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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

meinten, nach und nach zum See sich ausbreitenden Gewässers war der Ver¬
suchung (des Badens) nicht zu widerstehen."

Wie die Achsendrehung der Erde in den Werken des Dichters als Morgen
und Abend, als Tag und Nacht erscheint, so konnte anch ihr jährlicher Umlauf
um die Sonne oder der Wechsel der Jahreszeiten in den Schöpfungen seiner
Phantasie nicht fehlen. Er war ja mit seinem ganzen Dasein an das Schicksal
des Planeten gebunden und gehörte ihm so innig an wie alle übrigen Orga¬
nismen, z. B. die Zugvögel, die im Frühling kommen und im Herbste fort¬
ziehen, oder die Bäume, die ihr Laub jetzt hervortreiben, jetzt abwerfen. Zu¬
nächst der Frühling -- er ist ja die Jahreszeit der Dichter und lebt, wie
die Liebe, in der Poesie aller Völker, besonders der nordischen. Kann die
Wiederkehr der Sonne, das erste Nahen und Erwachen des neuen Lebens, der
Vorfrühling, noch ohne Blumen, noch im Kampfe mit dem Winter, doch schon
mit hoffnungsvollen Grün im Grunde der Thäler, die Zeit um das Osterfest --
kann sie in ergreifenderen Tönen verkündigt werden als am Anfang der
Spaziergängerszene im Faust:


Vom Eise befreit sind Strom und Bäche -- ?

Vergleicht man mit dieser Frühlingsszene Schillers Klage der Ceres:


Ist der holde Lenz erschienen?
Hat die Erde sich verjüngt --

so wird man recht inne, wie sehr sich eine ans allgemeinen, hergebrachten
Zügen zusammengesetzte Rhetorik von lebensvoller, konkreter Wirklichkeit unter¬
scheidet.*) In voller Pracht aber umgiebt uns der Frühling in der Ode "Ganymed,"
auf die wir uns schon im obigen bezogen haben: er wird als der "Geliebte"
angerufen und lacht und klingt in dem Gedicht mit all seiner Sehnsuchtswonne,
seinem unergründlichen Himmelsblau, dem allseitigen Glanz seiner Blumen,
Gräser und Lichter (vor rubsus, oavMuw vor, ^evxöi' b'a?, ?co^too ö'a^ bei
den antiken Dichtern). Ach aber, er vergeht so bald, er ist so flüchtig (19. April
1779):


Bleib, ruf ich oft, Frühling, man küsset dich kaum,
Engel, so fliehst dn, wie ein schwankender Traum!

Er neigt sich dem Sommer zu, das erste Gewitter zieht auf (Wilhelm Meister, An¬
fang des 7. Buches): "Der Frühling war in seiner völligen Herrlichkeit erschienen;
ein frühzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedroht hatte, ging stürmisch
an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder
in ihreni Glänze hervor und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche



5) Eine wahrere Schilderung des ersten Frühlings im hohen Norden euihtilt das Frag¬
ment "Demetrius" zu Anfang des zweiten Aktes.
Gedanken über Goethe.

meinten, nach und nach zum See sich ausbreitenden Gewässers war der Ver¬
suchung (des Badens) nicht zu widerstehen."

Wie die Achsendrehung der Erde in den Werken des Dichters als Morgen
und Abend, als Tag und Nacht erscheint, so konnte anch ihr jährlicher Umlauf
um die Sonne oder der Wechsel der Jahreszeiten in den Schöpfungen seiner
Phantasie nicht fehlen. Er war ja mit seinem ganzen Dasein an das Schicksal
des Planeten gebunden und gehörte ihm so innig an wie alle übrigen Orga¬
nismen, z. B. die Zugvögel, die im Frühling kommen und im Herbste fort¬
ziehen, oder die Bäume, die ihr Laub jetzt hervortreiben, jetzt abwerfen. Zu¬
nächst der Frühling — er ist ja die Jahreszeit der Dichter und lebt, wie
die Liebe, in der Poesie aller Völker, besonders der nordischen. Kann die
Wiederkehr der Sonne, das erste Nahen und Erwachen des neuen Lebens, der
Vorfrühling, noch ohne Blumen, noch im Kampfe mit dem Winter, doch schon
mit hoffnungsvollen Grün im Grunde der Thäler, die Zeit um das Osterfest —
kann sie in ergreifenderen Tönen verkündigt werden als am Anfang der
Spaziergängerszene im Faust:


Vom Eise befreit sind Strom und Bäche — ?

Vergleicht man mit dieser Frühlingsszene Schillers Klage der Ceres:


Ist der holde Lenz erschienen?
Hat die Erde sich verjüngt —

so wird man recht inne, wie sehr sich eine ans allgemeinen, hergebrachten
Zügen zusammengesetzte Rhetorik von lebensvoller, konkreter Wirklichkeit unter¬
scheidet.*) In voller Pracht aber umgiebt uns der Frühling in der Ode „Ganymed,"
auf die wir uns schon im obigen bezogen haben: er wird als der „Geliebte"
angerufen und lacht und klingt in dem Gedicht mit all seiner Sehnsuchtswonne,
seinem unergründlichen Himmelsblau, dem allseitigen Glanz seiner Blumen,
Gräser und Lichter (vor rubsus, oavMuw vor, ^evxöi' b'a?, ?co^too ö'a^ bei
den antiken Dichtern). Ach aber, er vergeht so bald, er ist so flüchtig (19. April
1779):


Bleib, ruf ich oft, Frühling, man küsset dich kaum,
Engel, so fliehst dn, wie ein schwankender Traum!

Er neigt sich dem Sommer zu, das erste Gewitter zieht auf (Wilhelm Meister, An¬
fang des 7. Buches): „Der Frühling war in seiner völligen Herrlichkeit erschienen;
ein frühzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedroht hatte, ging stürmisch
an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder
in ihreni Glänze hervor und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche



5) Eine wahrere Schilderung des ersten Frühlings im hohen Norden euihtilt das Frag¬
ment „Demetrius" zu Anfang des zweiten Aktes.
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[0402] Gedanken über Goethe. meinten, nach und nach zum See sich ausbreitenden Gewässers war der Ver¬ suchung (des Badens) nicht zu widerstehen." Wie die Achsendrehung der Erde in den Werken des Dichters als Morgen und Abend, als Tag und Nacht erscheint, so konnte anch ihr jährlicher Umlauf um die Sonne oder der Wechsel der Jahreszeiten in den Schöpfungen seiner Phantasie nicht fehlen. Er war ja mit seinem ganzen Dasein an das Schicksal des Planeten gebunden und gehörte ihm so innig an wie alle übrigen Orga¬ nismen, z. B. die Zugvögel, die im Frühling kommen und im Herbste fort¬ ziehen, oder die Bäume, die ihr Laub jetzt hervortreiben, jetzt abwerfen. Zu¬ nächst der Frühling — er ist ja die Jahreszeit der Dichter und lebt, wie die Liebe, in der Poesie aller Völker, besonders der nordischen. Kann die Wiederkehr der Sonne, das erste Nahen und Erwachen des neuen Lebens, der Vorfrühling, noch ohne Blumen, noch im Kampfe mit dem Winter, doch schon mit hoffnungsvollen Grün im Grunde der Thäler, die Zeit um das Osterfest — kann sie in ergreifenderen Tönen verkündigt werden als am Anfang der Spaziergängerszene im Faust: Vom Eise befreit sind Strom und Bäche — ? Vergleicht man mit dieser Frühlingsszene Schillers Klage der Ceres: Ist der holde Lenz erschienen? Hat die Erde sich verjüngt — so wird man recht inne, wie sehr sich eine ans allgemeinen, hergebrachten Zügen zusammengesetzte Rhetorik von lebensvoller, konkreter Wirklichkeit unter¬ scheidet.*) In voller Pracht aber umgiebt uns der Frühling in der Ode „Ganymed," auf die wir uns schon im obigen bezogen haben: er wird als der „Geliebte" angerufen und lacht und klingt in dem Gedicht mit all seiner Sehnsuchtswonne, seinem unergründlichen Himmelsblau, dem allseitigen Glanz seiner Blumen, Gräser und Lichter (vor rubsus, oavMuw vor, ^evxöi' b'a?, ?co^too ö'a^ bei den antiken Dichtern). Ach aber, er vergeht so bald, er ist so flüchtig (19. April 1779): Bleib, ruf ich oft, Frühling, man küsset dich kaum, Engel, so fliehst dn, wie ein schwankender Traum! Er neigt sich dem Sommer zu, das erste Gewitter zieht auf (Wilhelm Meister, An¬ fang des 7. Buches): „Der Frühling war in seiner völligen Herrlichkeit erschienen; ein frühzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedroht hatte, ging stürmisch an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder in ihreni Glänze hervor und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche 5) Eine wahrere Schilderung des ersten Frühlings im hohen Norden euihtilt das Frag¬ ment „Demetrius" zu Anfang des zweiten Aktes.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/402>, abgerufen am 22.07.2024.