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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Künstler und Kritiker.

gefühl Schonung übt, kann morgen ebensogut das hohle Treiben literarischer
Spekulanten an den Pranger stellen.

Willkürlich hat der Herausgeber die einzelnen Stellen aus zusammen¬
hängenden Kritiken, die als etwas Ganzes geschrieben worden sind und daher
auch als etwas Ganzes gelesen werden sollen, herausgerissen, ohne dabei den
Standpunkt zu berücksichtigen, welchen ein jeder Kritiker einnimmt. Der eine
ist seinem innern Wesen nach mehr Idealist und wird ein Kunstwerk daher
mehr auf seinen Gedankengehalt als auf die Ausdrucksweise seines Urhebers
prüfen. Ein andrer sieht in der realistischen Richtung das Heil der Kunst
und wird daher mehr auf die zeichnerischen und koloristischen Vorzüge eines
Kunstwerkes scheu. Ein dritter glaubt, daß beide Richtungen mit einander
vereinigt werden müssen, wenn die Kunst wirklich vorwärts kommen soll, und
er wird darnach seine Beurteilung einrichten. Ein vierter endlich berücksichtigt,
ohne eine vorgefaßte Meinung oder ein Shstem zu haben, jedes Kunstwerk
nach der Individualität seines Schöpfers und spricht seine Anerkennung schon
da aus, wo er ein ernstes Streben zu erkennen glaubt, sodaß seiue Kritik
durchweg eine wohlwollende Färbung annimmt. Ist einer dieser kritischen
Standpunkte ein unberechtigter oder gar verwerflicher? Nein! Aber aus ihnen
erklärt es sich für jeden Einsichtigen zur Genüge, weshalb über ein und das¬
selbe Kunstwerk die verschiedenartigsten Urteile abgegeben werden. Das ist
immer so gewesen und wird so bleiben, solange Menschen Bilder malen und
Bilder beurteilen. Und der Kritiker ist doch kein Halbgott, sondern auch nur
ein Mensch, der ebenso gut unter dem Eindruck subjektiver Empfindungen steht
wie jeder Laie, der sein Urteil privatim zum besten giebt. Man denke nur,
wie schroff sich die Urteile über Nasfael und Michelangelo zu Lebzeiten beider
Männer gegenüberstanden, wie man sich in Rom nicht scheute, Arbeiten eines
Sebastiano del Piombo hoch über Gemälde Raffaels zu stellen, wie man in
Amsterdam die prosaischen Schützenbilder eines van der Helft den poesieerfüllten
Schöpfungen eines Rembrandt vorzog. Noch heute giebt es Leute, welche
diesen Standpunkt teilen, welche für Rembrandt nicht das mindeste Verständ¬
nis besitzen und Rubens sogar abscheulich finden. Mit den Urteilen über
moderne Kunst verhält es sich genau ebenso. Dieselben Leute, welche sich von den
Zeichnungen eines Ludwig Richter kühl und teilnahmlos abwenden, geraten
vor Entzücken außer sich, wenn sie vor einer der protzigen Leinwandflächen
stehen, welche Hans Makart bemalt hat. In gewissen Gesellschaftskreisen hat
sich ein förmlicher Thumannkultus gebildet, und wer sich in einer solchen Ge¬
sellschaft erdreistet, Thumannsche Illustrationen fade und abgeschmackt zu nennen,
läuft Gefahr, hinausgeworfen zu werden.

Das Verhältnis des Beschauers zu einem Kunstwerke entspricht ungefähr
der Stellung des Künstlers zu einem Stoffe, den er behandeln soll. Wie man
von zwölf Personen über dasselbe Bild zwölf verschiedne Urteile hören kann,


Grenzboten I. 1834. ü
Künstler und Kritiker.

gefühl Schonung übt, kann morgen ebensogut das hohle Treiben literarischer
Spekulanten an den Pranger stellen.

Willkürlich hat der Herausgeber die einzelnen Stellen aus zusammen¬
hängenden Kritiken, die als etwas Ganzes geschrieben worden sind und daher
auch als etwas Ganzes gelesen werden sollen, herausgerissen, ohne dabei den
Standpunkt zu berücksichtigen, welchen ein jeder Kritiker einnimmt. Der eine
ist seinem innern Wesen nach mehr Idealist und wird ein Kunstwerk daher
mehr auf seinen Gedankengehalt als auf die Ausdrucksweise seines Urhebers
prüfen. Ein andrer sieht in der realistischen Richtung das Heil der Kunst
und wird daher mehr auf die zeichnerischen und koloristischen Vorzüge eines
Kunstwerkes scheu. Ein dritter glaubt, daß beide Richtungen mit einander
vereinigt werden müssen, wenn die Kunst wirklich vorwärts kommen soll, und
er wird darnach seine Beurteilung einrichten. Ein vierter endlich berücksichtigt,
ohne eine vorgefaßte Meinung oder ein Shstem zu haben, jedes Kunstwerk
nach der Individualität seines Schöpfers und spricht seine Anerkennung schon
da aus, wo er ein ernstes Streben zu erkennen glaubt, sodaß seiue Kritik
durchweg eine wohlwollende Färbung annimmt. Ist einer dieser kritischen
Standpunkte ein unberechtigter oder gar verwerflicher? Nein! Aber aus ihnen
erklärt es sich für jeden Einsichtigen zur Genüge, weshalb über ein und das¬
selbe Kunstwerk die verschiedenartigsten Urteile abgegeben werden. Das ist
immer so gewesen und wird so bleiben, solange Menschen Bilder malen und
Bilder beurteilen. Und der Kritiker ist doch kein Halbgott, sondern auch nur
ein Mensch, der ebenso gut unter dem Eindruck subjektiver Empfindungen steht
wie jeder Laie, der sein Urteil privatim zum besten giebt. Man denke nur,
wie schroff sich die Urteile über Nasfael und Michelangelo zu Lebzeiten beider
Männer gegenüberstanden, wie man sich in Rom nicht scheute, Arbeiten eines
Sebastiano del Piombo hoch über Gemälde Raffaels zu stellen, wie man in
Amsterdam die prosaischen Schützenbilder eines van der Helft den poesieerfüllten
Schöpfungen eines Rembrandt vorzog. Noch heute giebt es Leute, welche
diesen Standpunkt teilen, welche für Rembrandt nicht das mindeste Verständ¬
nis besitzen und Rubens sogar abscheulich finden. Mit den Urteilen über
moderne Kunst verhält es sich genau ebenso. Dieselben Leute, welche sich von den
Zeichnungen eines Ludwig Richter kühl und teilnahmlos abwenden, geraten
vor Entzücken außer sich, wenn sie vor einer der protzigen Leinwandflächen
stehen, welche Hans Makart bemalt hat. In gewissen Gesellschaftskreisen hat
sich ein förmlicher Thumannkultus gebildet, und wer sich in einer solchen Ge¬
sellschaft erdreistet, Thumannsche Illustrationen fade und abgeschmackt zu nennen,
läuft Gefahr, hinausgeworfen zu werden.

Das Verhältnis des Beschauers zu einem Kunstwerke entspricht ungefähr
der Stellung des Künstlers zu einem Stoffe, den er behandeln soll. Wie man
von zwölf Personen über dasselbe Bild zwölf verschiedne Urteile hören kann,


Grenzboten I. 1834. ü
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[0043] Künstler und Kritiker. gefühl Schonung übt, kann morgen ebensogut das hohle Treiben literarischer Spekulanten an den Pranger stellen. Willkürlich hat der Herausgeber die einzelnen Stellen aus zusammen¬ hängenden Kritiken, die als etwas Ganzes geschrieben worden sind und daher auch als etwas Ganzes gelesen werden sollen, herausgerissen, ohne dabei den Standpunkt zu berücksichtigen, welchen ein jeder Kritiker einnimmt. Der eine ist seinem innern Wesen nach mehr Idealist und wird ein Kunstwerk daher mehr auf seinen Gedankengehalt als auf die Ausdrucksweise seines Urhebers prüfen. Ein andrer sieht in der realistischen Richtung das Heil der Kunst und wird daher mehr auf die zeichnerischen und koloristischen Vorzüge eines Kunstwerkes scheu. Ein dritter glaubt, daß beide Richtungen mit einander vereinigt werden müssen, wenn die Kunst wirklich vorwärts kommen soll, und er wird darnach seine Beurteilung einrichten. Ein vierter endlich berücksichtigt, ohne eine vorgefaßte Meinung oder ein Shstem zu haben, jedes Kunstwerk nach der Individualität seines Schöpfers und spricht seine Anerkennung schon da aus, wo er ein ernstes Streben zu erkennen glaubt, sodaß seiue Kritik durchweg eine wohlwollende Färbung annimmt. Ist einer dieser kritischen Standpunkte ein unberechtigter oder gar verwerflicher? Nein! Aber aus ihnen erklärt es sich für jeden Einsichtigen zur Genüge, weshalb über ein und das¬ selbe Kunstwerk die verschiedenartigsten Urteile abgegeben werden. Das ist immer so gewesen und wird so bleiben, solange Menschen Bilder malen und Bilder beurteilen. Und der Kritiker ist doch kein Halbgott, sondern auch nur ein Mensch, der ebenso gut unter dem Eindruck subjektiver Empfindungen steht wie jeder Laie, der sein Urteil privatim zum besten giebt. Man denke nur, wie schroff sich die Urteile über Nasfael und Michelangelo zu Lebzeiten beider Männer gegenüberstanden, wie man sich in Rom nicht scheute, Arbeiten eines Sebastiano del Piombo hoch über Gemälde Raffaels zu stellen, wie man in Amsterdam die prosaischen Schützenbilder eines van der Helft den poesieerfüllten Schöpfungen eines Rembrandt vorzog. Noch heute giebt es Leute, welche diesen Standpunkt teilen, welche für Rembrandt nicht das mindeste Verständ¬ nis besitzen und Rubens sogar abscheulich finden. Mit den Urteilen über moderne Kunst verhält es sich genau ebenso. Dieselben Leute, welche sich von den Zeichnungen eines Ludwig Richter kühl und teilnahmlos abwenden, geraten vor Entzücken außer sich, wenn sie vor einer der protzigen Leinwandflächen stehen, welche Hans Makart bemalt hat. In gewissen Gesellschaftskreisen hat sich ein förmlicher Thumannkultus gebildet, und wer sich in einer solchen Ge¬ sellschaft erdreistet, Thumannsche Illustrationen fade und abgeschmackt zu nennen, läuft Gefahr, hinausgeworfen zu werden. Das Verhältnis des Beschauers zu einem Kunstwerke entspricht ungefähr der Stellung des Künstlers zu einem Stoffe, den er behandeln soll. Wie man von zwölf Personen über dasselbe Bild zwölf verschiedne Urteile hören kann, Grenzboten I. 1834. ü

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/43>, abgerufen am 28.09.2024.