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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Unser Reichskanzler.

läge seines Volkes erwägen, und so würde er, wenn man ihn nötigen wollte,
Politik zu treiben, von des Gedankens Blässe angekränkelt, schwer zum Handeln
kommen. Derartige Gedanken erkennen wir z. B. aus dem verlegenen Ton,
mit welchem Friedrich der Große Voltaire mitteilt (23. März 1742). wie es
um seinen siegreichen Krieg mit Maria Theresia stehe. Nov cluzr Voltaire,
schreibt er, ,js ors-ins as vouZ sorirs, og.r ,js n'g.i ä'^nerfs nouvöllvs a vous
Mimäsr, Mg Ä'uns esxöes aoud vous us vous soueis^ Zusrö, on a.us vous
ÄvnorrW. Das war das große Leiden im Leben des Königs, daß er sich
mit Politik befassen mußte, während er von Natur ein Philosoph war.
Der wahrhaft große Denker wird unter den Menschen immer wie unter einer
Herde von Wölfen umhergehen, ohne Lust, mit ihnen zu heulen, ohne Kraft,
sie niederzuschlagen, und ohne Hoffnung, sie zu vernünftigen Wesen machen zu
können. Er wird froh sein, wenn er, gleich dem vom Gewitter überraschten Wan¬
derer, irgendwo ein schützendes Dach findet, wo er sich unangefochten der Ausbil¬
dung seines Geistes widmen und der Menschheit einen Dienst von sicherm Wert
für die Zukunft leisten, endlich aber, frei von Ungerechtigkeit und Frevel, heitern
Mutes sterben kann. Ihm werden in der Einsamkeit und Verborgenheit Welt
und Leben immer Heller und klarer werden, je älter er wird.

Der Held der That ist ganz anders beschaffen, und er ist von dem Helden
des Gedankens wohl zu unterscheiden. Er ist vor allem mit einer gewissen
Fähigkeit ausgestattet, welche man wohl den Sinn für Thatsachen nennen könnte.
Wer das Leben eines Peter des Großen, einer Katharina II., eines Napoleon I.
oder auch das Leben eines Bismarck studirt, wird durch ein gewisses politisches
Hellsehen bei diesen Größen überrascht, welches einen fast übernatürlich zu
nennenden Eindruck macht. Während hundert Millionen ihrer Mitmenschen
und Hunderte von hochgestellten Personen in derselben Welt mit ihnen leben,
ist es ihnen vor allen gegeben, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist.
Sie sind Propheten der Gegenwart, indem sie die Zustände und Absichten
fremder Länder, Höfe und Armeen trotz des trennenden Raumes so klar er¬
kennen, wie der Prophet die Zukunft trotz der trennenden Zeit. Sie sehen, was
andern Leuten unsichtbar ist, und sie berechnen nicht etwa, kalkuliren nicht, ab-
strahiren nicht, denn zu allen solchen Dingen fehlt im Sturm der Ereignisse
schon die Zeit, sondern sie greifen mittelst ihres Sinnes für Thatsachen intuitio
zu. Diese Fähigkeit ist es, welche man bei ihnen Glück nennt. Solch ein Glück
war es, welches Napoleon vom Leutnant zum Kaiser machte, inmitten vieler
tausende von andern ehrgeizigen Männern. Solch ein Glück ist auch das,
durch welches Bismarck alle schlauen und berechnenden Diplomaten in Schrecken
setzt und an der Nase führt. Aber noch eine andre Eigenschaft kommt hinzu:
die Festigkeit des Charakters. Sie überlegen nicht, ob sie die von ihnen klar
erkannten Umstände benutzen sollen, sondern sie benutzen sie mit derselben un¬
fehlbaren Sicherheit, mit welcher die Magnetnadel sich immer nach Norden dreht.


Unser Reichskanzler.

läge seines Volkes erwägen, und so würde er, wenn man ihn nötigen wollte,
Politik zu treiben, von des Gedankens Blässe angekränkelt, schwer zum Handeln
kommen. Derartige Gedanken erkennen wir z. B. aus dem verlegenen Ton,
mit welchem Friedrich der Große Voltaire mitteilt (23. März 1742). wie es
um seinen siegreichen Krieg mit Maria Theresia stehe. Nov cluzr Voltaire,
schreibt er, ,js ors-ins as vouZ sorirs, og.r ,js n'g.i ä'^nerfs nouvöllvs a vous
Mimäsr, Mg Ä'uns esxöes aoud vous us vous soueis^ Zusrö, on a.us vous
ÄvnorrW. Das war das große Leiden im Leben des Königs, daß er sich
mit Politik befassen mußte, während er von Natur ein Philosoph war.
Der wahrhaft große Denker wird unter den Menschen immer wie unter einer
Herde von Wölfen umhergehen, ohne Lust, mit ihnen zu heulen, ohne Kraft,
sie niederzuschlagen, und ohne Hoffnung, sie zu vernünftigen Wesen machen zu
können. Er wird froh sein, wenn er, gleich dem vom Gewitter überraschten Wan¬
derer, irgendwo ein schützendes Dach findet, wo er sich unangefochten der Ausbil¬
dung seines Geistes widmen und der Menschheit einen Dienst von sicherm Wert
für die Zukunft leisten, endlich aber, frei von Ungerechtigkeit und Frevel, heitern
Mutes sterben kann. Ihm werden in der Einsamkeit und Verborgenheit Welt
und Leben immer Heller und klarer werden, je älter er wird.

Der Held der That ist ganz anders beschaffen, und er ist von dem Helden
des Gedankens wohl zu unterscheiden. Er ist vor allem mit einer gewissen
Fähigkeit ausgestattet, welche man wohl den Sinn für Thatsachen nennen könnte.
Wer das Leben eines Peter des Großen, einer Katharina II., eines Napoleon I.
oder auch das Leben eines Bismarck studirt, wird durch ein gewisses politisches
Hellsehen bei diesen Größen überrascht, welches einen fast übernatürlich zu
nennenden Eindruck macht. Während hundert Millionen ihrer Mitmenschen
und Hunderte von hochgestellten Personen in derselben Welt mit ihnen leben,
ist es ihnen vor allen gegeben, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist.
Sie sind Propheten der Gegenwart, indem sie die Zustände und Absichten
fremder Länder, Höfe und Armeen trotz des trennenden Raumes so klar er¬
kennen, wie der Prophet die Zukunft trotz der trennenden Zeit. Sie sehen, was
andern Leuten unsichtbar ist, und sie berechnen nicht etwa, kalkuliren nicht, ab-
strahiren nicht, denn zu allen solchen Dingen fehlt im Sturm der Ereignisse
schon die Zeit, sondern sie greifen mittelst ihres Sinnes für Thatsachen intuitio
zu. Diese Fähigkeit ist es, welche man bei ihnen Glück nennt. Solch ein Glück
war es, welches Napoleon vom Leutnant zum Kaiser machte, inmitten vieler
tausende von andern ehrgeizigen Männern. Solch ein Glück ist auch das,
durch welches Bismarck alle schlauen und berechnenden Diplomaten in Schrecken
setzt und an der Nase führt. Aber noch eine andre Eigenschaft kommt hinzu:
die Festigkeit des Charakters. Sie überlegen nicht, ob sie die von ihnen klar
erkannten Umstände benutzen sollen, sondern sie benutzen sie mit derselben un¬
fehlbaren Sicherheit, mit welcher die Magnetnadel sich immer nach Norden dreht.


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[0513] Unser Reichskanzler. läge seines Volkes erwägen, und so würde er, wenn man ihn nötigen wollte, Politik zu treiben, von des Gedankens Blässe angekränkelt, schwer zum Handeln kommen. Derartige Gedanken erkennen wir z. B. aus dem verlegenen Ton, mit welchem Friedrich der Große Voltaire mitteilt (23. März 1742). wie es um seinen siegreichen Krieg mit Maria Theresia stehe. Nov cluzr Voltaire, schreibt er, ,js ors-ins as vouZ sorirs, og.r ,js n'g.i ä'^nerfs nouvöllvs a vous Mimäsr, Mg Ä'uns esxöes aoud vous us vous soueis^ Zusrö, on a.us vous ÄvnorrW. Das war das große Leiden im Leben des Königs, daß er sich mit Politik befassen mußte, während er von Natur ein Philosoph war. Der wahrhaft große Denker wird unter den Menschen immer wie unter einer Herde von Wölfen umhergehen, ohne Lust, mit ihnen zu heulen, ohne Kraft, sie niederzuschlagen, und ohne Hoffnung, sie zu vernünftigen Wesen machen zu können. Er wird froh sein, wenn er, gleich dem vom Gewitter überraschten Wan¬ derer, irgendwo ein schützendes Dach findet, wo er sich unangefochten der Ausbil¬ dung seines Geistes widmen und der Menschheit einen Dienst von sicherm Wert für die Zukunft leisten, endlich aber, frei von Ungerechtigkeit und Frevel, heitern Mutes sterben kann. Ihm werden in der Einsamkeit und Verborgenheit Welt und Leben immer Heller und klarer werden, je älter er wird. Der Held der That ist ganz anders beschaffen, und er ist von dem Helden des Gedankens wohl zu unterscheiden. Er ist vor allem mit einer gewissen Fähigkeit ausgestattet, welche man wohl den Sinn für Thatsachen nennen könnte. Wer das Leben eines Peter des Großen, einer Katharina II., eines Napoleon I. oder auch das Leben eines Bismarck studirt, wird durch ein gewisses politisches Hellsehen bei diesen Größen überrascht, welches einen fast übernatürlich zu nennenden Eindruck macht. Während hundert Millionen ihrer Mitmenschen und Hunderte von hochgestellten Personen in derselben Welt mit ihnen leben, ist es ihnen vor allen gegeben, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Sie sind Propheten der Gegenwart, indem sie die Zustände und Absichten fremder Länder, Höfe und Armeen trotz des trennenden Raumes so klar er¬ kennen, wie der Prophet die Zukunft trotz der trennenden Zeit. Sie sehen, was andern Leuten unsichtbar ist, und sie berechnen nicht etwa, kalkuliren nicht, ab- strahiren nicht, denn zu allen solchen Dingen fehlt im Sturm der Ereignisse schon die Zeit, sondern sie greifen mittelst ihres Sinnes für Thatsachen intuitio zu. Diese Fähigkeit ist es, welche man bei ihnen Glück nennt. Solch ein Glück war es, welches Napoleon vom Leutnant zum Kaiser machte, inmitten vieler tausende von andern ehrgeizigen Männern. Solch ein Glück ist auch das, durch welches Bismarck alle schlauen und berechnenden Diplomaten in Schrecken setzt und an der Nase führt. Aber noch eine andre Eigenschaft kommt hinzu: die Festigkeit des Charakters. Sie überlegen nicht, ob sie die von ihnen klar erkannten Umstände benutzen sollen, sondern sie benutzen sie mit derselben un¬ fehlbaren Sicherheit, mit welcher die Magnetnadel sich immer nach Norden dreht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/513>, abgerufen am 28.09.2024.