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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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L. Geisels und F. A. v. Schacks sämtliche Werke.

Und fern vom weißen Säntisgipfcl überragt,
Ammen Schimmers, wie ein Stück vom Himmel, blaue
Der See von Lindau, dessen üppig Rebgestad
Den schönsten meiner Herbste sah.

Beinahe durchgehend knüpfen die Gedichte, die den ergreifendsten Empfin¬
dungslaut und den reinsten Wohlklang haben, an vergangene Momente an
und verbinden vergangene mit gegenwärtigen. Die Lieder "Mitsommernacht,"
"An eine junge Sängerin," "Eine Sommernacht" (wohl das lieblichste und
innigste der "Spätherbstblätter"), "In den mondverklärten Lüften," "Nun ist
auch dieser Bann gebrochen" mit ihrem elegischen Hauch und ihrer schönen Er¬
gebung erweisen dies ebenso wie die epischen Bilder "Nausikaci" und "Der Tod
des Perikles," in denen die jugendliche, freudige Begeisterung für griechische
Schönheit und griechisches Leben noch einmal auflebt. In vielen andern Ge¬
dichten macht sich freilich ein Ermatten und Erstarren geltend. Am bedenklichsten
erscheint die allzugroße Zufriedenheit des sonst so edelstolzen Dichters mit dem
Laufe des Tages, es ist, als ob er gewissen Erscheinungen gegenüber die Augen,
welche einst so scharf und fest Herz und Nieren der Zeitstimmung geprüft hatten,
geradezu schlösse. Freilich nicht immer; von Zeit zu Zeit bricht auch durch
seinen Optimismus der heilige Zorn über den Troß und das Gesindel hervor,
welche sich unter seinem eignen, einst glorreichen Banner gesammelt haben. In
dem Gedicht "An einen Schulmann" entringt sich dem Dichter der Stoßseufzer:


Flacher Afterweisheit Sätze
Werden unsres Tiefsinns Schätze,
Unsrer Bildung Hort zerwühlen
Und hinweg die Ehrfurcht spülen,
Bis zuletzt im seichten Schwalle
Sich die Gleichheit fand für alle.
Wenn die Roheit dann entbunden,
Jedes Ideal verschwunden,
Wohl ein Grausen mögt ihr spüren;
Denn ihr haist es selbst vollführen:
Die ein Volk des Geistes waren,
Ihr erzöge sie zu Barbaren.

Begreiflich ist es immerhin, daß der Dichter nur selten zu dergleichen
Empfindungen gelangt. In den "Gesammelten Werken" folgen den "Spät¬
herbstblättern" unmittelbar die "Heroldsrufe," jene Zeitgedichte, mit denen Geibel
die Entwicklung der vaterländischen Verhältnisse zwischen 1849 und 1870, an¬
fänglich in Trauer und Besorgnis, dann mit wachsender Hoffnung, zuletzt mit
Jubel begleitet hat. Es liegt in der Natur solcher Dichtungen, daß hier die
Geibelsche Poesie rhetorischer erscheint als in den Bildern und erzählenden
Dichtungen. Doch wird in den schönsten der "Heroldsrufe" auch wahrhaft


L. Geisels und F. A. v. Schacks sämtliche Werke.

Und fern vom weißen Säntisgipfcl überragt,
Ammen Schimmers, wie ein Stück vom Himmel, blaue
Der See von Lindau, dessen üppig Rebgestad
Den schönsten meiner Herbste sah.

Beinahe durchgehend knüpfen die Gedichte, die den ergreifendsten Empfin¬
dungslaut und den reinsten Wohlklang haben, an vergangene Momente an
und verbinden vergangene mit gegenwärtigen. Die Lieder „Mitsommernacht,"
„An eine junge Sängerin," „Eine Sommernacht" (wohl das lieblichste und
innigste der „Spätherbstblätter"), „In den mondverklärten Lüften," „Nun ist
auch dieser Bann gebrochen" mit ihrem elegischen Hauch und ihrer schönen Er¬
gebung erweisen dies ebenso wie die epischen Bilder „Nausikaci" und „Der Tod
des Perikles," in denen die jugendliche, freudige Begeisterung für griechische
Schönheit und griechisches Leben noch einmal auflebt. In vielen andern Ge¬
dichten macht sich freilich ein Ermatten und Erstarren geltend. Am bedenklichsten
erscheint die allzugroße Zufriedenheit des sonst so edelstolzen Dichters mit dem
Laufe des Tages, es ist, als ob er gewissen Erscheinungen gegenüber die Augen,
welche einst so scharf und fest Herz und Nieren der Zeitstimmung geprüft hatten,
geradezu schlösse. Freilich nicht immer; von Zeit zu Zeit bricht auch durch
seinen Optimismus der heilige Zorn über den Troß und das Gesindel hervor,
welche sich unter seinem eignen, einst glorreichen Banner gesammelt haben. In
dem Gedicht „An einen Schulmann" entringt sich dem Dichter der Stoßseufzer:


Flacher Afterweisheit Sätze
Werden unsres Tiefsinns Schätze,
Unsrer Bildung Hort zerwühlen
Und hinweg die Ehrfurcht spülen,
Bis zuletzt im seichten Schwalle
Sich die Gleichheit fand für alle.
Wenn die Roheit dann entbunden,
Jedes Ideal verschwunden,
Wohl ein Grausen mögt ihr spüren;
Denn ihr haist es selbst vollführen:
Die ein Volk des Geistes waren,
Ihr erzöge sie zu Barbaren.

Begreiflich ist es immerhin, daß der Dichter nur selten zu dergleichen
Empfindungen gelangt. In den „Gesammelten Werken" folgen den „Spät¬
herbstblättern" unmittelbar die „Heroldsrufe," jene Zeitgedichte, mit denen Geibel
die Entwicklung der vaterländischen Verhältnisse zwischen 1849 und 1870, an¬
fänglich in Trauer und Besorgnis, dann mit wachsender Hoffnung, zuletzt mit
Jubel begleitet hat. Es liegt in der Natur solcher Dichtungen, daß hier die
Geibelsche Poesie rhetorischer erscheint als in den Bildern und erzählenden
Dichtungen. Doch wird in den schönsten der „Heroldsrufe" auch wahrhaft


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[0032] L. Geisels und F. A. v. Schacks sämtliche Werke. Und fern vom weißen Säntisgipfcl überragt, Ammen Schimmers, wie ein Stück vom Himmel, blaue Der See von Lindau, dessen üppig Rebgestad Den schönsten meiner Herbste sah. Beinahe durchgehend knüpfen die Gedichte, die den ergreifendsten Empfin¬ dungslaut und den reinsten Wohlklang haben, an vergangene Momente an und verbinden vergangene mit gegenwärtigen. Die Lieder „Mitsommernacht," „An eine junge Sängerin," „Eine Sommernacht" (wohl das lieblichste und innigste der „Spätherbstblätter"), „In den mondverklärten Lüften," „Nun ist auch dieser Bann gebrochen" mit ihrem elegischen Hauch und ihrer schönen Er¬ gebung erweisen dies ebenso wie die epischen Bilder „Nausikaci" und „Der Tod des Perikles," in denen die jugendliche, freudige Begeisterung für griechische Schönheit und griechisches Leben noch einmal auflebt. In vielen andern Ge¬ dichten macht sich freilich ein Ermatten und Erstarren geltend. Am bedenklichsten erscheint die allzugroße Zufriedenheit des sonst so edelstolzen Dichters mit dem Laufe des Tages, es ist, als ob er gewissen Erscheinungen gegenüber die Augen, welche einst so scharf und fest Herz und Nieren der Zeitstimmung geprüft hatten, geradezu schlösse. Freilich nicht immer; von Zeit zu Zeit bricht auch durch seinen Optimismus der heilige Zorn über den Troß und das Gesindel hervor, welche sich unter seinem eignen, einst glorreichen Banner gesammelt haben. In dem Gedicht „An einen Schulmann" entringt sich dem Dichter der Stoßseufzer: Flacher Afterweisheit Sätze Werden unsres Tiefsinns Schätze, Unsrer Bildung Hort zerwühlen Und hinweg die Ehrfurcht spülen, Bis zuletzt im seichten Schwalle Sich die Gleichheit fand für alle. Wenn die Roheit dann entbunden, Jedes Ideal verschwunden, Wohl ein Grausen mögt ihr spüren; Denn ihr haist es selbst vollführen: Die ein Volk des Geistes waren, Ihr erzöge sie zu Barbaren. Begreiflich ist es immerhin, daß der Dichter nur selten zu dergleichen Empfindungen gelangt. In den „Gesammelten Werken" folgen den „Spät¬ herbstblättern" unmittelbar die „Heroldsrufe," jene Zeitgedichte, mit denen Geibel die Entwicklung der vaterländischen Verhältnisse zwischen 1849 und 1870, an¬ fänglich in Trauer und Besorgnis, dann mit wachsender Hoffnung, zuletzt mit Jubel begleitet hat. Es liegt in der Natur solcher Dichtungen, daß hier die Geibelsche Poesie rhetorischer erscheint als in den Bildern und erzählenden Dichtungen. Doch wird in den schönsten der „Heroldsrufe" auch wahrhaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/32>, abgerufen am 28.09.2024.