Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Unser Muchergesetz.

"MMNöL^"^
WMni Gelegenheit der Beratung des landwirtschaftlichen Etats im preu¬
ßischen Landtage wurde auch die Wucherfragc gestreift, allein von
einer sachlichen Diskussion war keine Rede, vielmehr gab sie nur
dem Führer der Antisemiten und seineu Gegnern eine vom Zaun
gebrochene Gelegenheit zu persönlichen Invektiven. Das ist um
der Sache selbst willen zu bedauern. Auf einen ernsthaften Statistiker muß es
einen geradezu lächerlichen Eindruck machen, daß die Ergebnisse der preußischen
Kriminalstatistik für das Jahr 1881 in ihren Bemerkungen über den Wucher
zur Erörterung der Frage benutzt wurden, ob verhältnismäßig mehr Juden oder
mehr Christen an diesem saubern Gewerbe beteiligt seien. Wie viel Wucherfälle
zur Kenntnis der Behörden gelangt sind, darüber giebt jene Statistik überhaupt
keine Auskunft, sie behandelt bloß die Zahl der Angeklagten. Nun wird man
zugeben, daß bei einer Bevölkerung von mehr als 25 Millionen Einwohnern,
von denen 309 879 Personen überhaupt wegen strafbarer Handlungen verfolgt und
269 654 Personen verurteilt worden sind, die wegen Wuchers und Darlehngebens
an Minderjährige 32 verurteilten und 44 freigesprochenen Angeklagten kein
genügendes statistisches Substrat bilden. Wenn sich min unter diesen Verur¬
teilten 16 Protestanten, 7 Katholiken und 5 Juden befinden, so sind diese Zahlen
an sich so unbedeutend und so verschwindend, daß ein ernster Mann wahrlich
aus diesen Zifferchen keine Schlüsse für die Beteiligung der Konfessionen ziehen
wird, denn wenn man konsequent sein will und auf Grund dieser Zahlen weiter
forscht, so kann man z. B. in einzelnen Oberlandesgerichtsbezirlcn zwei Verur¬
teilte finden, von denen einer Jude und einer Christ war, und muß daraus
schließen, daß in diesem 50 Prozent Juden und 50 Prozent Christen bei dem
Wucher beteiligt waren -- ganz abgesehen davon, daß es, wie wir hundertmal
auseinandergesetzt haben, nicht die Konfession ist, welche den Juden macht oder
aufhebt. Dagegen bieten diese Zahlen zu ernsteren Erwägungen genügenden Grund,
besonders wenn man sie mit den Resultaten der deutschen Kriminalstatistik für
das Jahr 1882 vergleicht, soweit diese schon jetzt gedruckt vorliegt. Im ganzen
deutschen Reiche kamen im Jahre 1882 wegen Wuchers nur 261 Fälle zur ge¬
richtlichen Verfolgung, darunter endigten 153 mit einer Verurteilung und 108
mit einer Freisprechung; angeklagt waren im ganzen 176 Personen, von denen
98 verurteilt und 78 freigesprochen wurden. Niemand wird leugnen können,
daß ein großer Teil unsrer Bevölkerung, und namentlich der ländlichen, vom
Wucher schwer bedrückt wird. Dies ergeben nicht nur die schon mehrfach be¬
sprochenen Veröffentlichungen des Vereins für Sozialpolitik über die bäuerlichen


Unser Muchergesetz.

»MMNöL^»^
WMni Gelegenheit der Beratung des landwirtschaftlichen Etats im preu¬
ßischen Landtage wurde auch die Wucherfragc gestreift, allein von
einer sachlichen Diskussion war keine Rede, vielmehr gab sie nur
dem Führer der Antisemiten und seineu Gegnern eine vom Zaun
gebrochene Gelegenheit zu persönlichen Invektiven. Das ist um
der Sache selbst willen zu bedauern. Auf einen ernsthaften Statistiker muß es
einen geradezu lächerlichen Eindruck machen, daß die Ergebnisse der preußischen
Kriminalstatistik für das Jahr 1881 in ihren Bemerkungen über den Wucher
zur Erörterung der Frage benutzt wurden, ob verhältnismäßig mehr Juden oder
mehr Christen an diesem saubern Gewerbe beteiligt seien. Wie viel Wucherfälle
zur Kenntnis der Behörden gelangt sind, darüber giebt jene Statistik überhaupt
keine Auskunft, sie behandelt bloß die Zahl der Angeklagten. Nun wird man
zugeben, daß bei einer Bevölkerung von mehr als 25 Millionen Einwohnern,
von denen 309 879 Personen überhaupt wegen strafbarer Handlungen verfolgt und
269 654 Personen verurteilt worden sind, die wegen Wuchers und Darlehngebens
an Minderjährige 32 verurteilten und 44 freigesprochenen Angeklagten kein
genügendes statistisches Substrat bilden. Wenn sich min unter diesen Verur¬
teilten 16 Protestanten, 7 Katholiken und 5 Juden befinden, so sind diese Zahlen
an sich so unbedeutend und so verschwindend, daß ein ernster Mann wahrlich
aus diesen Zifferchen keine Schlüsse für die Beteiligung der Konfessionen ziehen
wird, denn wenn man konsequent sein will und auf Grund dieser Zahlen weiter
forscht, so kann man z. B. in einzelnen Oberlandesgerichtsbezirlcn zwei Verur¬
teilte finden, von denen einer Jude und einer Christ war, und muß daraus
schließen, daß in diesem 50 Prozent Juden und 50 Prozent Christen bei dem
Wucher beteiligt waren — ganz abgesehen davon, daß es, wie wir hundertmal
auseinandergesetzt haben, nicht die Konfession ist, welche den Juden macht oder
aufhebt. Dagegen bieten diese Zahlen zu ernsteren Erwägungen genügenden Grund,
besonders wenn man sie mit den Resultaten der deutschen Kriminalstatistik für
das Jahr 1882 vergleicht, soweit diese schon jetzt gedruckt vorliegt. Im ganzen
deutschen Reiche kamen im Jahre 1882 wegen Wuchers nur 261 Fälle zur ge¬
richtlichen Verfolgung, darunter endigten 153 mit einer Verurteilung und 108
mit einer Freisprechung; angeklagt waren im ganzen 176 Personen, von denen
98 verurteilt und 78 freigesprochen wurden. Niemand wird leugnen können,
daß ein großer Teil unsrer Bevölkerung, und namentlich der ländlichen, vom
Wucher schwer bedrückt wird. Dies ergeben nicht nur die schon mehrfach be¬
sprochenen Veröffentlichungen des Vereins für Sozialpolitik über die bäuerlichen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0016" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154899"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Unser Muchergesetz.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_24" next="#ID_25"> »MMNöL^»^<lb/>
WMni Gelegenheit der Beratung des landwirtschaftlichen Etats im preu¬<lb/>
ßischen Landtage wurde auch die Wucherfragc gestreift, allein von<lb/>
einer sachlichen Diskussion war keine Rede, vielmehr gab sie nur<lb/>
dem Führer der Antisemiten und seineu Gegnern eine vom Zaun<lb/>
gebrochene Gelegenheit zu persönlichen Invektiven. Das ist um<lb/>
der Sache selbst willen zu bedauern. Auf einen ernsthaften Statistiker muß es<lb/>
einen geradezu lächerlichen Eindruck machen, daß die Ergebnisse der preußischen<lb/>
Kriminalstatistik für das Jahr 1881 in ihren Bemerkungen über den Wucher<lb/>
zur Erörterung der Frage benutzt wurden, ob verhältnismäßig mehr Juden oder<lb/>
mehr Christen an diesem saubern Gewerbe beteiligt seien. Wie viel Wucherfälle<lb/>
zur Kenntnis der Behörden gelangt sind, darüber giebt jene Statistik überhaupt<lb/>
keine Auskunft, sie behandelt bloß die Zahl der Angeklagten. Nun wird man<lb/>
zugeben, daß bei einer Bevölkerung von mehr als 25 Millionen Einwohnern,<lb/>
von denen 309 879 Personen überhaupt wegen strafbarer Handlungen verfolgt und<lb/>
269 654 Personen verurteilt worden sind, die wegen Wuchers und Darlehngebens<lb/>
an Minderjährige 32 verurteilten und 44 freigesprochenen Angeklagten kein<lb/>
genügendes statistisches Substrat bilden. Wenn sich min unter diesen Verur¬<lb/>
teilten 16 Protestanten, 7 Katholiken und 5 Juden befinden, so sind diese Zahlen<lb/>
an sich so unbedeutend und so verschwindend, daß ein ernster Mann wahrlich<lb/>
aus diesen Zifferchen keine Schlüsse für die Beteiligung der Konfessionen ziehen<lb/>
wird, denn wenn man konsequent sein will und auf Grund dieser Zahlen weiter<lb/>
forscht, so kann man z. B. in einzelnen Oberlandesgerichtsbezirlcn zwei Verur¬<lb/>
teilte finden, von denen einer Jude und einer Christ war, und muß daraus<lb/>
schließen, daß in diesem 50 Prozent Juden und 50 Prozent Christen bei dem<lb/>
Wucher beteiligt waren &#x2014; ganz abgesehen davon, daß es, wie wir hundertmal<lb/>
auseinandergesetzt haben, nicht die Konfession ist, welche den Juden macht oder<lb/>
aufhebt. Dagegen bieten diese Zahlen zu ernsteren Erwägungen genügenden Grund,<lb/>
besonders wenn man sie mit den Resultaten der deutschen Kriminalstatistik für<lb/>
das Jahr 1882 vergleicht, soweit diese schon jetzt gedruckt vorliegt. Im ganzen<lb/>
deutschen Reiche kamen im Jahre 1882 wegen Wuchers nur 261 Fälle zur ge¬<lb/>
richtlichen Verfolgung, darunter endigten 153 mit einer Verurteilung und 108<lb/>
mit einer Freisprechung; angeklagt waren im ganzen 176 Personen, von denen<lb/>
98 verurteilt und 78 freigesprochen wurden. Niemand wird leugnen können,<lb/>
daß ein großer Teil unsrer Bevölkerung, und namentlich der ländlichen, vom<lb/>
Wucher schwer bedrückt wird. Dies ergeben nicht nur die schon mehrfach be¬<lb/>
sprochenen Veröffentlichungen des Vereins für Sozialpolitik über die bäuerlichen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0016] Unser Muchergesetz. »MMNöL^»^ WMni Gelegenheit der Beratung des landwirtschaftlichen Etats im preu¬ ßischen Landtage wurde auch die Wucherfragc gestreift, allein von einer sachlichen Diskussion war keine Rede, vielmehr gab sie nur dem Führer der Antisemiten und seineu Gegnern eine vom Zaun gebrochene Gelegenheit zu persönlichen Invektiven. Das ist um der Sache selbst willen zu bedauern. Auf einen ernsthaften Statistiker muß es einen geradezu lächerlichen Eindruck machen, daß die Ergebnisse der preußischen Kriminalstatistik für das Jahr 1881 in ihren Bemerkungen über den Wucher zur Erörterung der Frage benutzt wurden, ob verhältnismäßig mehr Juden oder mehr Christen an diesem saubern Gewerbe beteiligt seien. Wie viel Wucherfälle zur Kenntnis der Behörden gelangt sind, darüber giebt jene Statistik überhaupt keine Auskunft, sie behandelt bloß die Zahl der Angeklagten. Nun wird man zugeben, daß bei einer Bevölkerung von mehr als 25 Millionen Einwohnern, von denen 309 879 Personen überhaupt wegen strafbarer Handlungen verfolgt und 269 654 Personen verurteilt worden sind, die wegen Wuchers und Darlehngebens an Minderjährige 32 verurteilten und 44 freigesprochenen Angeklagten kein genügendes statistisches Substrat bilden. Wenn sich min unter diesen Verur¬ teilten 16 Protestanten, 7 Katholiken und 5 Juden befinden, so sind diese Zahlen an sich so unbedeutend und so verschwindend, daß ein ernster Mann wahrlich aus diesen Zifferchen keine Schlüsse für die Beteiligung der Konfessionen ziehen wird, denn wenn man konsequent sein will und auf Grund dieser Zahlen weiter forscht, so kann man z. B. in einzelnen Oberlandesgerichtsbezirlcn zwei Verur¬ teilte finden, von denen einer Jude und einer Christ war, und muß daraus schließen, daß in diesem 50 Prozent Juden und 50 Prozent Christen bei dem Wucher beteiligt waren — ganz abgesehen davon, daß es, wie wir hundertmal auseinandergesetzt haben, nicht die Konfession ist, welche den Juden macht oder aufhebt. Dagegen bieten diese Zahlen zu ernsteren Erwägungen genügenden Grund, besonders wenn man sie mit den Resultaten der deutschen Kriminalstatistik für das Jahr 1882 vergleicht, soweit diese schon jetzt gedruckt vorliegt. Im ganzen deutschen Reiche kamen im Jahre 1882 wegen Wuchers nur 261 Fälle zur ge¬ richtlichen Verfolgung, darunter endigten 153 mit einer Verurteilung und 108 mit einer Freisprechung; angeklagt waren im ganzen 176 Personen, von denen 98 verurteilt und 78 freigesprochen wurden. Niemand wird leugnen können, daß ein großer Teil unsrer Bevölkerung, und namentlich der ländlichen, vom Wucher schwer bedrückt wird. Dies ergeben nicht nur die schon mehrfach be¬ sprochenen Veröffentlichungen des Vereins für Sozialpolitik über die bäuerlichen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/16
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/16>, abgerufen am 04.07.2024.