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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die lvestmächte und die ägyptische Krisis.

zösischen Hafen am Roten Meere gefährdet sein, und es ist nicht anzunehmen,
daß Gladstone so thöricht sein wird, die Seepforte Oberäghptens aufzugeben.
Es steht vielmehr zu erwarten, daß britische Kriegsdampfer trotz der Räumung
des Sudan dort fortfahren werden, Wache zu halten. Schon die Interessen
der Menschlichkeit fordern das; denn in Chartum befinden sich Tausende von
Europäern, und der Weg von Berber nach Suakin ist der kürzeste für ihren
Abzug. Es ist ferner möglich, daß England als Schutzmacht Ägyptens einmal
imstande sein wird, mit dem Mahdi in Verhandlungen zu treten. Entwickelt
er Stärke und zeigt er sich menschlich, so wird seine Herrschaft über Darfur
und die Wüste besser sein als die Anarchie, welche nach Entfernung der ägyp¬
tischen Behörden eintreten und das Land verwüsten würde. Besitzt er ebenso¬
wohl politischen als religiösen Ehrgeiz, so kann er es in seinem Interesse finden,
sich mit den Engländern über den Frieden zu verständigen und dann eine
neue Herrschaft und Dynastie in Nordafrikas Hinterkante gründen. Das würde
verdrießlich für den Sultan und eine Bedrohung der französischen Kolonien
Tunis und Algerien sein. Aber England hat darauf nicht Rücksicht zu nehmen,
und Frankreich wird nicht leicht daran denken, seine Regimenter und sein Geld
zur Eroberung eines schwer zugänglichen Landes zu verwende", wo ein Schwarm
eingeborner Krieger, ähnlich dem Flugsande seiner Wüsten, heute vordringt,
Halt macht und kämpft und morgen sich verflüchtigt und verschwindet. Frank¬
reich hat in Algerien diese Art Arbeit genügend kennen gelernt und wird sich
hüten. Die Türkei aber kann alleinstehend noch viel weniger an die Bewältigung
der Aufgabe denken, den Mahdi niederzuwerfen.

Diese Hilflosigkeit angesichts des letzten Entschlusses der englische" Regierung
trägt natürlich dazu bei, den in Paris herrschenden Unmut über die Sache zu seel^
gern. Man schilt die britischen Minister dort selbstsüchtige Politiker, gleichgiltig
gegen das Interesse Europas, unbekümmert um den Fortschritt der Zivilisation.
Der witzige Charmes sagt: "England ist mir ein langer, dürrer, knochiger, alter
Hagestolz, der sich beim Annähen eines Knopfes an seine Hosen eines Fadens
bedient, der um den ganzen Erdball gewickelt ist. Er schneidet den Zwirn,
wenn er mit seiner Arbeit fertig ist, gelassen ab und läßt die Welt in den
Abgrund fallen." Es liegt gewiß etwas wahres in diesen Anschuldigungen,
aber wenn nicht die ernsten Fragen wegen Chartums und Suakins wären, könnte
man sie in London mit Gleichmut anhören. Andre Völker sind, so könnte
man damit antworten, auch nicht gewohnt, wenn sie Eroberungen gemacht
haben, sich als Vorkämpfer der Zivilisation aufzuspielen. Wenn z. B. die
Franzosen Tonkin und Stücke von Madagaskar erwerben, so werden sie Zölle
einrichten und den Handel sich zu sichern versuchen. Am Kongo sind sie darüber
her, ein internationales Unternehmen in ein französisches Projekt zu verwandeln.
Der Suezkanal ist in allen Zweigen seiner Verwaltung französisch geblieben.
Verständige Leute tadeln Frankreich nicht, wenn es sich weigert, den Interessen


Die lvestmächte und die ägyptische Krisis.

zösischen Hafen am Roten Meere gefährdet sein, und es ist nicht anzunehmen,
daß Gladstone so thöricht sein wird, die Seepforte Oberäghptens aufzugeben.
Es steht vielmehr zu erwarten, daß britische Kriegsdampfer trotz der Räumung
des Sudan dort fortfahren werden, Wache zu halten. Schon die Interessen
der Menschlichkeit fordern das; denn in Chartum befinden sich Tausende von
Europäern, und der Weg von Berber nach Suakin ist der kürzeste für ihren
Abzug. Es ist ferner möglich, daß England als Schutzmacht Ägyptens einmal
imstande sein wird, mit dem Mahdi in Verhandlungen zu treten. Entwickelt
er Stärke und zeigt er sich menschlich, so wird seine Herrschaft über Darfur
und die Wüste besser sein als die Anarchie, welche nach Entfernung der ägyp¬
tischen Behörden eintreten und das Land verwüsten würde. Besitzt er ebenso¬
wohl politischen als religiösen Ehrgeiz, so kann er es in seinem Interesse finden,
sich mit den Engländern über den Frieden zu verständigen und dann eine
neue Herrschaft und Dynastie in Nordafrikas Hinterkante gründen. Das würde
verdrießlich für den Sultan und eine Bedrohung der französischen Kolonien
Tunis und Algerien sein. Aber England hat darauf nicht Rücksicht zu nehmen,
und Frankreich wird nicht leicht daran denken, seine Regimenter und sein Geld
zur Eroberung eines schwer zugänglichen Landes zu verwende», wo ein Schwarm
eingeborner Krieger, ähnlich dem Flugsande seiner Wüsten, heute vordringt,
Halt macht und kämpft und morgen sich verflüchtigt und verschwindet. Frank¬
reich hat in Algerien diese Art Arbeit genügend kennen gelernt und wird sich
hüten. Die Türkei aber kann alleinstehend noch viel weniger an die Bewältigung
der Aufgabe denken, den Mahdi niederzuwerfen.

Diese Hilflosigkeit angesichts des letzten Entschlusses der englische» Regierung
trägt natürlich dazu bei, den in Paris herrschenden Unmut über die Sache zu seel^
gern. Man schilt die britischen Minister dort selbstsüchtige Politiker, gleichgiltig
gegen das Interesse Europas, unbekümmert um den Fortschritt der Zivilisation.
Der witzige Charmes sagt: „England ist mir ein langer, dürrer, knochiger, alter
Hagestolz, der sich beim Annähen eines Knopfes an seine Hosen eines Fadens
bedient, der um den ganzen Erdball gewickelt ist. Er schneidet den Zwirn,
wenn er mit seiner Arbeit fertig ist, gelassen ab und läßt die Welt in den
Abgrund fallen." Es liegt gewiß etwas wahres in diesen Anschuldigungen,
aber wenn nicht die ernsten Fragen wegen Chartums und Suakins wären, könnte
man sie in London mit Gleichmut anhören. Andre Völker sind, so könnte
man damit antworten, auch nicht gewohnt, wenn sie Eroberungen gemacht
haben, sich als Vorkämpfer der Zivilisation aufzuspielen. Wenn z. B. die
Franzosen Tonkin und Stücke von Madagaskar erwerben, so werden sie Zölle
einrichten und den Handel sich zu sichern versuchen. Am Kongo sind sie darüber
her, ein internationales Unternehmen in ein französisches Projekt zu verwandeln.
Der Suezkanal ist in allen Zweigen seiner Verwaltung französisch geblieben.
Verständige Leute tadeln Frankreich nicht, wenn es sich weigert, den Interessen


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[0212] Die lvestmächte und die ägyptische Krisis. zösischen Hafen am Roten Meere gefährdet sein, und es ist nicht anzunehmen, daß Gladstone so thöricht sein wird, die Seepforte Oberäghptens aufzugeben. Es steht vielmehr zu erwarten, daß britische Kriegsdampfer trotz der Räumung des Sudan dort fortfahren werden, Wache zu halten. Schon die Interessen der Menschlichkeit fordern das; denn in Chartum befinden sich Tausende von Europäern, und der Weg von Berber nach Suakin ist der kürzeste für ihren Abzug. Es ist ferner möglich, daß England als Schutzmacht Ägyptens einmal imstande sein wird, mit dem Mahdi in Verhandlungen zu treten. Entwickelt er Stärke und zeigt er sich menschlich, so wird seine Herrschaft über Darfur und die Wüste besser sein als die Anarchie, welche nach Entfernung der ägyp¬ tischen Behörden eintreten und das Land verwüsten würde. Besitzt er ebenso¬ wohl politischen als religiösen Ehrgeiz, so kann er es in seinem Interesse finden, sich mit den Engländern über den Frieden zu verständigen und dann eine neue Herrschaft und Dynastie in Nordafrikas Hinterkante gründen. Das würde verdrießlich für den Sultan und eine Bedrohung der französischen Kolonien Tunis und Algerien sein. Aber England hat darauf nicht Rücksicht zu nehmen, und Frankreich wird nicht leicht daran denken, seine Regimenter und sein Geld zur Eroberung eines schwer zugänglichen Landes zu verwende», wo ein Schwarm eingeborner Krieger, ähnlich dem Flugsande seiner Wüsten, heute vordringt, Halt macht und kämpft und morgen sich verflüchtigt und verschwindet. Frank¬ reich hat in Algerien diese Art Arbeit genügend kennen gelernt und wird sich hüten. Die Türkei aber kann alleinstehend noch viel weniger an die Bewältigung der Aufgabe denken, den Mahdi niederzuwerfen. Diese Hilflosigkeit angesichts des letzten Entschlusses der englische» Regierung trägt natürlich dazu bei, den in Paris herrschenden Unmut über die Sache zu seel^ gern. Man schilt die britischen Minister dort selbstsüchtige Politiker, gleichgiltig gegen das Interesse Europas, unbekümmert um den Fortschritt der Zivilisation. Der witzige Charmes sagt: „England ist mir ein langer, dürrer, knochiger, alter Hagestolz, der sich beim Annähen eines Knopfes an seine Hosen eines Fadens bedient, der um den ganzen Erdball gewickelt ist. Er schneidet den Zwirn, wenn er mit seiner Arbeit fertig ist, gelassen ab und läßt die Welt in den Abgrund fallen." Es liegt gewiß etwas wahres in diesen Anschuldigungen, aber wenn nicht die ernsten Fragen wegen Chartums und Suakins wären, könnte man sie in London mit Gleichmut anhören. Andre Völker sind, so könnte man damit antworten, auch nicht gewohnt, wenn sie Eroberungen gemacht haben, sich als Vorkämpfer der Zivilisation aufzuspielen. Wenn z. B. die Franzosen Tonkin und Stücke von Madagaskar erwerben, so werden sie Zölle einrichten und den Handel sich zu sichern versuchen. Am Kongo sind sie darüber her, ein internationales Unternehmen in ein französisches Projekt zu verwandeln. Der Suezkanal ist in allen Zweigen seiner Verwaltung französisch geblieben. Verständige Leute tadeln Frankreich nicht, wenn es sich weigert, den Interessen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/212>, abgerufen am 25.08.2024.