Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die deutsche Universität - Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren.

Ohne Zweifel treten uns in diesen Ansichten höchst beachtenswerte Vor¬
schläge entgegen, die viel für sich haben und in ernste Diskussion gezogen werden
sollten. Gleichwohl scheint die Begründung der Zunahme des Universitäts¬
studiums nicht durchgängig einleuchtend, und namentlich der Einfluß der wirt¬
schaftlichen Depression fraglich. Conrad sagt freilich selbst von dieser, daß sie
nicht so durchgreifend wirke wie die andern, und legt ihr somit kein großes Ge¬
wicht bei, wir sind aber geneigt, eine Wirkung derselben ganz zu leugnen. Wenn
dieselbe am Ende der siebziger Jahre vorhanden gewesen ist und sich vielleicht
bis in den Anfang dieses Jahrzehnts hinein erstreckt hat, seit 1881/82 kann
man von ihr nicht mehr reden, gerade die letzten vier bis fünf Semester weisen die
kolossale Steigerung in der Zahl der Studenten auf. Sollte nicht aus dieser
Zunahme vielmehr gefolgert werden dürfen, daß dem größern Teile der Be¬
völkerung die Mittel zum Unterhalt der Söhne auf den Universitäten in reich¬
lichem Maße zur Verfügung stehen, von einer Notlage der Eltern also kaum
gesprochen werden kann? Die auf den Universitäten vorhandenen Stipendien
sind ja nicht so zahlreich, daß sie die jungen Leute geradezu anlocken. Es ist
sehr zu bedauern, daß nicht auch der Beruf der Väter unsrer studirenden Jugend
hat ermittelt werden können. Sollten die Hallischen Erfahrungen, daß in neuerer
Zeit der Zuzug aus den untern Klassen gestiegen sei, für die andern Universi¬
täten gleichfalls zutreffen, so spräche das mehr für unsre Auffassung als gegen
dieselbe. Die untern Älassen beginnen ein Interesse für höhere Bildung erst
dann zu bekunden, wenn sie ein gewisses wirtschaftliches Niveau erreicht haben
und nicht mehr in hartem Kampfe die Mittel für das Alltäglichste erwerben
müssen. Sind sie in der Lage, bei leidlichem Auskommen die Unterhaltungs¬
kosten für die Söhne auf den Universitäten mit bestreikn zu können, und unter¬
ziehen sie sich dem gern, so ist das gewiß ein Symptom idealistischer Gesinnung,
das man nicht geringschätzen darf.

Wenn wir so die Idee bekämpfen, als ob ungünstige Aussichten in Bezug
auf unsre Wirtschaftsverhältnisse die jungen Männer dem Studium in die Arme
trieben, so erscheint es uns auch fraglich, ob mit aller Macht auf eine Ver¬
minderung des Zudranges zu den Universitäten hingearbeitet werden müsse.
Deutschlands Export von Gelehrten ist seit Jahrzehnten vorhanden -- sollte
es nicht möglich sein, denselben noch mehr zu steigern? Wir erleben es täglich,
daß überseeische Länder sich Professoren, Beamte und Lehrer aus dem deutschen
Reiche holen, weil unser Sprachen- und Lehrtalent ein größeres zu sein scheint
als das andrer Nationen. Und wenn nun der Deutsche an dem zwar nicht
gewinnreichen, aber immerhin sein Auskommen und seine Lvrberen bietenden
Berufe, der Schulmeister für jedermann zu sein, Genüge findet, warum ihn
daran hindern? Auch nationalökonomisch wirkt ein Absatz von Lehrkräften an
das Ausland vorteilhaft. Fremde werden infolge dessen stets zahlreicher zu
längerm oder kürzeren Besuche ins deutsche Reiche strömen, der Export von Lehr-


Die deutsche Universität - Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren.

Ohne Zweifel treten uns in diesen Ansichten höchst beachtenswerte Vor¬
schläge entgegen, die viel für sich haben und in ernste Diskussion gezogen werden
sollten. Gleichwohl scheint die Begründung der Zunahme des Universitäts¬
studiums nicht durchgängig einleuchtend, und namentlich der Einfluß der wirt¬
schaftlichen Depression fraglich. Conrad sagt freilich selbst von dieser, daß sie
nicht so durchgreifend wirke wie die andern, und legt ihr somit kein großes Ge¬
wicht bei, wir sind aber geneigt, eine Wirkung derselben ganz zu leugnen. Wenn
dieselbe am Ende der siebziger Jahre vorhanden gewesen ist und sich vielleicht
bis in den Anfang dieses Jahrzehnts hinein erstreckt hat, seit 1881/82 kann
man von ihr nicht mehr reden, gerade die letzten vier bis fünf Semester weisen die
kolossale Steigerung in der Zahl der Studenten auf. Sollte nicht aus dieser
Zunahme vielmehr gefolgert werden dürfen, daß dem größern Teile der Be¬
völkerung die Mittel zum Unterhalt der Söhne auf den Universitäten in reich¬
lichem Maße zur Verfügung stehen, von einer Notlage der Eltern also kaum
gesprochen werden kann? Die auf den Universitäten vorhandenen Stipendien
sind ja nicht so zahlreich, daß sie die jungen Leute geradezu anlocken. Es ist
sehr zu bedauern, daß nicht auch der Beruf der Väter unsrer studirenden Jugend
hat ermittelt werden können. Sollten die Hallischen Erfahrungen, daß in neuerer
Zeit der Zuzug aus den untern Klassen gestiegen sei, für die andern Universi¬
täten gleichfalls zutreffen, so spräche das mehr für unsre Auffassung als gegen
dieselbe. Die untern Älassen beginnen ein Interesse für höhere Bildung erst
dann zu bekunden, wenn sie ein gewisses wirtschaftliches Niveau erreicht haben
und nicht mehr in hartem Kampfe die Mittel für das Alltäglichste erwerben
müssen. Sind sie in der Lage, bei leidlichem Auskommen die Unterhaltungs¬
kosten für die Söhne auf den Universitäten mit bestreikn zu können, und unter¬
ziehen sie sich dem gern, so ist das gewiß ein Symptom idealistischer Gesinnung,
das man nicht geringschätzen darf.

Wenn wir so die Idee bekämpfen, als ob ungünstige Aussichten in Bezug
auf unsre Wirtschaftsverhältnisse die jungen Männer dem Studium in die Arme
trieben, so erscheint es uns auch fraglich, ob mit aller Macht auf eine Ver¬
minderung des Zudranges zu den Universitäten hingearbeitet werden müsse.
Deutschlands Export von Gelehrten ist seit Jahrzehnten vorhanden — sollte
es nicht möglich sein, denselben noch mehr zu steigern? Wir erleben es täglich,
daß überseeische Länder sich Professoren, Beamte und Lehrer aus dem deutschen
Reiche holen, weil unser Sprachen- und Lehrtalent ein größeres zu sein scheint
als das andrer Nationen. Und wenn nun der Deutsche an dem zwar nicht
gewinnreichen, aber immerhin sein Auskommen und seine Lvrberen bietenden
Berufe, der Schulmeister für jedermann zu sein, Genüge findet, warum ihn
daran hindern? Auch nationalökonomisch wirkt ein Absatz von Lehrkräften an
das Ausland vorteilhaft. Fremde werden infolge dessen stets zahlreicher zu
längerm oder kürzeren Besuche ins deutsche Reiche strömen, der Export von Lehr-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0465" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155348"/>
          <fw type="header" place="top"> Die deutsche Universität - Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1854"> Ohne Zweifel treten uns in diesen Ansichten höchst beachtenswerte Vor¬<lb/>
schläge entgegen, die viel für sich haben und in ernste Diskussion gezogen werden<lb/>
sollten. Gleichwohl scheint die Begründung der Zunahme des Universitäts¬<lb/>
studiums nicht durchgängig einleuchtend, und namentlich der Einfluß der wirt¬<lb/>
schaftlichen Depression fraglich. Conrad sagt freilich selbst von dieser, daß sie<lb/>
nicht so durchgreifend wirke wie die andern, und legt ihr somit kein großes Ge¬<lb/>
wicht bei, wir sind aber geneigt, eine Wirkung derselben ganz zu leugnen. Wenn<lb/>
dieselbe am Ende der siebziger Jahre vorhanden gewesen ist und sich vielleicht<lb/>
bis in den Anfang dieses Jahrzehnts hinein erstreckt hat, seit 1881/82 kann<lb/>
man von ihr nicht mehr reden, gerade die letzten vier bis fünf Semester weisen die<lb/>
kolossale Steigerung in der Zahl der Studenten auf. Sollte nicht aus dieser<lb/>
Zunahme vielmehr gefolgert werden dürfen, daß dem größern Teile der Be¬<lb/>
völkerung die Mittel zum Unterhalt der Söhne auf den Universitäten in reich¬<lb/>
lichem Maße zur Verfügung stehen, von einer Notlage der Eltern also kaum<lb/>
gesprochen werden kann? Die auf den Universitäten vorhandenen Stipendien<lb/>
sind ja nicht so zahlreich, daß sie die jungen Leute geradezu anlocken. Es ist<lb/>
sehr zu bedauern, daß nicht auch der Beruf der Väter unsrer studirenden Jugend<lb/>
hat ermittelt werden können. Sollten die Hallischen Erfahrungen, daß in neuerer<lb/>
Zeit der Zuzug aus den untern Klassen gestiegen sei, für die andern Universi¬<lb/>
täten gleichfalls zutreffen, so spräche das mehr für unsre Auffassung als gegen<lb/>
dieselbe. Die untern Älassen beginnen ein Interesse für höhere Bildung erst<lb/>
dann zu bekunden, wenn sie ein gewisses wirtschaftliches Niveau erreicht haben<lb/>
und nicht mehr in hartem Kampfe die Mittel für das Alltäglichste erwerben<lb/>
müssen. Sind sie in der Lage, bei leidlichem Auskommen die Unterhaltungs¬<lb/>
kosten für die Söhne auf den Universitäten mit bestreikn zu können, und unter¬<lb/>
ziehen sie sich dem gern, so ist das gewiß ein Symptom idealistischer Gesinnung,<lb/>
das man nicht geringschätzen darf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1855" next="#ID_1856"> Wenn wir so die Idee bekämpfen, als ob ungünstige Aussichten in Bezug<lb/>
auf unsre Wirtschaftsverhältnisse die jungen Männer dem Studium in die Arme<lb/>
trieben, so erscheint es uns auch fraglich, ob mit aller Macht auf eine Ver¬<lb/>
minderung des Zudranges zu den Universitäten hingearbeitet werden müsse.<lb/>
Deutschlands Export von Gelehrten ist seit Jahrzehnten vorhanden &#x2014; sollte<lb/>
es nicht möglich sein, denselben noch mehr zu steigern? Wir erleben es täglich,<lb/>
daß überseeische Länder sich Professoren, Beamte und Lehrer aus dem deutschen<lb/>
Reiche holen, weil unser Sprachen- und Lehrtalent ein größeres zu sein scheint<lb/>
als das andrer Nationen. Und wenn nun der Deutsche an dem zwar nicht<lb/>
gewinnreichen, aber immerhin sein Auskommen und seine Lvrberen bietenden<lb/>
Berufe, der Schulmeister für jedermann zu sein, Genüge findet, warum ihn<lb/>
daran hindern? Auch nationalökonomisch wirkt ein Absatz von Lehrkräften an<lb/>
das Ausland vorteilhaft. Fremde werden infolge dessen stets zahlreicher zu<lb/>
längerm oder kürzeren Besuche ins deutsche Reiche strömen, der Export von Lehr-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0465] Die deutsche Universität - Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren. Ohne Zweifel treten uns in diesen Ansichten höchst beachtenswerte Vor¬ schläge entgegen, die viel für sich haben und in ernste Diskussion gezogen werden sollten. Gleichwohl scheint die Begründung der Zunahme des Universitäts¬ studiums nicht durchgängig einleuchtend, und namentlich der Einfluß der wirt¬ schaftlichen Depression fraglich. Conrad sagt freilich selbst von dieser, daß sie nicht so durchgreifend wirke wie die andern, und legt ihr somit kein großes Ge¬ wicht bei, wir sind aber geneigt, eine Wirkung derselben ganz zu leugnen. Wenn dieselbe am Ende der siebziger Jahre vorhanden gewesen ist und sich vielleicht bis in den Anfang dieses Jahrzehnts hinein erstreckt hat, seit 1881/82 kann man von ihr nicht mehr reden, gerade die letzten vier bis fünf Semester weisen die kolossale Steigerung in der Zahl der Studenten auf. Sollte nicht aus dieser Zunahme vielmehr gefolgert werden dürfen, daß dem größern Teile der Be¬ völkerung die Mittel zum Unterhalt der Söhne auf den Universitäten in reich¬ lichem Maße zur Verfügung stehen, von einer Notlage der Eltern also kaum gesprochen werden kann? Die auf den Universitäten vorhandenen Stipendien sind ja nicht so zahlreich, daß sie die jungen Leute geradezu anlocken. Es ist sehr zu bedauern, daß nicht auch der Beruf der Väter unsrer studirenden Jugend hat ermittelt werden können. Sollten die Hallischen Erfahrungen, daß in neuerer Zeit der Zuzug aus den untern Klassen gestiegen sei, für die andern Universi¬ täten gleichfalls zutreffen, so spräche das mehr für unsre Auffassung als gegen dieselbe. Die untern Älassen beginnen ein Interesse für höhere Bildung erst dann zu bekunden, wenn sie ein gewisses wirtschaftliches Niveau erreicht haben und nicht mehr in hartem Kampfe die Mittel für das Alltäglichste erwerben müssen. Sind sie in der Lage, bei leidlichem Auskommen die Unterhaltungs¬ kosten für die Söhne auf den Universitäten mit bestreikn zu können, und unter¬ ziehen sie sich dem gern, so ist das gewiß ein Symptom idealistischer Gesinnung, das man nicht geringschätzen darf. Wenn wir so die Idee bekämpfen, als ob ungünstige Aussichten in Bezug auf unsre Wirtschaftsverhältnisse die jungen Männer dem Studium in die Arme trieben, so erscheint es uns auch fraglich, ob mit aller Macht auf eine Ver¬ minderung des Zudranges zu den Universitäten hingearbeitet werden müsse. Deutschlands Export von Gelehrten ist seit Jahrzehnten vorhanden — sollte es nicht möglich sein, denselben noch mehr zu steigern? Wir erleben es täglich, daß überseeische Länder sich Professoren, Beamte und Lehrer aus dem deutschen Reiche holen, weil unser Sprachen- und Lehrtalent ein größeres zu sein scheint als das andrer Nationen. Und wenn nun der Deutsche an dem zwar nicht gewinnreichen, aber immerhin sein Auskommen und seine Lvrberen bietenden Berufe, der Schulmeister für jedermann zu sein, Genüge findet, warum ihn daran hindern? Auch nationalökonomisch wirkt ein Absatz von Lehrkräften an das Ausland vorteilhaft. Fremde werden infolge dessen stets zahlreicher zu längerm oder kürzeren Besuche ins deutsche Reiche strömen, der Export von Lehr-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/465
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/465>, abgerufen am 25.07.2024.