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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Rußland und die armenische Frage.
(Schluß.)

M^öoch weniger glücklich sind natürlich auch die von russischer
Seite gemachten Annäherungsversuche. Die jungen Theologen
von Etschmiadzin vermöchten nicht, auch wenn sie selbst von
den Segnungen des russischen Staatslebens vollauf überzeugt
wären, unter ihren geistlichen Brüdern in der Türkei Proselyten
für die russische Sache zu machen. Letztere glauben bei dem Tausch nicht zu ge¬
winnen, und so ist denn auch ihr Streben dahin gerichtet, die Bande, welche
die armenische Provinz an die Osmanenherrschaft knüpfen, nicht zu lockern, son¬
dern zu befestigen. Natürlich sucht der Patriarch die Leiden der armenischen
Stammesgenossen zu mildern, und er macht sich bei der Pforte sowohl als auch
bei den Vertretern der Kongreßmächte zum beredten Organ der berechtigten
Wünsche und Beschwerden, zu denen die Übergriffe der türkischen Beamten und
die räuberischen Einfälle der Kurden seit Jahren hinreichenden Stoff bieten.
Das Patriarchat überreicht zu diesem Zwecke alle paar Monate eine Liste, in
welcher die Zahl und die Namen der erschlagenen und beraubten Männer, der
gemißhandelten Mädchen auf Grund "zuverlässiger Erhebungen" eingetragen,
die Stückzahl des geraubten Viehes angegeben und der Schaden bezeichnet ist,
welchen die Streifzüge der Kurden durch Zerstörung und Brandstiftung in den
armenischen Orten verursacht haben. Diese Listen gewähren einen traurigen
Einblick in die Unsicherheit der dortigen Zustände. Allein derartige Aufzeich¬
nungen ließen sich noch in vielen andern Teilen des türkischen Reiches vor¬
nehmen. In der Umgegend von Smyrna, von Salonik, im Rhodopegebirge,
ja in der Nähe der Hauptstadt selbst sind Leben und Besitz der friedlichen Be¬
wohner keineswegs gesichert. Namentlich überall da, wo tscherkessische Ansiedlungen
stattgefunden haben, kommen unaufhörlich Gewaltakte gegen die christliche Be¬
völkerung vor. In Armenien sind sie größtenteils in dem Nomadentum der
kurdischen Bergbewohner begründet. Diese überlassen die Feldarbeit den christ¬
lichen Ansiedlern. Was sie zu ihrem kärglichen Lebensunterhalte brauchen, muß
ihnen, soweit es das Weideland der Berghänge nicht liefert, von den Thal¬
bewohnern abgelassen werden. Einst waren die kriegerischen Bergstämme den
friedlichen Bauern durch Abwehr feindlicher Einfälle nützlich. Gern wurde ihr
Schutz durch Lieferungen von Brot und Salz erkauft. Die Klcphthen Griechen¬
lands und die Freiheitshelden der schwarzen Berge standen und stehen noch
heute in einem ähnlichen Verhältnis zu der arbeitenden Bevölkerungsklasse. Die


Rußland und die armenische Frage.
(Schluß.)

M^öoch weniger glücklich sind natürlich auch die von russischer
Seite gemachten Annäherungsversuche. Die jungen Theologen
von Etschmiadzin vermöchten nicht, auch wenn sie selbst von
den Segnungen des russischen Staatslebens vollauf überzeugt
wären, unter ihren geistlichen Brüdern in der Türkei Proselyten
für die russische Sache zu machen. Letztere glauben bei dem Tausch nicht zu ge¬
winnen, und so ist denn auch ihr Streben dahin gerichtet, die Bande, welche
die armenische Provinz an die Osmanenherrschaft knüpfen, nicht zu lockern, son¬
dern zu befestigen. Natürlich sucht der Patriarch die Leiden der armenischen
Stammesgenossen zu mildern, und er macht sich bei der Pforte sowohl als auch
bei den Vertretern der Kongreßmächte zum beredten Organ der berechtigten
Wünsche und Beschwerden, zu denen die Übergriffe der türkischen Beamten und
die räuberischen Einfälle der Kurden seit Jahren hinreichenden Stoff bieten.
Das Patriarchat überreicht zu diesem Zwecke alle paar Monate eine Liste, in
welcher die Zahl und die Namen der erschlagenen und beraubten Männer, der
gemißhandelten Mädchen auf Grund „zuverlässiger Erhebungen" eingetragen,
die Stückzahl des geraubten Viehes angegeben und der Schaden bezeichnet ist,
welchen die Streifzüge der Kurden durch Zerstörung und Brandstiftung in den
armenischen Orten verursacht haben. Diese Listen gewähren einen traurigen
Einblick in die Unsicherheit der dortigen Zustände. Allein derartige Aufzeich¬
nungen ließen sich noch in vielen andern Teilen des türkischen Reiches vor¬
nehmen. In der Umgegend von Smyrna, von Salonik, im Rhodopegebirge,
ja in der Nähe der Hauptstadt selbst sind Leben und Besitz der friedlichen Be¬
wohner keineswegs gesichert. Namentlich überall da, wo tscherkessische Ansiedlungen
stattgefunden haben, kommen unaufhörlich Gewaltakte gegen die christliche Be¬
völkerung vor. In Armenien sind sie größtenteils in dem Nomadentum der
kurdischen Bergbewohner begründet. Diese überlassen die Feldarbeit den christ¬
lichen Ansiedlern. Was sie zu ihrem kärglichen Lebensunterhalte brauchen, muß
ihnen, soweit es das Weideland der Berghänge nicht liefert, von den Thal¬
bewohnern abgelassen werden. Einst waren die kriegerischen Bergstämme den
friedlichen Bauern durch Abwehr feindlicher Einfälle nützlich. Gern wurde ihr
Schutz durch Lieferungen von Brot und Salz erkauft. Die Klcphthen Griechen¬
lands und die Freiheitshelden der schwarzen Berge standen und stehen noch
heute in einem ähnlichen Verhältnis zu der arbeitenden Bevölkerungsklasse. Die


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[0496] Rußland und die armenische Frage. (Schluß.) M^öoch weniger glücklich sind natürlich auch die von russischer Seite gemachten Annäherungsversuche. Die jungen Theologen von Etschmiadzin vermöchten nicht, auch wenn sie selbst von den Segnungen des russischen Staatslebens vollauf überzeugt wären, unter ihren geistlichen Brüdern in der Türkei Proselyten für die russische Sache zu machen. Letztere glauben bei dem Tausch nicht zu ge¬ winnen, und so ist denn auch ihr Streben dahin gerichtet, die Bande, welche die armenische Provinz an die Osmanenherrschaft knüpfen, nicht zu lockern, son¬ dern zu befestigen. Natürlich sucht der Patriarch die Leiden der armenischen Stammesgenossen zu mildern, und er macht sich bei der Pforte sowohl als auch bei den Vertretern der Kongreßmächte zum beredten Organ der berechtigten Wünsche und Beschwerden, zu denen die Übergriffe der türkischen Beamten und die räuberischen Einfälle der Kurden seit Jahren hinreichenden Stoff bieten. Das Patriarchat überreicht zu diesem Zwecke alle paar Monate eine Liste, in welcher die Zahl und die Namen der erschlagenen und beraubten Männer, der gemißhandelten Mädchen auf Grund „zuverlässiger Erhebungen" eingetragen, die Stückzahl des geraubten Viehes angegeben und der Schaden bezeichnet ist, welchen die Streifzüge der Kurden durch Zerstörung und Brandstiftung in den armenischen Orten verursacht haben. Diese Listen gewähren einen traurigen Einblick in die Unsicherheit der dortigen Zustände. Allein derartige Aufzeich¬ nungen ließen sich noch in vielen andern Teilen des türkischen Reiches vor¬ nehmen. In der Umgegend von Smyrna, von Salonik, im Rhodopegebirge, ja in der Nähe der Hauptstadt selbst sind Leben und Besitz der friedlichen Be¬ wohner keineswegs gesichert. Namentlich überall da, wo tscherkessische Ansiedlungen stattgefunden haben, kommen unaufhörlich Gewaltakte gegen die christliche Be¬ völkerung vor. In Armenien sind sie größtenteils in dem Nomadentum der kurdischen Bergbewohner begründet. Diese überlassen die Feldarbeit den christ¬ lichen Ansiedlern. Was sie zu ihrem kärglichen Lebensunterhalte brauchen, muß ihnen, soweit es das Weideland der Berghänge nicht liefert, von den Thal¬ bewohnern abgelassen werden. Einst waren die kriegerischen Bergstämme den friedlichen Bauern durch Abwehr feindlicher Einfälle nützlich. Gern wurde ihr Schutz durch Lieferungen von Brot und Salz erkauft. Die Klcphthen Griechen¬ lands und die Freiheitshelden der schwarzen Berge standen und stehen noch heute in einem ähnlichen Verhältnis zu der arbeitenden Bevölkerungsklasse. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/496>, abgerufen am 24.08.2024.