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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die tvestmcichte und die ägyptische Krisis.

ohne Ägypten zu betreten, von der Küste des Roten Meeres aus versuchte. Damit
verband der Vertreter Gladstones den Rat, die ägyptischen Soldaten aus dem
Sudan zunickzuziehen und das Nilthal nur bis Wadi Halfa (in Nubien, an der
zweiten Stromschnelle des Nil) festzuhalten. Dieser "Rat" erregte in Kairo
große Bestürzung und lebhaften Widerspruch. Er war natürlich ein Befehl,
aber wenn er Ersparnis von Menschenleben und Geld für eine Regierung mit
einer enthusiastischen Armee und einem leeren Schatze bedeutete, so hatte er doch
auch eine sehr beachtenswerte andre Seite, nicht bloß für den Chedive und seine
Minister, sondern auch für England und Frankreich, desgleichen für die Türkei.
Der Sudan enthält Elemente, die einer reichen Entwicklung fähig sind. Die
wandernden Araber, welche die größere Hälfte seiner Bevölkerung bilden, sind
nur aus Not, nicht aus Liebhaberei Nomaden. Sie würden, wenn das Land
besser bewässert wäre, seßhaft werden und Ackerbau treiben. Wenige Gegenden
eignen sich für den Anbau von Baumwolle so gut wie diese Provinzen. Der
Boden ist überaus fett und fruchtbar, das Klima vortrefflich geeignet, weil es
durch die Trockenheit der Luft das Reifen und Einsammeln der Wolle begünstigt.
Dieselbe kann ohne Gefahr irgendwelcher Störung durch Regen getrocknet, ge¬
reinigt und verpackt werden, und gäbe es eine Eisenbahn von Berber nach
Snakin, so könnte sie in drei Wochen nach der Ernte auf die europäischen
Märkte befördert werden. Das Land eignet sich ferner für Weizen. Was
werden die Folgen einer Preisgebung des Sudan sein? Die ganze weite Fläche,
die von so vielen verschiednen Stämmen bewohnt ist, wird in vollständige Barbarei
zurückvcrsiukeu, ein unaufhörlicher Bürgerkrieg wird wüten, der Anbau des Bodens
wird unterbrochen, der Handel dein Untergange entgegengeführt werden, nnr der
Kauf und Verkauf von Sklaven wird blühen. Die eintretende Anarchie muß
auf Ägypten zurückwirken, moralisch und Physisch. Es giebt in Chartum einen
Nilmesser und eine Telegraphcnstativn, die jeden Tag die Höhe des Nil nach
Kairo meldet und so während der Überschwemmnngspcriode die Regierung
über die herannahende Flut rechtzeitig in Kenntnis setzt, sodaß man in Mittcl-
uud Unterägypten durch Erhöhung und Verstärkung der Dämme die nötigen
Vorkehrungen treffen kann, um einem Einbrüche Halt zu gebieten, der früher
die fruchtbarsten Provinzen des Landes verwüstete. Den Sudan aufgeben, heißt
Ägypten dieses augenfälligsten Beistandes berauben, den die moderne Wissenschaft
der alten Bevölkerung im Kampfe mit der Natur leistet. Dazu kommen aber
noch moralische Schädigungen. Wenn Ägypten die ihm von England angeratene
Nückzugspolitik verfolgt, so muß es im Innern und nach außen hin erheblich
an Ansehen verlieren. Zunächst wird jedermann wissen, daß es von England
dazu genötigt worden ist. Sodann mag man dem Vorrücken des Mahdi dnrch
Befestigung der Pässe bei Wadi Halsa ein Ziel setzen; das Vordringen des
religiösen Fanatismus aus dem Lager des siegreichen Propheten über diese
Grenzstadt hinaus bis nach Unterägypten wird man nicht hindern können.


Die tvestmcichte und die ägyptische Krisis.

ohne Ägypten zu betreten, von der Küste des Roten Meeres aus versuchte. Damit
verband der Vertreter Gladstones den Rat, die ägyptischen Soldaten aus dem
Sudan zunickzuziehen und das Nilthal nur bis Wadi Halfa (in Nubien, an der
zweiten Stromschnelle des Nil) festzuhalten. Dieser „Rat" erregte in Kairo
große Bestürzung und lebhaften Widerspruch. Er war natürlich ein Befehl,
aber wenn er Ersparnis von Menschenleben und Geld für eine Regierung mit
einer enthusiastischen Armee und einem leeren Schatze bedeutete, so hatte er doch
auch eine sehr beachtenswerte andre Seite, nicht bloß für den Chedive und seine
Minister, sondern auch für England und Frankreich, desgleichen für die Türkei.
Der Sudan enthält Elemente, die einer reichen Entwicklung fähig sind. Die
wandernden Araber, welche die größere Hälfte seiner Bevölkerung bilden, sind
nur aus Not, nicht aus Liebhaberei Nomaden. Sie würden, wenn das Land
besser bewässert wäre, seßhaft werden und Ackerbau treiben. Wenige Gegenden
eignen sich für den Anbau von Baumwolle so gut wie diese Provinzen. Der
Boden ist überaus fett und fruchtbar, das Klima vortrefflich geeignet, weil es
durch die Trockenheit der Luft das Reifen und Einsammeln der Wolle begünstigt.
Dieselbe kann ohne Gefahr irgendwelcher Störung durch Regen getrocknet, ge¬
reinigt und verpackt werden, und gäbe es eine Eisenbahn von Berber nach
Snakin, so könnte sie in drei Wochen nach der Ernte auf die europäischen
Märkte befördert werden. Das Land eignet sich ferner für Weizen. Was
werden die Folgen einer Preisgebung des Sudan sein? Die ganze weite Fläche,
die von so vielen verschiednen Stämmen bewohnt ist, wird in vollständige Barbarei
zurückvcrsiukeu, ein unaufhörlicher Bürgerkrieg wird wüten, der Anbau des Bodens
wird unterbrochen, der Handel dein Untergange entgegengeführt werden, nnr der
Kauf und Verkauf von Sklaven wird blühen. Die eintretende Anarchie muß
auf Ägypten zurückwirken, moralisch und Physisch. Es giebt in Chartum einen
Nilmesser und eine Telegraphcnstativn, die jeden Tag die Höhe des Nil nach
Kairo meldet und so während der Überschwemmnngspcriode die Regierung
über die herannahende Flut rechtzeitig in Kenntnis setzt, sodaß man in Mittcl-
uud Unterägypten durch Erhöhung und Verstärkung der Dämme die nötigen
Vorkehrungen treffen kann, um einem Einbrüche Halt zu gebieten, der früher
die fruchtbarsten Provinzen des Landes verwüstete. Den Sudan aufgeben, heißt
Ägypten dieses augenfälligsten Beistandes berauben, den die moderne Wissenschaft
der alten Bevölkerung im Kampfe mit der Natur leistet. Dazu kommen aber
noch moralische Schädigungen. Wenn Ägypten die ihm von England angeratene
Nückzugspolitik verfolgt, so muß es im Innern und nach außen hin erheblich
an Ansehen verlieren. Zunächst wird jedermann wissen, daß es von England
dazu genötigt worden ist. Sodann mag man dem Vorrücken des Mahdi dnrch
Befestigung der Pässe bei Wadi Halsa ein Ziel setzen; das Vordringen des
religiösen Fanatismus aus dem Lager des siegreichen Propheten über diese
Grenzstadt hinaus bis nach Unterägypten wird man nicht hindern können.


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[0208] Die tvestmcichte und die ägyptische Krisis. ohne Ägypten zu betreten, von der Küste des Roten Meeres aus versuchte. Damit verband der Vertreter Gladstones den Rat, die ägyptischen Soldaten aus dem Sudan zunickzuziehen und das Nilthal nur bis Wadi Halfa (in Nubien, an der zweiten Stromschnelle des Nil) festzuhalten. Dieser „Rat" erregte in Kairo große Bestürzung und lebhaften Widerspruch. Er war natürlich ein Befehl, aber wenn er Ersparnis von Menschenleben und Geld für eine Regierung mit einer enthusiastischen Armee und einem leeren Schatze bedeutete, so hatte er doch auch eine sehr beachtenswerte andre Seite, nicht bloß für den Chedive und seine Minister, sondern auch für England und Frankreich, desgleichen für die Türkei. Der Sudan enthält Elemente, die einer reichen Entwicklung fähig sind. Die wandernden Araber, welche die größere Hälfte seiner Bevölkerung bilden, sind nur aus Not, nicht aus Liebhaberei Nomaden. Sie würden, wenn das Land besser bewässert wäre, seßhaft werden und Ackerbau treiben. Wenige Gegenden eignen sich für den Anbau von Baumwolle so gut wie diese Provinzen. Der Boden ist überaus fett und fruchtbar, das Klima vortrefflich geeignet, weil es durch die Trockenheit der Luft das Reifen und Einsammeln der Wolle begünstigt. Dieselbe kann ohne Gefahr irgendwelcher Störung durch Regen getrocknet, ge¬ reinigt und verpackt werden, und gäbe es eine Eisenbahn von Berber nach Snakin, so könnte sie in drei Wochen nach der Ernte auf die europäischen Märkte befördert werden. Das Land eignet sich ferner für Weizen. Was werden die Folgen einer Preisgebung des Sudan sein? Die ganze weite Fläche, die von so vielen verschiednen Stämmen bewohnt ist, wird in vollständige Barbarei zurückvcrsiukeu, ein unaufhörlicher Bürgerkrieg wird wüten, der Anbau des Bodens wird unterbrochen, der Handel dein Untergange entgegengeführt werden, nnr der Kauf und Verkauf von Sklaven wird blühen. Die eintretende Anarchie muß auf Ägypten zurückwirken, moralisch und Physisch. Es giebt in Chartum einen Nilmesser und eine Telegraphcnstativn, die jeden Tag die Höhe des Nil nach Kairo meldet und so während der Überschwemmnngspcriode die Regierung über die herannahende Flut rechtzeitig in Kenntnis setzt, sodaß man in Mittcl- uud Unterägypten durch Erhöhung und Verstärkung der Dämme die nötigen Vorkehrungen treffen kann, um einem Einbrüche Halt zu gebieten, der früher die fruchtbarsten Provinzen des Landes verwüstete. Den Sudan aufgeben, heißt Ägypten dieses augenfälligsten Beistandes berauben, den die moderne Wissenschaft der alten Bevölkerung im Kampfe mit der Natur leistet. Dazu kommen aber noch moralische Schädigungen. Wenn Ägypten die ihm von England angeratene Nückzugspolitik verfolgt, so muß es im Innern und nach außen hin erheblich an Ansehen verlieren. Zunächst wird jedermann wissen, daß es von England dazu genötigt worden ist. Sodann mag man dem Vorrücken des Mahdi dnrch Befestigung der Pässe bei Wadi Halsa ein Ziel setzen; das Vordringen des religiösen Fanatismus aus dem Lager des siegreichen Propheten über diese Grenzstadt hinaus bis nach Unterägypten wird man nicht hindern können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/208>, abgerufen am 24.08.2024.