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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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stellt sich unser Problem so, daß wir durch die Natur der Sache gedrängt
werden, von einer freilich immerhin geringfiigigen Entwicklung als einer gegebenen
auszugehen, und daß wir, ebenso wenig wie die Darwinsche Theorie über die
Existenz des Individuums hinaus ein Konglomerat von bildungsfähigen Ele¬
menten zunehmen kann, jenen ersten Anhaltspunkt eines geschichtlichen Pro¬
zesses nie erreichen werden. Man hat daher schon öfter, um falsche Erwartungen
von vornherein abzuschneiden, die üblichen Bezeichnungen Wilde, Naturvölker?e.
aufgegeben und nur von Stämmen niederer Zivilisation gesprochen.

Selbstverständlich kann es auch nach dieser Beschränkung der Aufgabe nicht
unsre Absicht sein, mit voller Ausführlichkeit ein Gemälde von den Anschauungen
und Gewohnheiten dieser cui ininorum Mutina zu versuchen, sondern mir die¬
jenigen hervorstechenden Züge herauszuheben, welche eine richtige Deutung der
an die Spitze der Untersuchung gestellten Gegensätze ermöglichen. Wir wählen
zu diesem Zwecke dasjenige Gebiet, welches mehr als z. B, die religiösen Ideen
der subjektiven Willkür entzogen ist, die Sitte, sofern sie sich differenzirt einer-
seits nach der Moral, andrerseits nach dem Recht.

Noch vielfach schreibt eine einseitige idealistische Richtung (begründet
durch die deutsche spekulative Philosophie im vorigen Jahrhundert) die Bildung
und Entwicklung des Rechtes gewissen apriorischen Faktoren zu, die in der
Brust jedes Mensche" liegend mit immer wachsender Klarheit gleichsam ein
immanentes System von allgemein menschlichen Regungen intuitio entfalten.
Dieses letzte ideale Residuum, ein Erbteil göttlicher Herkunft, schrumpft freilich
bei nüchterner Betrachtung zu einer imaginären Kleinheit zusammen, und es
zeigt sich vielmehr, daß derartige Axiome des menschlichen Handelns, universale
Prinzipien von unbestrittener Giltigkeit rv vvra. nicht existiren. Das Recht ist
nicht etwa eine spontane Kundgebung des menschlichen Geistes, unabhängig
von seiner Umgebung, lediglich folgend der lex innlM, sondern wie alles andre
ein Entwicklungsprodnkt höchst komplizirter, durchaus nicht einfacher Art, Zu¬
nächst und ursprünglich sind Sitte und Recht identisch, so auf den Stufen der
friedcusgeuossenschaftlicheu Organisation; ja bei ganz schwächlich konstituirten
Stämme" vollzieht sich nicht der gewöhnliche Hergang, daß im Laufe der Zeit
(durch äußere und innere Gründe) sich ein bestimmter Komplex von Ansprüchen
und Verbindlichkeiten aus der Volkssitte ablöst, oder wenigstens wirkt dieser
Faktor stärker als jene Kodifizirung. Nun ist es der vergleichende" Rechts¬
wissenschaft gelungen, durch eine umfassende komparative Methode eine leidlich
zusammenhängende Entwicklung dieser Formen von ihrer ursprünglichen Gestalt
bis zu ihrer gegenwärtigen zu entwerfen, und zwar wesentlich unter Anwendung
jenes bekannten biologischen Gesetzes, daß die Geschichte der einzelnen organischen
Gebilde sich in ihrer Struktur auffinden und rückwärts verfolgen läßt,'Diesen
höchst bedeutsame" Punkt erörtert ein moderner Forscher in folgeiider Weise:
"Übersetzen wir dies ganze bunte Gewühl organischer Formen, welches uns


stellt sich unser Problem so, daß wir durch die Natur der Sache gedrängt
werden, von einer freilich immerhin geringfiigigen Entwicklung als einer gegebenen
auszugehen, und daß wir, ebenso wenig wie die Darwinsche Theorie über die
Existenz des Individuums hinaus ein Konglomerat von bildungsfähigen Ele¬
menten zunehmen kann, jenen ersten Anhaltspunkt eines geschichtlichen Pro¬
zesses nie erreichen werden. Man hat daher schon öfter, um falsche Erwartungen
von vornherein abzuschneiden, die üblichen Bezeichnungen Wilde, Naturvölker?e.
aufgegeben und nur von Stämmen niederer Zivilisation gesprochen.

Selbstverständlich kann es auch nach dieser Beschränkung der Aufgabe nicht
unsre Absicht sein, mit voller Ausführlichkeit ein Gemälde von den Anschauungen
und Gewohnheiten dieser cui ininorum Mutina zu versuchen, sondern mir die¬
jenigen hervorstechenden Züge herauszuheben, welche eine richtige Deutung der
an die Spitze der Untersuchung gestellten Gegensätze ermöglichen. Wir wählen
zu diesem Zwecke dasjenige Gebiet, welches mehr als z. B, die religiösen Ideen
der subjektiven Willkür entzogen ist, die Sitte, sofern sie sich differenzirt einer-
seits nach der Moral, andrerseits nach dem Recht.

Noch vielfach schreibt eine einseitige idealistische Richtung (begründet
durch die deutsche spekulative Philosophie im vorigen Jahrhundert) die Bildung
und Entwicklung des Rechtes gewissen apriorischen Faktoren zu, die in der
Brust jedes Mensche» liegend mit immer wachsender Klarheit gleichsam ein
immanentes System von allgemein menschlichen Regungen intuitio entfalten.
Dieses letzte ideale Residuum, ein Erbteil göttlicher Herkunft, schrumpft freilich
bei nüchterner Betrachtung zu einer imaginären Kleinheit zusammen, und es
zeigt sich vielmehr, daß derartige Axiome des menschlichen Handelns, universale
Prinzipien von unbestrittener Giltigkeit rv vvra. nicht existiren. Das Recht ist
nicht etwa eine spontane Kundgebung des menschlichen Geistes, unabhängig
von seiner Umgebung, lediglich folgend der lex innlM, sondern wie alles andre
ein Entwicklungsprodnkt höchst komplizirter, durchaus nicht einfacher Art, Zu¬
nächst und ursprünglich sind Sitte und Recht identisch, so auf den Stufen der
friedcusgeuossenschaftlicheu Organisation; ja bei ganz schwächlich konstituirten
Stämme» vollzieht sich nicht der gewöhnliche Hergang, daß im Laufe der Zeit
(durch äußere und innere Gründe) sich ein bestimmter Komplex von Ansprüchen
und Verbindlichkeiten aus der Volkssitte ablöst, oder wenigstens wirkt dieser
Faktor stärker als jene Kodifizirung. Nun ist es der vergleichende» Rechts¬
wissenschaft gelungen, durch eine umfassende komparative Methode eine leidlich
zusammenhängende Entwicklung dieser Formen von ihrer ursprünglichen Gestalt
bis zu ihrer gegenwärtigen zu entwerfen, und zwar wesentlich unter Anwendung
jenes bekannten biologischen Gesetzes, daß die Geschichte der einzelnen organischen
Gebilde sich in ihrer Struktur auffinden und rückwärts verfolgen läßt,'Diesen
höchst bedeutsame» Punkt erörtert ein moderner Forscher in folgeiider Weise:
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/388>, abgerufen am 04.07.2024.