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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Rußland und die armenische Frage.

diese zerstreuten Glieder eines Stammes giebt es keinen nationalen Mittelpunkt.
Denn das Mutterland ist unter drei fremde Herrscher verteilt. Rußland,
Persien und die Türkei haben in unaufhörlichen Kämpfen wechselweise um den
partiellen und vollständigen Besitz des armenischen Hochlandes gerungen, ein
Streit, der auch heute uoch nicht endgiltig ausgesuchten ist. Würde man die
Stimmen aller türkischen Armenier hören, so würden sie mit einer fast ver¬
schwindenden Minorität in ihrem gegenwärtigen Zustande als Unterthanen der
Pforte zu verbleiben wünschen. Nicht nur die Macht der Gewohnheit, einge¬
wurzelter Knechtssinn und politische Unselbständigkeit veranlassen sie zu einem
solchen Wunsch, sondern weit mehr das materielle Interesse. Denn wenn einer¬
seits die türkischen Malis und Kaimnkams das Land aussaugen, so werden doch
wiederum die trägen und unwissende" Türken von den betriebsamen, gewandten
Armeniern in allen den Handelsverkehr betreffenden Fragen überlistet und aus¬
genutzt. Unter Russen und Persern würde ihnen dies nicht so gut gelingen.

Wer in Konstantinopel, Smhrna, Alexandrien und andern levantinischen
Handelsemporien die glänzenden Paläste der reichen Armenier, ihre ausgedehnten
Gärten, zahlreichen Landgüter, ihre reich dotirter Kirchen und Klöster gesehen
hat, wer die Mittel und Wege kennt, durch welche solche Reichtümer in einem
von endlosen Finanzkrisen heimgesuchten Staate leicht und schnell erworben
werden, der wird begreifen, daß ihre Besitzer ein für jede Art von Ausbeutung
zugängliches Terrain ungern verlassen und in einer immerhin doch beschränkten,
nur durch lange, mühevolle Arbeit zu verwertenden politischen Selbständigkeit
vorläufig keinen genügenden Ersatz erblicken würden. Es fehlt den Armeniern
der patriotische Gemeinsinn, jene Opferfreudigkeit und begeisterte Hingebung für
nationale Güter, welche die Griechen in so hohem Grade auszeichnet, und welche
allein es möglich machte, daß das kleine Königreich in dem kurzen Zeitraume
von fünfzig Jahren sich zu einem lebensfähigen, zukunftsvollen Staatsorganismus
zu gestalten vermochte. Die griechischen Kolonisten, die, gleich den armenischen,
über alle bedeutenden Handelsplätze des Orients zerstreut sind und sogar an
den abendländischen Börsen mit den großen dort einheimischen Handelshäuser"
erfolgreich konkurriren, streben immer wieder der Heimat zu, sie vergessen in
der Fremde niemals der Bedürfnisse und politischen Ziele des Mutterlandes.
Sie sammeln Schätze im Auslande, um ihre Hauptstadt mit Prachtbauten zu
schmücken, und die freiwilligen Beiträge der griechischen xrinoss marelmnäs in
Genua, Trieft, Wien und Odessa sind so bedeutend, daß der Staat seit langer
Zeit der Sorge für öffentliche Institute und Verschönerungen in Athen über¬
hoben ist. Die Universität, die Akademie, die Sternwarte, zwei große Schulen:
das Barbakion und Arsakion, sind so entstanden und nicht nur gebaut, sondern
mit reichen Fonds dotirt worden. Wenn in Athen ein Bürger stirbt, so ist
gewöhnlich die erste Frage: xo-r^t/rx, was hat er (dem Staate nämlich)
hinterlassen?


Rußland und die armenische Frage.

diese zerstreuten Glieder eines Stammes giebt es keinen nationalen Mittelpunkt.
Denn das Mutterland ist unter drei fremde Herrscher verteilt. Rußland,
Persien und die Türkei haben in unaufhörlichen Kämpfen wechselweise um den
partiellen und vollständigen Besitz des armenischen Hochlandes gerungen, ein
Streit, der auch heute uoch nicht endgiltig ausgesuchten ist. Würde man die
Stimmen aller türkischen Armenier hören, so würden sie mit einer fast ver¬
schwindenden Minorität in ihrem gegenwärtigen Zustande als Unterthanen der
Pforte zu verbleiben wünschen. Nicht nur die Macht der Gewohnheit, einge¬
wurzelter Knechtssinn und politische Unselbständigkeit veranlassen sie zu einem
solchen Wunsch, sondern weit mehr das materielle Interesse. Denn wenn einer¬
seits die türkischen Malis und Kaimnkams das Land aussaugen, so werden doch
wiederum die trägen und unwissende» Türken von den betriebsamen, gewandten
Armeniern in allen den Handelsverkehr betreffenden Fragen überlistet und aus¬
genutzt. Unter Russen und Persern würde ihnen dies nicht so gut gelingen.

Wer in Konstantinopel, Smhrna, Alexandrien und andern levantinischen
Handelsemporien die glänzenden Paläste der reichen Armenier, ihre ausgedehnten
Gärten, zahlreichen Landgüter, ihre reich dotirter Kirchen und Klöster gesehen
hat, wer die Mittel und Wege kennt, durch welche solche Reichtümer in einem
von endlosen Finanzkrisen heimgesuchten Staate leicht und schnell erworben
werden, der wird begreifen, daß ihre Besitzer ein für jede Art von Ausbeutung
zugängliches Terrain ungern verlassen und in einer immerhin doch beschränkten,
nur durch lange, mühevolle Arbeit zu verwertenden politischen Selbständigkeit
vorläufig keinen genügenden Ersatz erblicken würden. Es fehlt den Armeniern
der patriotische Gemeinsinn, jene Opferfreudigkeit und begeisterte Hingebung für
nationale Güter, welche die Griechen in so hohem Grade auszeichnet, und welche
allein es möglich machte, daß das kleine Königreich in dem kurzen Zeitraume
von fünfzig Jahren sich zu einem lebensfähigen, zukunftsvollen Staatsorganismus
zu gestalten vermochte. Die griechischen Kolonisten, die, gleich den armenischen,
über alle bedeutenden Handelsplätze des Orients zerstreut sind und sogar an
den abendländischen Börsen mit den großen dort einheimischen Handelshäuser»
erfolgreich konkurriren, streben immer wieder der Heimat zu, sie vergessen in
der Fremde niemals der Bedürfnisse und politischen Ziele des Mutterlandes.
Sie sammeln Schätze im Auslande, um ihre Hauptstadt mit Prachtbauten zu
schmücken, und die freiwilligen Beiträge der griechischen xrinoss marelmnäs in
Genua, Trieft, Wien und Odessa sind so bedeutend, daß der Staat seit langer
Zeit der Sorge für öffentliche Institute und Verschönerungen in Athen über¬
hoben ist. Die Universität, die Akademie, die Sternwarte, zwei große Schulen:
das Barbakion und Arsakion, sind so entstanden und nicht nur gebaut, sondern
mit reichen Fonds dotirt worden. Wenn in Athen ein Bürger stirbt, so ist
gewöhnlich die erste Frage: xo-r^t/rx, was hat er (dem Staate nämlich)
hinterlassen?


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[0444] Rußland und die armenische Frage. diese zerstreuten Glieder eines Stammes giebt es keinen nationalen Mittelpunkt. Denn das Mutterland ist unter drei fremde Herrscher verteilt. Rußland, Persien und die Türkei haben in unaufhörlichen Kämpfen wechselweise um den partiellen und vollständigen Besitz des armenischen Hochlandes gerungen, ein Streit, der auch heute uoch nicht endgiltig ausgesuchten ist. Würde man die Stimmen aller türkischen Armenier hören, so würden sie mit einer fast ver¬ schwindenden Minorität in ihrem gegenwärtigen Zustande als Unterthanen der Pforte zu verbleiben wünschen. Nicht nur die Macht der Gewohnheit, einge¬ wurzelter Knechtssinn und politische Unselbständigkeit veranlassen sie zu einem solchen Wunsch, sondern weit mehr das materielle Interesse. Denn wenn einer¬ seits die türkischen Malis und Kaimnkams das Land aussaugen, so werden doch wiederum die trägen und unwissende» Türken von den betriebsamen, gewandten Armeniern in allen den Handelsverkehr betreffenden Fragen überlistet und aus¬ genutzt. Unter Russen und Persern würde ihnen dies nicht so gut gelingen. Wer in Konstantinopel, Smhrna, Alexandrien und andern levantinischen Handelsemporien die glänzenden Paläste der reichen Armenier, ihre ausgedehnten Gärten, zahlreichen Landgüter, ihre reich dotirter Kirchen und Klöster gesehen hat, wer die Mittel und Wege kennt, durch welche solche Reichtümer in einem von endlosen Finanzkrisen heimgesuchten Staate leicht und schnell erworben werden, der wird begreifen, daß ihre Besitzer ein für jede Art von Ausbeutung zugängliches Terrain ungern verlassen und in einer immerhin doch beschränkten, nur durch lange, mühevolle Arbeit zu verwertenden politischen Selbständigkeit vorläufig keinen genügenden Ersatz erblicken würden. Es fehlt den Armeniern der patriotische Gemeinsinn, jene Opferfreudigkeit und begeisterte Hingebung für nationale Güter, welche die Griechen in so hohem Grade auszeichnet, und welche allein es möglich machte, daß das kleine Königreich in dem kurzen Zeitraume von fünfzig Jahren sich zu einem lebensfähigen, zukunftsvollen Staatsorganismus zu gestalten vermochte. Die griechischen Kolonisten, die, gleich den armenischen, über alle bedeutenden Handelsplätze des Orients zerstreut sind und sogar an den abendländischen Börsen mit den großen dort einheimischen Handelshäuser» erfolgreich konkurriren, streben immer wieder der Heimat zu, sie vergessen in der Fremde niemals der Bedürfnisse und politischen Ziele des Mutterlandes. Sie sammeln Schätze im Auslande, um ihre Hauptstadt mit Prachtbauten zu schmücken, und die freiwilligen Beiträge der griechischen xrinoss marelmnäs in Genua, Trieft, Wien und Odessa sind so bedeutend, daß der Staat seit langer Zeit der Sorge für öffentliche Institute und Verschönerungen in Athen über¬ hoben ist. Die Universität, die Akademie, die Sternwarte, zwei große Schulen: das Barbakion und Arsakion, sind so entstanden und nicht nur gebaut, sondern mit reichen Fonds dotirt worden. Wenn in Athen ein Bürger stirbt, so ist gewöhnlich die erste Frage: xo-r^t/rx, was hat er (dem Staate nämlich) hinterlassen?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/444>, abgerufen am 25.07.2024.