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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

heit. Wir begnügen uns uns dem Bericht von 27. Oktober zwei die Kette der
Berner Alpen betreffende Stellen wiederzugeben: "Ihre ganze reine Reihe stieg
ostwärts auf, ohne Unterschied der Namen der Völker und Fürsten, die sie zu
besitzen glauben, nur einem großen Herrn und dem Blick der Sonne unter¬
worfen, der sie schön rötete" -- und: "sie sind wie eine heilige Reihe von
Jungfrauen, die der Geist des Himmels in unzugänglichen Gegenden, vor unsern
Augen, für sich allein, in ewiger Reinheit aufbewahrt."

In den Gebirgslandschaften sind die Nebel häufig, sie wallen auf nud
ab, gestaltlos, die Ferne wie die Nähe verhüllend, darum aber der Dichter-
Phantasie nicht unerwünscht: sie erbaut sich hinter diesem Vorhang eine andre
wunderbare Welt. Der Nebel gleicht der "Dumpfheit," d. h. der ahnungsvollen
Dämmerung, in welcher das Gemüt seine tiefsten Eingebungen erfährt; zerreißt
der Nebelschleier, dann werden die realen Dinge sichtbar, deren Bestimmtheit
dem Glücke wie der Angst deS Traumes ein Ende macht. An Frau v. Stein
(3. Mai 1781): "Empfange mich mit deiner Liebe und hilf nur anch über den
dürren Boden der Klarheit, da du mich durch das Laud der Nebel begleitet
hast." In Schaffhausen. in der Nähe des Rheinfalls, dessen Dampf sich mit
dem Nebel vermischte, gedenkt der Dichter Ossians und fügt die bedeutsamen
Worte hinzu: "Liebe zum Nebel bei heftigen innern Empfindungen" -- welche
letzteren dann durch die festgestaltctcu Naturdinge nicht gehindert werden, ihrem
eignen Zuge zu folgen, sich selbst anzugehören. In "Amor als Landschafts¬
maler" sitzt der Dichter auf einer Felsenspitze, und der Nebel ist wie ein grcm-
grundirtes Tuch vor ihm ausgespannt; der schöne Knabe Amor tritt ihm zur
Seite und malt die herrlichste Landschaft und in diese das reizendste Mädchen
hinein, und da der Nebel mit deu Gestatte-,, die er trug, sich ihm wogend cnl-
gegenbewcgte, hätte er wohl auf seinem Felsen steinern sitzen bleiben können? --
eine ähnliche Phantasie, wie in der Zueignung, aber mit den Farben einer ganz
andern Stimmung: das Gedicht entstand in Italien, und es ist, als wäre selbst
der Nebel dort ein andrer als in Thüringen. Als er im September 1777
einsame Tage auf der Wartburg verlebte, kommt unter den warmen Natur-
schilderungen, die er in seinen Briefen niederlegte und die wie eine Erinnerung
an Werther klingen, auch die Stelle vor: "Es lagen unten alle Thaler im
gleichen Nebel, und er war völlig See, wo die vielen Gebirge als Ufer hervor¬
sahen" -- und, um dies Schauspiel zu sehen, hatte ihn seiner Diener Philipp,
der seinen Herrn kannte, frühmorgens aus dem Schlafe geweckt und ans Fenster
geführt! Ans der soeben erwähnten Schweizerreise, die er mit dem Herzog
unternahm, sahen beide von dein höchsten Gipfel des Jura, der Dole, in dem
"ngehenren Umkreise, den der Blick von dorther beherrscht, das Licht mit dem
Nebel kämpfen: die Städte und Berge rundum versanken bald, bald blitzten sie
empor -- es war, wie der Dichter sagt, "eine taumelnde Erkenntnis" -- und
als um die Sonne sich zum Untergang neigte und der Nebel über den Genfersee


Gedanken über Goethe.

heit. Wir begnügen uns uns dem Bericht von 27. Oktober zwei die Kette der
Berner Alpen betreffende Stellen wiederzugeben: „Ihre ganze reine Reihe stieg
ostwärts auf, ohne Unterschied der Namen der Völker und Fürsten, die sie zu
besitzen glauben, nur einem großen Herrn und dem Blick der Sonne unter¬
worfen, der sie schön rötete" — und: „sie sind wie eine heilige Reihe von
Jungfrauen, die der Geist des Himmels in unzugänglichen Gegenden, vor unsern
Augen, für sich allein, in ewiger Reinheit aufbewahrt."

In den Gebirgslandschaften sind die Nebel häufig, sie wallen auf nud
ab, gestaltlos, die Ferne wie die Nähe verhüllend, darum aber der Dichter-
Phantasie nicht unerwünscht: sie erbaut sich hinter diesem Vorhang eine andre
wunderbare Welt. Der Nebel gleicht der „Dumpfheit," d. h. der ahnungsvollen
Dämmerung, in welcher das Gemüt seine tiefsten Eingebungen erfährt; zerreißt
der Nebelschleier, dann werden die realen Dinge sichtbar, deren Bestimmtheit
dem Glücke wie der Angst deS Traumes ein Ende macht. An Frau v. Stein
(3. Mai 1781): „Empfange mich mit deiner Liebe und hilf nur anch über den
dürren Boden der Klarheit, da du mich durch das Laud der Nebel begleitet
hast." In Schaffhausen. in der Nähe des Rheinfalls, dessen Dampf sich mit
dem Nebel vermischte, gedenkt der Dichter Ossians und fügt die bedeutsamen
Worte hinzu: „Liebe zum Nebel bei heftigen innern Empfindungen" — welche
letzteren dann durch die festgestaltctcu Naturdinge nicht gehindert werden, ihrem
eignen Zuge zu folgen, sich selbst anzugehören. In „Amor als Landschafts¬
maler" sitzt der Dichter auf einer Felsenspitze, und der Nebel ist wie ein grcm-
grundirtes Tuch vor ihm ausgespannt; der schöne Knabe Amor tritt ihm zur
Seite und malt die herrlichste Landschaft und in diese das reizendste Mädchen
hinein, und da der Nebel mit deu Gestatte-,, die er trug, sich ihm wogend cnl-
gegenbewcgte, hätte er wohl auf seinem Felsen steinern sitzen bleiben können? —
eine ähnliche Phantasie, wie in der Zueignung, aber mit den Farben einer ganz
andern Stimmung: das Gedicht entstand in Italien, und es ist, als wäre selbst
der Nebel dort ein andrer als in Thüringen. Als er im September 1777
einsame Tage auf der Wartburg verlebte, kommt unter den warmen Natur-
schilderungen, die er in seinen Briefen niederlegte und die wie eine Erinnerung
an Werther klingen, auch die Stelle vor: „Es lagen unten alle Thaler im
gleichen Nebel, und er war völlig See, wo die vielen Gebirge als Ufer hervor¬
sahen" — und, um dies Schauspiel zu sehen, hatte ihn seiner Diener Philipp,
der seinen Herrn kannte, frühmorgens aus dem Schlafe geweckt und ans Fenster
geführt! Ans der soeben erwähnten Schweizerreise, die er mit dem Herzog
unternahm, sahen beide von dein höchsten Gipfel des Jura, der Dole, in dem
»ngehenren Umkreise, den der Blick von dorther beherrscht, das Licht mit dem
Nebel kämpfen: die Städte und Berge rundum versanken bald, bald blitzten sie
empor — es war, wie der Dichter sagt, „eine taumelnde Erkenntnis" — und
als um die Sonne sich zum Untergang neigte und der Nebel über den Genfersee


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[0399] Gedanken über Goethe. heit. Wir begnügen uns uns dem Bericht von 27. Oktober zwei die Kette der Berner Alpen betreffende Stellen wiederzugeben: „Ihre ganze reine Reihe stieg ostwärts auf, ohne Unterschied der Namen der Völker und Fürsten, die sie zu besitzen glauben, nur einem großen Herrn und dem Blick der Sonne unter¬ worfen, der sie schön rötete" — und: „sie sind wie eine heilige Reihe von Jungfrauen, die der Geist des Himmels in unzugänglichen Gegenden, vor unsern Augen, für sich allein, in ewiger Reinheit aufbewahrt." In den Gebirgslandschaften sind die Nebel häufig, sie wallen auf nud ab, gestaltlos, die Ferne wie die Nähe verhüllend, darum aber der Dichter- Phantasie nicht unerwünscht: sie erbaut sich hinter diesem Vorhang eine andre wunderbare Welt. Der Nebel gleicht der „Dumpfheit," d. h. der ahnungsvollen Dämmerung, in welcher das Gemüt seine tiefsten Eingebungen erfährt; zerreißt der Nebelschleier, dann werden die realen Dinge sichtbar, deren Bestimmtheit dem Glücke wie der Angst deS Traumes ein Ende macht. An Frau v. Stein (3. Mai 1781): „Empfange mich mit deiner Liebe und hilf nur anch über den dürren Boden der Klarheit, da du mich durch das Laud der Nebel begleitet hast." In Schaffhausen. in der Nähe des Rheinfalls, dessen Dampf sich mit dem Nebel vermischte, gedenkt der Dichter Ossians und fügt die bedeutsamen Worte hinzu: „Liebe zum Nebel bei heftigen innern Empfindungen" — welche letzteren dann durch die festgestaltctcu Naturdinge nicht gehindert werden, ihrem eignen Zuge zu folgen, sich selbst anzugehören. In „Amor als Landschafts¬ maler" sitzt der Dichter auf einer Felsenspitze, und der Nebel ist wie ein grcm- grundirtes Tuch vor ihm ausgespannt; der schöne Knabe Amor tritt ihm zur Seite und malt die herrlichste Landschaft und in diese das reizendste Mädchen hinein, und da der Nebel mit deu Gestatte-,, die er trug, sich ihm wogend cnl- gegenbewcgte, hätte er wohl auf seinem Felsen steinern sitzen bleiben können? — eine ähnliche Phantasie, wie in der Zueignung, aber mit den Farben einer ganz andern Stimmung: das Gedicht entstand in Italien, und es ist, als wäre selbst der Nebel dort ein andrer als in Thüringen. Als er im September 1777 einsame Tage auf der Wartburg verlebte, kommt unter den warmen Natur- schilderungen, die er in seinen Briefen niederlegte und die wie eine Erinnerung an Werther klingen, auch die Stelle vor: „Es lagen unten alle Thaler im gleichen Nebel, und er war völlig See, wo die vielen Gebirge als Ufer hervor¬ sahen" — und, um dies Schauspiel zu sehen, hatte ihn seiner Diener Philipp, der seinen Herrn kannte, frühmorgens aus dem Schlafe geweckt und ans Fenster geführt! Ans der soeben erwähnten Schweizerreise, die er mit dem Herzog unternahm, sahen beide von dein höchsten Gipfel des Jura, der Dole, in dem »ngehenren Umkreise, den der Blick von dorther beherrscht, das Licht mit dem Nebel kämpfen: die Städte und Berge rundum versanken bald, bald blitzten sie empor — es war, wie der Dichter sagt, „eine taumelnde Erkenntnis" — und als um die Sonne sich zum Untergang neigte und der Nebel über den Genfersee

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/399>, abgerufen am 22.07.2024.