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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Von ihren zu Reichtum und Ansehen gelangten Mitgliedern haben daher
die bedrückten Gemeinden des armenischen Hochlandes wenig oder nichts zu hoffen,
Auch der berufene Vertreter ihrer Wünsche, der in Stambul refidirende Patriarch,
ist nicht in der Lage, durch seiue Stellung allein und ohne fremde Mitwirkung
Reformen anzuregen. Bekanntlich fällt in der Türkei der Begriff der Natio¬
nalität mit dem der Religionsgenossenschaft zusammen. ES haben daher seit
der türkischen Eroberung die kirchlichen Oberhäupter eine weit über die Grenzen
der nach abendländischen Begriffen mit dem geistlichen Amte verbundenen Funk¬
tionen hinausgehende Befugnis erhalten. Die christlichen Patriarchen und der
jüdische Großrabbiner sind die offiziellen Organe, durch welche Petitionen der
Rajahs an die Pforte gelangen. Ebenso werden Verfügungen der letzter", welche
die eine oder die andre Religionsgenvsseuschaft betreffen, durch das Kirchenober¬
haupt publizirt, welches seinerseits in der Ausübung seiner auf das privatrecht¬
liche Gebiet übergreifenden Gewalten durch eine Notabelnversnmmlung unterstützt,
bez. überwacht wird. Da wir in dieser letzter" diejenigen Elemente der arme¬
nischen Bevölkerung wiederfinden, deren Lauheit in nationalen Angelegenheiten
wir soeben beleuchteten, so ist es verständlich, wenn der armenische Patriarch-in
Konstantinopel, unter dem Druck dieser Einwirkungen stehend, nicht bloß die
Sache der fernen Neligionsgenossen, sondern auch die Interessen der in seiner
nächsten Umgebung weilenden wohlhabenden und einflußreichen Clique zu ver¬
treten genötigt ist. Andre Rücksichten erheischt sein Verhältnis zur Pforte, welche
täglich Gelegenheit hat, ihm in der Erledigung laufender Geschäftsfmgcn das
Leben sauer zu machen. Die Notwendigkeit, sich mit den Staatsleitern ans
guten Fuß zu setzen, zwingt thu, Konflikte zu vermeiden, bei denen der ganze
Nachteil auf feiten seiner Gemeinde sein würde. Es bedarf großer Vorsicht
und diplomatischer Geschicklichkeit, um sich auf diesem schwierigen Posten zu er¬
halten, und die orientalischen Kirchenfürsten geben in dieser Hinsicht den ge¬
wandten Prälaten des römischen Stuhls nichts nach. Ihre Lage ist umso
schwieriger, als sie von einem ehrgeizigen und stelleusüchtigeu Klerus umgeben
sind, dessen Ziele ebenfalls weitab von denen der Nationalpartei liegen, ja
deren Bestrebungen sogar dem Ringen nach politischer Selbständigkeit geradezu
entgegenstehen. Im ganzen Orient ist der niedere Klerus, der orthodoxen wie
der armenischen Kirche, arm und unwissend. Was ihm in den Augen der Ge¬
meindemitglieder noch einiges Ansehen verleiht, ist eben der Umstand, daß die
politische und nationale Vertretung der Stammesgenossen im kirchlichen Ober¬
haupte liegt. Er würde diesen Einfluß notwendigerweise verlieren, wenn den
armenischen Gemeindevorständen größere Rechte in der Administration eingeräumt
würden. In einem autonomen Staate müßte daher sein Ansehen bald dem der
Behörden weichen; aber auch schon die durch den Berliner Frieden angeregten
Reformen würden der armenischen Laienwelt mit der Zeit ein naturgemäßes
Übergewicht über den ungebildeten niedern Klerus geben. Bei der höhern Geist-


Von ihren zu Reichtum und Ansehen gelangten Mitgliedern haben daher
die bedrückten Gemeinden des armenischen Hochlandes wenig oder nichts zu hoffen,
Auch der berufene Vertreter ihrer Wünsche, der in Stambul refidirende Patriarch,
ist nicht in der Lage, durch seiue Stellung allein und ohne fremde Mitwirkung
Reformen anzuregen. Bekanntlich fällt in der Türkei der Begriff der Natio¬
nalität mit dem der Religionsgenossenschaft zusammen. ES haben daher seit
der türkischen Eroberung die kirchlichen Oberhäupter eine weit über die Grenzen
der nach abendländischen Begriffen mit dem geistlichen Amte verbundenen Funk¬
tionen hinausgehende Befugnis erhalten. Die christlichen Patriarchen und der
jüdische Großrabbiner sind die offiziellen Organe, durch welche Petitionen der
Rajahs an die Pforte gelangen. Ebenso werden Verfügungen der letzter», welche
die eine oder die andre Religionsgenvsseuschaft betreffen, durch das Kirchenober¬
haupt publizirt, welches seinerseits in der Ausübung seiner auf das privatrecht¬
liche Gebiet übergreifenden Gewalten durch eine Notabelnversnmmlung unterstützt,
bez. überwacht wird. Da wir in dieser letzter» diejenigen Elemente der arme¬
nischen Bevölkerung wiederfinden, deren Lauheit in nationalen Angelegenheiten
wir soeben beleuchteten, so ist es verständlich, wenn der armenische Patriarch-in
Konstantinopel, unter dem Druck dieser Einwirkungen stehend, nicht bloß die
Sache der fernen Neligionsgenossen, sondern auch die Interessen der in seiner
nächsten Umgebung weilenden wohlhabenden und einflußreichen Clique zu ver¬
treten genötigt ist. Andre Rücksichten erheischt sein Verhältnis zur Pforte, welche
täglich Gelegenheit hat, ihm in der Erledigung laufender Geschäftsfmgcn das
Leben sauer zu machen. Die Notwendigkeit, sich mit den Staatsleitern ans
guten Fuß zu setzen, zwingt thu, Konflikte zu vermeiden, bei denen der ganze
Nachteil auf feiten seiner Gemeinde sein würde. Es bedarf großer Vorsicht
und diplomatischer Geschicklichkeit, um sich auf diesem schwierigen Posten zu er¬
halten, und die orientalischen Kirchenfürsten geben in dieser Hinsicht den ge¬
wandten Prälaten des römischen Stuhls nichts nach. Ihre Lage ist umso
schwieriger, als sie von einem ehrgeizigen und stelleusüchtigeu Klerus umgeben
sind, dessen Ziele ebenfalls weitab von denen der Nationalpartei liegen, ja
deren Bestrebungen sogar dem Ringen nach politischer Selbständigkeit geradezu
entgegenstehen. Im ganzen Orient ist der niedere Klerus, der orthodoxen wie
der armenischen Kirche, arm und unwissend. Was ihm in den Augen der Ge¬
meindemitglieder noch einiges Ansehen verleiht, ist eben der Umstand, daß die
politische und nationale Vertretung der Stammesgenossen im kirchlichen Ober¬
haupte liegt. Er würde diesen Einfluß notwendigerweise verlieren, wenn den
armenischen Gemeindevorständen größere Rechte in der Administration eingeräumt
würden. In einem autonomen Staate müßte daher sein Ansehen bald dem der
Behörden weichen; aber auch schon die durch den Berliner Frieden angeregten
Reformen würden der armenischen Laienwelt mit der Zeit ein naturgemäßes
Übergewicht über den ungebildeten niedern Klerus geben. Bei der höhern Geist-


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[0446] Von ihren zu Reichtum und Ansehen gelangten Mitgliedern haben daher die bedrückten Gemeinden des armenischen Hochlandes wenig oder nichts zu hoffen, Auch der berufene Vertreter ihrer Wünsche, der in Stambul refidirende Patriarch, ist nicht in der Lage, durch seiue Stellung allein und ohne fremde Mitwirkung Reformen anzuregen. Bekanntlich fällt in der Türkei der Begriff der Natio¬ nalität mit dem der Religionsgenossenschaft zusammen. ES haben daher seit der türkischen Eroberung die kirchlichen Oberhäupter eine weit über die Grenzen der nach abendländischen Begriffen mit dem geistlichen Amte verbundenen Funk¬ tionen hinausgehende Befugnis erhalten. Die christlichen Patriarchen und der jüdische Großrabbiner sind die offiziellen Organe, durch welche Petitionen der Rajahs an die Pforte gelangen. Ebenso werden Verfügungen der letzter», welche die eine oder die andre Religionsgenvsseuschaft betreffen, durch das Kirchenober¬ haupt publizirt, welches seinerseits in der Ausübung seiner auf das privatrecht¬ liche Gebiet übergreifenden Gewalten durch eine Notabelnversnmmlung unterstützt, bez. überwacht wird. Da wir in dieser letzter» diejenigen Elemente der arme¬ nischen Bevölkerung wiederfinden, deren Lauheit in nationalen Angelegenheiten wir soeben beleuchteten, so ist es verständlich, wenn der armenische Patriarch-in Konstantinopel, unter dem Druck dieser Einwirkungen stehend, nicht bloß die Sache der fernen Neligionsgenossen, sondern auch die Interessen der in seiner nächsten Umgebung weilenden wohlhabenden und einflußreichen Clique zu ver¬ treten genötigt ist. Andre Rücksichten erheischt sein Verhältnis zur Pforte, welche täglich Gelegenheit hat, ihm in der Erledigung laufender Geschäftsfmgcn das Leben sauer zu machen. Die Notwendigkeit, sich mit den Staatsleitern ans guten Fuß zu setzen, zwingt thu, Konflikte zu vermeiden, bei denen der ganze Nachteil auf feiten seiner Gemeinde sein würde. Es bedarf großer Vorsicht und diplomatischer Geschicklichkeit, um sich auf diesem schwierigen Posten zu er¬ halten, und die orientalischen Kirchenfürsten geben in dieser Hinsicht den ge¬ wandten Prälaten des römischen Stuhls nichts nach. Ihre Lage ist umso schwieriger, als sie von einem ehrgeizigen und stelleusüchtigeu Klerus umgeben sind, dessen Ziele ebenfalls weitab von denen der Nationalpartei liegen, ja deren Bestrebungen sogar dem Ringen nach politischer Selbständigkeit geradezu entgegenstehen. Im ganzen Orient ist der niedere Klerus, der orthodoxen wie der armenischen Kirche, arm und unwissend. Was ihm in den Augen der Ge¬ meindemitglieder noch einiges Ansehen verleiht, ist eben der Umstand, daß die politische und nationale Vertretung der Stammesgenossen im kirchlichen Ober¬ haupte liegt. Er würde diesen Einfluß notwendigerweise verlieren, wenn den armenischen Gemeindevorständen größere Rechte in der Administration eingeräumt würden. In einem autonomen Staate müßte daher sein Ansehen bald dem der Behörden weichen; aber auch schon die durch den Berliner Frieden angeregten Reformen würden der armenischen Laienwelt mit der Zeit ein naturgemäßes Übergewicht über den ungebildeten niedern Klerus geben. Bei der höhern Geist-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/446>, abgerufen am 25.07.2024.