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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Lin Vorläufer Lassalles.

Bcfreiungsbnnd" thätig war und die Flugblätter: "Propaganda des Befreiungs¬
bundes" und "Notwendige Maßregeln in der nächsten sozialen Revolution"
veröffentlichte. Im August 1849 kam die Polizei seiner extremen agitatorischen
Thätigkeit auf die Spur, doch gelang es ihm, zu entwischen. Er ging über
England nach Newyork, wo er zunächst die Zeitung "Republik der Arbeiter"
herausgab. Als auch diese ihr Erscheinen einstellen mußte, zog er sich ganz
vom öffentlichen Leben zurück und ergab sich dem alten Handwerk und -- astro¬
nomischen Studien. In jenem erfand er angeblich eine Knopflochnühmaschine,
um deren Nutzen er jedoch von einem Kapitalisten betrogen worden sein will.
Das Resultat seiner astronomischen Arbeiten war ein Buch, welches jedoch nicht
veröffentlicht wurde, weil es keinen Verleger finden konnte. "Ich brauchte
schrieb er einem alte" Jugendfreunde von der Leipziger Zeit her -- sehr not¬
wendig einen Verleger für meine Astronomie, das wertvollste Buch, das je in
der Welt erschienen ist und erscheinen wird. Aber die Verleger solcher wert¬
vollen Arbeiten könnte man nur finden, wenn man sie vom Werte wirklich über¬
zeugte. Wie das vor der Veröffentlichung anzustellen, weiß ich nicht.... Es
würde mir gelingen, Hütte ich nicht eine starke Familie und nur allein für mich
zu forgen; ich habe schon schwereres durchgesetzt. Da ich übrigens gegen meine
Erwartung wieder genesen bin, so glaube ich, es liegt in der uns noch unbe¬
kannten Weltordnung, daß meine Arbeit in die Öffentlichkeit dringt. Die ge¬
samte Geschichte der Menschheit weiß nichts Wichtigeres auszuweisen." Dieser
Brief (datirt vom 22. Juli 1869) beweist, daß Weitling damals geistig gestört
gewesen ist. Wenige Jahre später ist er gestorben.*)

Die Lehre Weitlings, das "System der Harmonie und Freiheit," wie er
es nannte, zerfällt feiner inneren Anlage nach in drei Teile: in eine Kritik der
heutigen Gesellschaftsordnung, in eine Schilderung des harmonisch-freien Staats-
wesens und in einen Plan zur Überführung der so herbe kritisirten Gesellschaft
in den idealen Zustand.

Weitling erklärt das Entstehen der heutigen Gesellschaftsordnung in speku-
lativer Weise. Er geht direkt von dem biblischen, paradiesischen Urzustande aus.
den er als die Zeit seligen Glückes für die Menschheit schildert. Das Glück
jener Menschen, welche doch die Annehmlichkeiten des Lebens, wie sie die Zivili¬
sation gewährt, nicht kannten, bestand in der Freiheit und Unabhängigkeit, in
der sie alle lebten. Jeder konnte seine Begierden nach Belieben befriedigen.
Auf die Jagd gehen, esse" und trinken, lieben und spielen waren die Lieblings¬
beschäftigungen des Menschen.



Nicht uninteressant dürfte die Wiedergabe der Schilderung sein, die der Polizei-
Bericht vom Jahre 1SS3 von Weitlings Äußeren entwirft. "Größe: 5 Fuß 7 Zoll Hamburger
Maß. Statur: schlank. Haare: dunkelblond. Stirn: frei. Augenbrauen: blond. Augen:
blau. Nase und Mund: gewöhnlich. Bart: schwnrzbrcmn. Kinn: behaart. Gesicht: oval.
Gesichtsfarbe: gesund."
Lin Vorläufer Lassalles.

Bcfreiungsbnnd" thätig war und die Flugblätter: „Propaganda des Befreiungs¬
bundes" und „Notwendige Maßregeln in der nächsten sozialen Revolution"
veröffentlichte. Im August 1849 kam die Polizei seiner extremen agitatorischen
Thätigkeit auf die Spur, doch gelang es ihm, zu entwischen. Er ging über
England nach Newyork, wo er zunächst die Zeitung „Republik der Arbeiter"
herausgab. Als auch diese ihr Erscheinen einstellen mußte, zog er sich ganz
vom öffentlichen Leben zurück und ergab sich dem alten Handwerk und — astro¬
nomischen Studien. In jenem erfand er angeblich eine Knopflochnühmaschine,
um deren Nutzen er jedoch von einem Kapitalisten betrogen worden sein will.
Das Resultat seiner astronomischen Arbeiten war ein Buch, welches jedoch nicht
veröffentlicht wurde, weil es keinen Verleger finden konnte. „Ich brauchte
schrieb er einem alte» Jugendfreunde von der Leipziger Zeit her — sehr not¬
wendig einen Verleger für meine Astronomie, das wertvollste Buch, das je in
der Welt erschienen ist und erscheinen wird. Aber die Verleger solcher wert¬
vollen Arbeiten könnte man nur finden, wenn man sie vom Werte wirklich über¬
zeugte. Wie das vor der Veröffentlichung anzustellen, weiß ich nicht.... Es
würde mir gelingen, Hütte ich nicht eine starke Familie und nur allein für mich
zu forgen; ich habe schon schwereres durchgesetzt. Da ich übrigens gegen meine
Erwartung wieder genesen bin, so glaube ich, es liegt in der uns noch unbe¬
kannten Weltordnung, daß meine Arbeit in die Öffentlichkeit dringt. Die ge¬
samte Geschichte der Menschheit weiß nichts Wichtigeres auszuweisen." Dieser
Brief (datirt vom 22. Juli 1869) beweist, daß Weitling damals geistig gestört
gewesen ist. Wenige Jahre später ist er gestorben.*)

Die Lehre Weitlings, das „System der Harmonie und Freiheit," wie er
es nannte, zerfällt feiner inneren Anlage nach in drei Teile: in eine Kritik der
heutigen Gesellschaftsordnung, in eine Schilderung des harmonisch-freien Staats-
wesens und in einen Plan zur Überführung der so herbe kritisirten Gesellschaft
in den idealen Zustand.

Weitling erklärt das Entstehen der heutigen Gesellschaftsordnung in speku-
lativer Weise. Er geht direkt von dem biblischen, paradiesischen Urzustande aus.
den er als die Zeit seligen Glückes für die Menschheit schildert. Das Glück
jener Menschen, welche doch die Annehmlichkeiten des Lebens, wie sie die Zivili¬
sation gewährt, nicht kannten, bestand in der Freiheit und Unabhängigkeit, in
der sie alle lebten. Jeder konnte seine Begierden nach Belieben befriedigen.
Auf die Jagd gehen, esse» und trinken, lieben und spielen waren die Lieblings¬
beschäftigungen des Menschen.



Nicht uninteressant dürfte die Wiedergabe der Schilderung sein, die der Polizei-
Bericht vom Jahre 1SS3 von Weitlings Äußeren entwirft. „Größe: 5 Fuß 7 Zoll Hamburger
Maß. Statur: schlank. Haare: dunkelblond. Stirn: frei. Augenbrauen: blond. Augen:
blau. Nase und Mund: gewöhnlich. Bart: schwnrzbrcmn. Kinn: behaart. Gesicht: oval.
Gesichtsfarbe: gesund."
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[0181] Lin Vorläufer Lassalles. Bcfreiungsbnnd" thätig war und die Flugblätter: „Propaganda des Befreiungs¬ bundes" und „Notwendige Maßregeln in der nächsten sozialen Revolution" veröffentlichte. Im August 1849 kam die Polizei seiner extremen agitatorischen Thätigkeit auf die Spur, doch gelang es ihm, zu entwischen. Er ging über England nach Newyork, wo er zunächst die Zeitung „Republik der Arbeiter" herausgab. Als auch diese ihr Erscheinen einstellen mußte, zog er sich ganz vom öffentlichen Leben zurück und ergab sich dem alten Handwerk und — astro¬ nomischen Studien. In jenem erfand er angeblich eine Knopflochnühmaschine, um deren Nutzen er jedoch von einem Kapitalisten betrogen worden sein will. Das Resultat seiner astronomischen Arbeiten war ein Buch, welches jedoch nicht veröffentlicht wurde, weil es keinen Verleger finden konnte. „Ich brauchte schrieb er einem alte» Jugendfreunde von der Leipziger Zeit her — sehr not¬ wendig einen Verleger für meine Astronomie, das wertvollste Buch, das je in der Welt erschienen ist und erscheinen wird. Aber die Verleger solcher wert¬ vollen Arbeiten könnte man nur finden, wenn man sie vom Werte wirklich über¬ zeugte. Wie das vor der Veröffentlichung anzustellen, weiß ich nicht.... Es würde mir gelingen, Hütte ich nicht eine starke Familie und nur allein für mich zu forgen; ich habe schon schwereres durchgesetzt. Da ich übrigens gegen meine Erwartung wieder genesen bin, so glaube ich, es liegt in der uns noch unbe¬ kannten Weltordnung, daß meine Arbeit in die Öffentlichkeit dringt. Die ge¬ samte Geschichte der Menschheit weiß nichts Wichtigeres auszuweisen." Dieser Brief (datirt vom 22. Juli 1869) beweist, daß Weitling damals geistig gestört gewesen ist. Wenige Jahre später ist er gestorben.*) Die Lehre Weitlings, das „System der Harmonie und Freiheit," wie er es nannte, zerfällt feiner inneren Anlage nach in drei Teile: in eine Kritik der heutigen Gesellschaftsordnung, in eine Schilderung des harmonisch-freien Staats- wesens und in einen Plan zur Überführung der so herbe kritisirten Gesellschaft in den idealen Zustand. Weitling erklärt das Entstehen der heutigen Gesellschaftsordnung in speku- lativer Weise. Er geht direkt von dem biblischen, paradiesischen Urzustande aus. den er als die Zeit seligen Glückes für die Menschheit schildert. Das Glück jener Menschen, welche doch die Annehmlichkeiten des Lebens, wie sie die Zivili¬ sation gewährt, nicht kannten, bestand in der Freiheit und Unabhängigkeit, in der sie alle lebten. Jeder konnte seine Begierden nach Belieben befriedigen. Auf die Jagd gehen, esse» und trinken, lieben und spielen waren die Lieblings¬ beschäftigungen des Menschen. Nicht uninteressant dürfte die Wiedergabe der Schilderung sein, die der Polizei- Bericht vom Jahre 1SS3 von Weitlings Äußeren entwirft. „Größe: 5 Fuß 7 Zoll Hamburger Maß. Statur: schlank. Haare: dunkelblond. Stirn: frei. Augenbrauen: blond. Augen: blau. Nase und Mund: gewöhnlich. Bart: schwnrzbrcmn. Kinn: behaart. Gesicht: oval. Gesichtsfarbe: gesund."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/181>, abgerufen am 04.07.2024.