offizier, über die
Truppen, die aus sechs Infanterieregimentern, acht Schwadronen Dragonern, sieben
Sotnien Kosaken und vier Batterien Artillerie bestanden, eine große Parade ub.
Am nächsten Tage rückten diese Streitkräfte nach ihrem Bestimmungsorte ab, und
mis die Nachricht hiervon Taschkend verließ, hatten ein Kosakenregiment, zwei Jn-
fanteriebatailloue und eine Batterie bereits die Grenzen des Chanats Bocharn hinter
sich. Die Expedition hatte auf ihrem Wege keinerlei Widerstand gefunden, vielmehr
war sie von der Bevölkerung allenthalben, willkommen geheißen worden. Am
11. Februar konnte Tschernajeff dein Kaiser melden, daß die Häuptlinge von vier
Turkmcnenstämmen und vierundzwanzig Bevollmächtigte, die etwa zweitausend
Kibitken (Zelte) vertraten, ihren Wunsch, russische Unterthanen zu werden, erklärt
und ihre Unterwerfung eidlich bekräftigt hätten. Dieselben hätten sich zu diesem
Akte freiwillig entschlossen, indem sie begriffen, daß sie sich nicht selbst regieren
und mir unter Rußlands Ägide in Friede" leben könnten. Am 12. Februar
pnssirte Tschernajeff Orenburg, um nach Petersburg zu gehen und dem Kaiser


Die Einverleibung von Merw.

haupteu, daß solche Rücksichtncihmc eine Prämie auf die Kindererzeugung sei. Viel
wahrer ist das Gegenteil, daß die Nichtberücksichtigung der Familie das Jung-
gesellenleben begünstigt, die Zahl der Ehen vermindert und die der unehelichen
Kinder, und was damit zusammenhängt, vermehrt.

^. Und was wäre denn nun aus alledem zu schließen?

L. Daß im Steuerwesen einfach der bekannte mephistophelische Spruch umzukehren
ist, weil da die Theorie zuweilen grün und golden, die Praxis aber allezeit gran
ist, und daß unter allen Umständen die Einkommensteuer das Lob nicht verdient,
das ihr solche Personen zollen, auf welche Doktrin und Politische Schlagwörter all¬
mächtigen Einfluß haben.




Die Ginverleibung von Merw.

ährend das Ministerium Glcidstone sich noch abmühte, die von seiner
Verblendung und Schwachmntigkeit in Ägypten begangnen Ver¬
säumnisse und Mißgriffe nach Möglichkeit wieder gutzumachen,
traf aus Mittelasien die Kunde von einem Ereignisse ein, welches
von vielen als eine neue Niederlage jener Politik betrachtet wird,
die Kandahar und den Sudan räumte. Maro, die Oasenstadt der
Turkmenen, die wichtigste Etappe auf dem Wege nach Herat und von da nach
Afghanistan, ist dem russischen Reiche einverleibt worden. Die Nachricht war
zuerst im Mrä zu lesen, der die Annexion des Schlüssels von Britisch-Judien von
feiten Rußlands mit den Worten meldete: „Die Turkmenen vou Maro haben
soeben deu Kaiser von Rußland eingeladen, die Regierung ihres Landes zu über¬
nehmen." Nach weitern Berichten ans Taschkend», die in Petersburg eintrafen,
begann sich am 20. Dezember v. I. ein russisches Heer zum Vormarsche uach
Merw in Bewegung zu setze». Bevor die Expedition aufbrach, hielt der bekannte
General Tfcheruajeff, begleitet vou einem höheren französischen Offizier, über die
Truppen, die aus sechs Infanterieregimentern, acht Schwadronen Dragonern, sieben
Sotnien Kosaken und vier Batterien Artillerie bestanden, eine große Parade ub.
Am nächsten Tage rückten diese Streitkräfte nach ihrem Bestimmungsorte ab, und
mis die Nachricht hiervon Taschkend verließ, hatten ein Kosakenregiment, zwei Jn-
fanteriebatailloue und eine Batterie bereits die Grenzen des Chanats Bocharn hinter
sich. Die Expedition hatte auf ihrem Wege keinerlei Widerstand gefunden, vielmehr
war sie von der Bevölkerung allenthalben, willkommen geheißen worden. Am
11. Februar konnte Tschernajeff dein Kaiser melden, daß die Häuptlinge von vier
Turkmcnenstämmen und vierundzwanzig Bevollmächtigte, die etwa zweitausend
Kibitken (Zelte) vertraten, ihren Wunsch, russische Unterthanen zu werden, erklärt
und ihre Unterwerfung eidlich bekräftigt hätten. Dieselben hätten sich zu diesem
Akte freiwillig entschlossen, indem sie begriffen, daß sie sich nicht selbst regieren
und mir unter Rußlands Ägide in Friede» leben könnten. Am 12. Februar
pnssirte Tschernajeff Orenburg, um nach Petersburg zu gehen und dem Kaiser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/521>, abgerufen am 24.07.2024.