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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Rußland und die armenische Frage.

serbische Armee nicht mehr bloß als Vortrupp einer russischen, gegen Konstan-
tinopel marschirenden Angriffskolonne betrachtet sein wollen, seitdem sogar
Bulgarien eine selbständige Politik zu treiben beginnt, richtet sich das
Augenmerk der russische" Strategen mehr auf das asiatische Kriegstheater und
die Etappenstraße, die von Ardcchan nach der Bosporusmüudung führt. Wer
die Meerenge besitzt, beherrscht auch die Hauptstadt. Gegen einen Angriff zu
Lande aber sind die Bosporusbefestigungcn des asiatischen Ufers ungedeckt. Auf
der europäischen Seite ist während des letzten russisch-türkischen Krieges ein
Verteidiguugsabschnitt durch Errichtung von achtundvierzig Feldschauzeu herzu¬
stellen versucht worden. Diese Anlage, welche von dem am Schwarzen Meere
gelegnen Orte Darkos bis zu dem kleinen Hafen des Marmaramceres Kütschuk-
Tschekmekdsche reicht, würde bei ausreichender Armirnug und Besatzung den
Vormarsch einer feindlichen Armee auf die Hauptstadt immerhin einige Zeit
aufzuhalten vermöge". Im Januar 1878 wurde freilich ein solcher Versuch
garnicht gemacht, weniger wegen Mangels an Vcrteidigungsmitteln, als infolge
der mit der Eroberung von Adrianopel eingetretenen allgemeinen Mutlosigkeit.
Während die Strandbatterien des Bosporus gegen einen westlichen Augriff
wenigstens einigermaßen geschützt sind, liegt das Terrain für einen Angreifer
von Osten völlig frei. Die Strandbatterieu der Meerenge sind nur gegen einen
maritimen Angriff angelegt. Sie liegen dicht über dem Wasserspiegel und können
überall von dem hinter ihnen aufsteigenden Terrain eingesehen werden. Ein von
Armenien vordringendes russisches Korps würde an dem zeruirtcu Erzerum
vorüber seinen Marsch gegen den Bosporus fortsetzen können, ohne an irgend
einer Stelle durch andre als natürliche Verteidigungsabschnitte aufgehalten zu
werde". Wenn es also dazu kommen sollte, daß das christliche Krenz auf der
Hagia Sophia durch russische Hände wieder aufgerichtet wird, so werden diese
es voraussichtlich von Skutari hinübertragen.

Wir haben, ohne uns in solche Kombinatioiie" verlieren zu wollen, hier
nur anzudeuten versucht, welche Bedeutung der Besitz des armenischen Hoch¬
plateaus als militärische Operationsbasis für Rußland haben kann, nud wie
sehr der russischen Regierung demnach daran liegen muß, die Stimmung der
armenischen Unterthanen des Sultans auf und für diesen Fall vorzubereiten.

In den militärischen und politische" Kreisen des übrigen Europas nimmt
man an diesen Vorgängen meist nur ein geringes Interesse, schon deshalb, weil
es überaus schwierig ist, zuverlässige, ungefärbte Mitteilungen aus jenem ent¬
legnen Gebiet zu erhalten. Die Zahl fremder Konsulate ist dort sehr beschränkt.
England allein unterhält einige politische Agenten, deren Jnformationsgebiet
sich auch auf die von Europäer" sonst wenig besuchten Gegenden erstreckt. Die
englische Regierung ist daher mich die einzige, welche die russischen Agitationen
mit Aufmerksamkeit und Mißtrauen verfolgt. Sie allein hat tara" el" positives
Interesse; denn Großbritannien ist überhaupt die einzige Macht, welche uns diesem


Rußland und die armenische Frage.

serbische Armee nicht mehr bloß als Vortrupp einer russischen, gegen Konstan-
tinopel marschirenden Angriffskolonne betrachtet sein wollen, seitdem sogar
Bulgarien eine selbständige Politik zu treiben beginnt, richtet sich das
Augenmerk der russische» Strategen mehr auf das asiatische Kriegstheater und
die Etappenstraße, die von Ardcchan nach der Bosporusmüudung führt. Wer
die Meerenge besitzt, beherrscht auch die Hauptstadt. Gegen einen Angriff zu
Lande aber sind die Bosporusbefestigungcn des asiatischen Ufers ungedeckt. Auf
der europäischen Seite ist während des letzten russisch-türkischen Krieges ein
Verteidiguugsabschnitt durch Errichtung von achtundvierzig Feldschauzeu herzu¬
stellen versucht worden. Diese Anlage, welche von dem am Schwarzen Meere
gelegnen Orte Darkos bis zu dem kleinen Hafen des Marmaramceres Kütschuk-
Tschekmekdsche reicht, würde bei ausreichender Armirnug und Besatzung den
Vormarsch einer feindlichen Armee auf die Hauptstadt immerhin einige Zeit
aufzuhalten vermöge». Im Januar 1878 wurde freilich ein solcher Versuch
garnicht gemacht, weniger wegen Mangels an Vcrteidigungsmitteln, als infolge
der mit der Eroberung von Adrianopel eingetretenen allgemeinen Mutlosigkeit.
Während die Strandbatterien des Bosporus gegen einen westlichen Augriff
wenigstens einigermaßen geschützt sind, liegt das Terrain für einen Angreifer
von Osten völlig frei. Die Strandbatterieu der Meerenge sind nur gegen einen
maritimen Angriff angelegt. Sie liegen dicht über dem Wasserspiegel und können
überall von dem hinter ihnen aufsteigenden Terrain eingesehen werden. Ein von
Armenien vordringendes russisches Korps würde an dem zeruirtcu Erzerum
vorüber seinen Marsch gegen den Bosporus fortsetzen können, ohne an irgend
einer Stelle durch andre als natürliche Verteidigungsabschnitte aufgehalten zu
werde». Wenn es also dazu kommen sollte, daß das christliche Krenz auf der
Hagia Sophia durch russische Hände wieder aufgerichtet wird, so werden diese
es voraussichtlich von Skutari hinübertragen.

Wir haben, ohne uns in solche Kombinatioiie» verlieren zu wollen, hier
nur anzudeuten versucht, welche Bedeutung der Besitz des armenischen Hoch¬
plateaus als militärische Operationsbasis für Rußland haben kann, nud wie
sehr der russischen Regierung demnach daran liegen muß, die Stimmung der
armenischen Unterthanen des Sultans auf und für diesen Fall vorzubereiten.

In den militärischen und politische» Kreisen des übrigen Europas nimmt
man an diesen Vorgängen meist nur ein geringes Interesse, schon deshalb, weil
es überaus schwierig ist, zuverlässige, ungefärbte Mitteilungen aus jenem ent¬
legnen Gebiet zu erhalten. Die Zahl fremder Konsulate ist dort sehr beschränkt.
England allein unterhält einige politische Agenten, deren Jnformationsgebiet
sich auch auf die von Europäer» sonst wenig besuchten Gegenden erstreckt. Die
englische Regierung ist daher mich die einzige, welche die russischen Agitationen
mit Aufmerksamkeit und Mißtrauen verfolgt. Sie allein hat tara» el» positives
Interesse; denn Großbritannien ist überhaupt die einzige Macht, welche uns diesem


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[0500] Rußland und die armenische Frage. serbische Armee nicht mehr bloß als Vortrupp einer russischen, gegen Konstan- tinopel marschirenden Angriffskolonne betrachtet sein wollen, seitdem sogar Bulgarien eine selbständige Politik zu treiben beginnt, richtet sich das Augenmerk der russische» Strategen mehr auf das asiatische Kriegstheater und die Etappenstraße, die von Ardcchan nach der Bosporusmüudung führt. Wer die Meerenge besitzt, beherrscht auch die Hauptstadt. Gegen einen Angriff zu Lande aber sind die Bosporusbefestigungcn des asiatischen Ufers ungedeckt. Auf der europäischen Seite ist während des letzten russisch-türkischen Krieges ein Verteidiguugsabschnitt durch Errichtung von achtundvierzig Feldschauzeu herzu¬ stellen versucht worden. Diese Anlage, welche von dem am Schwarzen Meere gelegnen Orte Darkos bis zu dem kleinen Hafen des Marmaramceres Kütschuk- Tschekmekdsche reicht, würde bei ausreichender Armirnug und Besatzung den Vormarsch einer feindlichen Armee auf die Hauptstadt immerhin einige Zeit aufzuhalten vermöge». Im Januar 1878 wurde freilich ein solcher Versuch garnicht gemacht, weniger wegen Mangels an Vcrteidigungsmitteln, als infolge der mit der Eroberung von Adrianopel eingetretenen allgemeinen Mutlosigkeit. Während die Strandbatterien des Bosporus gegen einen westlichen Augriff wenigstens einigermaßen geschützt sind, liegt das Terrain für einen Angreifer von Osten völlig frei. Die Strandbatterieu der Meerenge sind nur gegen einen maritimen Angriff angelegt. Sie liegen dicht über dem Wasserspiegel und können überall von dem hinter ihnen aufsteigenden Terrain eingesehen werden. Ein von Armenien vordringendes russisches Korps würde an dem zeruirtcu Erzerum vorüber seinen Marsch gegen den Bosporus fortsetzen können, ohne an irgend einer Stelle durch andre als natürliche Verteidigungsabschnitte aufgehalten zu werde». Wenn es also dazu kommen sollte, daß das christliche Krenz auf der Hagia Sophia durch russische Hände wieder aufgerichtet wird, so werden diese es voraussichtlich von Skutari hinübertragen. Wir haben, ohne uns in solche Kombinatioiie» verlieren zu wollen, hier nur anzudeuten versucht, welche Bedeutung der Besitz des armenischen Hoch¬ plateaus als militärische Operationsbasis für Rußland haben kann, nud wie sehr der russischen Regierung demnach daran liegen muß, die Stimmung der armenischen Unterthanen des Sultans auf und für diesen Fall vorzubereiten. In den militärischen und politische» Kreisen des übrigen Europas nimmt man an diesen Vorgängen meist nur ein geringes Interesse, schon deshalb, weil es überaus schwierig ist, zuverlässige, ungefärbte Mitteilungen aus jenem ent¬ legnen Gebiet zu erhalten. Die Zahl fremder Konsulate ist dort sehr beschränkt. England allein unterhält einige politische Agenten, deren Jnformationsgebiet sich auch auf die von Europäer» sonst wenig besuchten Gegenden erstreckt. Die englische Regierung ist daher mich die einzige, welche die russischen Agitationen mit Aufmerksamkeit und Mißtrauen verfolgt. Sie allein hat tara» el» positives Interesse; denn Großbritannien ist überhaupt die einzige Macht, welche uns diesem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/500>, abgerufen am 28.09.2024.