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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

Dieselbe unbestimmte Sehnsucht trägt Ganhmcd hinauf, aus dem Reiche der
Schwere in das leichte Reich des Äthers, dorthin, wo der ewige Vater wohnt:


Hinauf, hinauf strebts!
Es schweben die Wolken
Abwärts, die Wolken
Neigen sich der sehnende" Liebe!
Mir, mir!
In eurem Schoße
Aufwärts!

Auch Werther schreibt in den Briefen ans der Schweiz: "Welche Begierde fühl
ich, mich in den unendlichen Raum zu stürzen, über den schauerliche" Abgründen
zu schweben -- Mit welchem Verlangen hol ich tiefer und tiefer Atem, wenn
der Adler in dunkler, blauer Tiefe, unter mir, über Felsen und Wäldern schwebt
und große Kreise zieht" u. s, w.

Am Himmel wandeln Sonne und Mond, folgen einen innern, umbauten
lichen Gebote, begleite" unser Leben und richten den Lauf seiner Stunden. Was
ist die Bestimmung des Menschen? so wurde der Philosoph Anaxagoras gefragt,
und er erwiederte: Den Himmel anzuschauen und der ewigen Ordnung sich be
wußt zu werden. So betet Iphigenie zu Apollo und Artemis:


Geschwister, die ihr an dem weiten Himmel
Das schöne Licht bei Tag und Nacht herauf
Den Menschen bringet, rettet uns Geschwister!

Ach aber, beide Gestirne sind ihrem eignen strengen Gesetz Unterthan, und unser
Leid, unsre Verzweiflung kümmert sie nicht:


Die Welt, wie sie so leicht
Uns hilflos, einsam läßt und ihren Weg
Wie Sonn und Mond und andre Götter geht! (Tnsso.)

Besonders aber herrscht droben die Sonne -- rufus armati se tömxsrator,
über uns und über allem. Schon die alten Dichter, vor allen Homer, wenn
sie "leben" sagen wollen, brauchen die Wendung: der Sonne Licht schauen. So
ist auch in mittelhochdeutschen Gedichten, z. B. im "Parcival" (Lachmann 247, 26),
alii SUMM im?i vain so viel als asu gotss Im2 und bei Goethe die Sonne
soviel als Glück und Leben überhaupt. Der Gräfin Bernstorff meldet er im
letzten seiner Briefe an sie, er sei von einer tötlichen Krankheit genesen, und der
Allwaltendc gönne ihm noch "das schöne Licht seiner Sonne zu schauen"; denn,
wie es in der Achilleis heißt:


Oft begrub schon der Kranke den Arzt, der das Leben ihm kürzlich
Abgesprochen, genesen und froh der beleuchtenden Sonne,

oder wie Iphigenie sagt:


Gedanken über Goethe.

Dieselbe unbestimmte Sehnsucht trägt Ganhmcd hinauf, aus dem Reiche der
Schwere in das leichte Reich des Äthers, dorthin, wo der ewige Vater wohnt:


Hinauf, hinauf strebts!
Es schweben die Wolken
Abwärts, die Wolken
Neigen sich der sehnende» Liebe!
Mir, mir!
In eurem Schoße
Aufwärts!

Auch Werther schreibt in den Briefen ans der Schweiz: „Welche Begierde fühl
ich, mich in den unendlichen Raum zu stürzen, über den schauerliche» Abgründen
zu schweben — Mit welchem Verlangen hol ich tiefer und tiefer Atem, wenn
der Adler in dunkler, blauer Tiefe, unter mir, über Felsen und Wäldern schwebt
und große Kreise zieht" u. s, w.

Am Himmel wandeln Sonne und Mond, folgen einen innern, umbauten
lichen Gebote, begleite» unser Leben und richten den Lauf seiner Stunden. Was
ist die Bestimmung des Menschen? so wurde der Philosoph Anaxagoras gefragt,
und er erwiederte: Den Himmel anzuschauen und der ewigen Ordnung sich be
wußt zu werden. So betet Iphigenie zu Apollo und Artemis:


Geschwister, die ihr an dem weiten Himmel
Das schöne Licht bei Tag und Nacht herauf
Den Menschen bringet, rettet uns Geschwister!

Ach aber, beide Gestirne sind ihrem eignen strengen Gesetz Unterthan, und unser
Leid, unsre Verzweiflung kümmert sie nicht:


Die Welt, wie sie so leicht
Uns hilflos, einsam läßt und ihren Weg
Wie Sonn und Mond und andre Götter geht! (Tnsso.)

Besonders aber herrscht droben die Sonne — rufus armati se tömxsrator,
über uns und über allem. Schon die alten Dichter, vor allen Homer, wenn
sie „leben" sagen wollen, brauchen die Wendung: der Sonne Licht schauen. So
ist auch in mittelhochdeutschen Gedichten, z. B. im „Parcival" (Lachmann 247, 26),
alii SUMM im?i vain so viel als asu gotss Im2 und bei Goethe die Sonne
soviel als Glück und Leben überhaupt. Der Gräfin Bernstorff meldet er im
letzten seiner Briefe an sie, er sei von einer tötlichen Krankheit genesen, und der
Allwaltendc gönne ihm noch „das schöne Licht seiner Sonne zu schauen"; denn,
wie es in der Achilleis heißt:


Oft begrub schon der Kranke den Arzt, der das Leben ihm kürzlich
Abgesprochen, genesen und froh der beleuchtenden Sonne,

oder wie Iphigenie sagt:


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[0346] Gedanken über Goethe. Dieselbe unbestimmte Sehnsucht trägt Ganhmcd hinauf, aus dem Reiche der Schwere in das leichte Reich des Äthers, dorthin, wo der ewige Vater wohnt: Hinauf, hinauf strebts! Es schweben die Wolken Abwärts, die Wolken Neigen sich der sehnende» Liebe! Mir, mir! In eurem Schoße Aufwärts! Auch Werther schreibt in den Briefen ans der Schweiz: „Welche Begierde fühl ich, mich in den unendlichen Raum zu stürzen, über den schauerliche» Abgründen zu schweben — Mit welchem Verlangen hol ich tiefer und tiefer Atem, wenn der Adler in dunkler, blauer Tiefe, unter mir, über Felsen und Wäldern schwebt und große Kreise zieht" u. s, w. Am Himmel wandeln Sonne und Mond, folgen einen innern, umbauten lichen Gebote, begleite» unser Leben und richten den Lauf seiner Stunden. Was ist die Bestimmung des Menschen? so wurde der Philosoph Anaxagoras gefragt, und er erwiederte: Den Himmel anzuschauen und der ewigen Ordnung sich be wußt zu werden. So betet Iphigenie zu Apollo und Artemis: Geschwister, die ihr an dem weiten Himmel Das schöne Licht bei Tag und Nacht herauf Den Menschen bringet, rettet uns Geschwister! Ach aber, beide Gestirne sind ihrem eignen strengen Gesetz Unterthan, und unser Leid, unsre Verzweiflung kümmert sie nicht: Die Welt, wie sie so leicht Uns hilflos, einsam läßt und ihren Weg Wie Sonn und Mond und andre Götter geht! (Tnsso.) Besonders aber herrscht droben die Sonne — rufus armati se tömxsrator, über uns und über allem. Schon die alten Dichter, vor allen Homer, wenn sie „leben" sagen wollen, brauchen die Wendung: der Sonne Licht schauen. So ist auch in mittelhochdeutschen Gedichten, z. B. im „Parcival" (Lachmann 247, 26), alii SUMM im?i vain so viel als asu gotss Im2 und bei Goethe die Sonne soviel als Glück und Leben überhaupt. Der Gräfin Bernstorff meldet er im letzten seiner Briefe an sie, er sei von einer tötlichen Krankheit genesen, und der Allwaltendc gönne ihm noch „das schöne Licht seiner Sonne zu schauen"; denn, wie es in der Achilleis heißt: Oft begrub schon der Kranke den Arzt, der das Leben ihm kürzlich Abgesprochen, genesen und froh der beleuchtenden Sonne, oder wie Iphigenie sagt:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/346>, abgerufen am 28.09.2024.