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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Auf der Leiter des Glücks.

Auf halbem Wege begegnete ihnen Hermine mit dem blauen Briefe.

Hier ist mein Ausweisungsdekret, sagte sie.

Thorheit! rief Frau Anna, wenn er kommt, bedürfen wir Ihrer erst recht.

Der Fabrikant hatte das Kouvert aufgerissen. Er kann jeden Augenblick
da sein, sagte er mit bewegter Stimme. Gott sei Dank, das Meer liegt hinter ihm.

Frau Anna fiel ihrem Gatten um den Hals. Sie war eine gottesfürch-
tige Frau. Ja, Gott sei Dank! sagte sie; wir wollen ihn nicht wieder soweit
in die Fremde ziehen lassen. Man soll den Himmel nicht versuchen.

Fräulein von Mockritz stand in Gedanken.

Sie bleiben bei uns, sagte Frau Anna und drückte Herminens Hand.

Auch ich bitte Sie darum, stimmte der Fabrikant bei; er war ganz aus
den Fugen.

Soll ich nicht wenigstens um Mamas Meinung telcgraphiren? fragte Hermine.

Wenn Sie es für nötig halten, fügte sich der Fabrikant, aber sorgen Sie
für eine deutlicher geschriebene Adresse; dieses Telegramm sollte schon gestern
in unsern Händen sein.

Hermine eilte auf ihr Zimmer. Sie hatte Eile, wenn auch nicht wegen
des Telegraphircns.

Lore, sagte sie zu ihrer Jungfer, ich brauche um doch alle meine Kleider;
geschwind! hier sind die Schlüssel zu meinen Schränken drüben in der Villa
Mockritz. Aber über die Moorwiese. Verstehen Sie mich, Lore? Da begegnet
Ihnen niemand.

Lore schürzte sich zum Gehen. Gnädiges Fräulein wollen alle Ihre Kleider
hier haben? wagte sie schüchtern zu fragen, denn es gab deren unzählige.

Natürlich nur alle, die man in dieser Saison anzieht, drängte Hermine.
Also gut: das rehbraune mit den Penseekarreaus, dann das graue Albatroß mit
den bordeauxroten Funken, dann das dunkelgrundige tlsur as dir6, oder nein,
bringen Sie das olivenbraune Kazaröd; und nun sputen Sie sich -- was suchen
Sie? Ihren Sonnenschirm? Mein liebes Kind, Sie vergessen, daß Ihr Teint
in diesem Augenblicke nicht die Hauptsache ist; zuerst nur meine Kleider herbei!

Lore ging. So ungeduldig hatte Fräulein von Mockritz sich noch nie
gegen sie benommen. Ich war wohl zu herrisch, Lore? rief Hermine ihr denn
auch "ach; ja ja, es ist nicht leicht, mit mir umzugehen. Nun, Lore, das
llsur as rll6 sollen Sie haben. So. Ich mag niemandem wehgethan haben.
Und lassen Sie sich meinetwegen auch Zeit, fügte Hermine hinzu, denn plötzlich
fiel ihr ein, daß ihr ja wichtigeres obliege, als sich umzukleiden.

Noch deutlicher hätte es sogar heißen müssen: Kommen Sie nicht eher
wieder, als bis ich selbst zurück sein werde.

In der That hatte Fräulein von Mockritz keinen Augenblick zu verlieren.
Prinz Ottokar pflegte um diese Stunde die Gegend unsicher zu mache", und
wie es, ganz gegen die strenge Weisung ihrer weltklugen Mutter, schon zu jenem


Grenzboten I. 1884. 20
Auf der Leiter des Glücks.

Auf halbem Wege begegnete ihnen Hermine mit dem blauen Briefe.

Hier ist mein Ausweisungsdekret, sagte sie.

Thorheit! rief Frau Anna, wenn er kommt, bedürfen wir Ihrer erst recht.

Der Fabrikant hatte das Kouvert aufgerissen. Er kann jeden Augenblick
da sein, sagte er mit bewegter Stimme. Gott sei Dank, das Meer liegt hinter ihm.

Frau Anna fiel ihrem Gatten um den Hals. Sie war eine gottesfürch-
tige Frau. Ja, Gott sei Dank! sagte sie; wir wollen ihn nicht wieder soweit
in die Fremde ziehen lassen. Man soll den Himmel nicht versuchen.

Fräulein von Mockritz stand in Gedanken.

Sie bleiben bei uns, sagte Frau Anna und drückte Herminens Hand.

Auch ich bitte Sie darum, stimmte der Fabrikant bei; er war ganz aus
den Fugen.

Soll ich nicht wenigstens um Mamas Meinung telcgraphiren? fragte Hermine.

Wenn Sie es für nötig halten, fügte sich der Fabrikant, aber sorgen Sie
für eine deutlicher geschriebene Adresse; dieses Telegramm sollte schon gestern
in unsern Händen sein.

Hermine eilte auf ihr Zimmer. Sie hatte Eile, wenn auch nicht wegen
des Telegraphircns.

Lore, sagte sie zu ihrer Jungfer, ich brauche um doch alle meine Kleider;
geschwind! hier sind die Schlüssel zu meinen Schränken drüben in der Villa
Mockritz. Aber über die Moorwiese. Verstehen Sie mich, Lore? Da begegnet
Ihnen niemand.

Lore schürzte sich zum Gehen. Gnädiges Fräulein wollen alle Ihre Kleider
hier haben? wagte sie schüchtern zu fragen, denn es gab deren unzählige.

Natürlich nur alle, die man in dieser Saison anzieht, drängte Hermine.
Also gut: das rehbraune mit den Penseekarreaus, dann das graue Albatroß mit
den bordeauxroten Funken, dann das dunkelgrundige tlsur as dir6, oder nein,
bringen Sie das olivenbraune Kazaröd; und nun sputen Sie sich — was suchen
Sie? Ihren Sonnenschirm? Mein liebes Kind, Sie vergessen, daß Ihr Teint
in diesem Augenblicke nicht die Hauptsache ist; zuerst nur meine Kleider herbei!

Lore ging. So ungeduldig hatte Fräulein von Mockritz sich noch nie
gegen sie benommen. Ich war wohl zu herrisch, Lore? rief Hermine ihr denn
auch »ach; ja ja, es ist nicht leicht, mit mir umzugehen. Nun, Lore, das
llsur as rll6 sollen Sie haben. So. Ich mag niemandem wehgethan haben.
Und lassen Sie sich meinetwegen auch Zeit, fügte Hermine hinzu, denn plötzlich
fiel ihr ein, daß ihr ja wichtigeres obliege, als sich umzukleiden.

Noch deutlicher hätte es sogar heißen müssen: Kommen Sie nicht eher
wieder, als bis ich selbst zurück sein werde.

In der That hatte Fräulein von Mockritz keinen Augenblick zu verlieren.
Prinz Ottokar pflegte um diese Stunde die Gegend unsicher zu mache», und
wie es, ganz gegen die strenge Weisung ihrer weltklugen Mutter, schon zu jenem


Grenzboten I. 1884. 20
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[0163] Auf der Leiter des Glücks. Auf halbem Wege begegnete ihnen Hermine mit dem blauen Briefe. Hier ist mein Ausweisungsdekret, sagte sie. Thorheit! rief Frau Anna, wenn er kommt, bedürfen wir Ihrer erst recht. Der Fabrikant hatte das Kouvert aufgerissen. Er kann jeden Augenblick da sein, sagte er mit bewegter Stimme. Gott sei Dank, das Meer liegt hinter ihm. Frau Anna fiel ihrem Gatten um den Hals. Sie war eine gottesfürch- tige Frau. Ja, Gott sei Dank! sagte sie; wir wollen ihn nicht wieder soweit in die Fremde ziehen lassen. Man soll den Himmel nicht versuchen. Fräulein von Mockritz stand in Gedanken. Sie bleiben bei uns, sagte Frau Anna und drückte Herminens Hand. Auch ich bitte Sie darum, stimmte der Fabrikant bei; er war ganz aus den Fugen. Soll ich nicht wenigstens um Mamas Meinung telcgraphiren? fragte Hermine. Wenn Sie es für nötig halten, fügte sich der Fabrikant, aber sorgen Sie für eine deutlicher geschriebene Adresse; dieses Telegramm sollte schon gestern in unsern Händen sein. Hermine eilte auf ihr Zimmer. Sie hatte Eile, wenn auch nicht wegen des Telegraphircns. Lore, sagte sie zu ihrer Jungfer, ich brauche um doch alle meine Kleider; geschwind! hier sind die Schlüssel zu meinen Schränken drüben in der Villa Mockritz. Aber über die Moorwiese. Verstehen Sie mich, Lore? Da begegnet Ihnen niemand. Lore schürzte sich zum Gehen. Gnädiges Fräulein wollen alle Ihre Kleider hier haben? wagte sie schüchtern zu fragen, denn es gab deren unzählige. Natürlich nur alle, die man in dieser Saison anzieht, drängte Hermine. Also gut: das rehbraune mit den Penseekarreaus, dann das graue Albatroß mit den bordeauxroten Funken, dann das dunkelgrundige tlsur as dir6, oder nein, bringen Sie das olivenbraune Kazaröd; und nun sputen Sie sich — was suchen Sie? Ihren Sonnenschirm? Mein liebes Kind, Sie vergessen, daß Ihr Teint in diesem Augenblicke nicht die Hauptsache ist; zuerst nur meine Kleider herbei! Lore ging. So ungeduldig hatte Fräulein von Mockritz sich noch nie gegen sie benommen. Ich war wohl zu herrisch, Lore? rief Hermine ihr denn auch »ach; ja ja, es ist nicht leicht, mit mir umzugehen. Nun, Lore, das llsur as rll6 sollen Sie haben. So. Ich mag niemandem wehgethan haben. Und lassen Sie sich meinetwegen auch Zeit, fügte Hermine hinzu, denn plötzlich fiel ihr ein, daß ihr ja wichtigeres obliege, als sich umzukleiden. Noch deutlicher hätte es sogar heißen müssen: Kommen Sie nicht eher wieder, als bis ich selbst zurück sein werde. In der That hatte Fräulein von Mockritz keinen Augenblick zu verlieren. Prinz Ottokar pflegte um diese Stunde die Gegend unsicher zu mache», und wie es, ganz gegen die strenge Weisung ihrer weltklugen Mutter, schon zu jenem Grenzboten I. 1884. 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/163>, abgerufen am 25.08.2024.