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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die Schwurgerichtsverhandlimg gegen Dickhoff.

die Brust, an welcher Verletzung Neumann nach wenigen Tagen starb. Die An¬
klage lautete auf Totschlag; das Schwurgericht sprach die Angeklagte frei.

3. Die unverehelichte Bertha Ernestine H. hatte ein Liebesverhältnis mit
dem Architekten Hummel in Berlin unterhalten. Nachdem dieses Verhältnis
gelöst worden war und Hummel sich verheiratet hatte, drohte die unverehelichte
H. demselben mündlich und brieflich, daß sie sich rächen, insbesondere "daß sie
ihm und seiner Frau die Augen mit Oleum verbrennen werde." Am 23. Mai
1882 abends zehn Uhr ging Hummel über die Belleallicmce-Brücke in Berlin;
plötzlich trat die unverehelichte H. auf ihn zu und goß ihm den Inhalt einer
Flasche ins Gesicht; Hummel verschied an den erlittenen Brandwunden nach
anderthalb Tagen. Die H. erklärte bei ihrer ersten Vernehmung, daß sie seit
Jahren diese Rache geplant und die Handlung zu diesem Zwecke verübt habe.
Die Anklage lautete auf vorsätzliche Körperverletzung mit tötlichen Ausgange.
Die Geschworenen sprachen die Angeklagte frei.

Man wird, namentlich als Jurist, kein definitives Urteil über diese Ent¬
scheidungen fällen, ohne den Verhandlungen beigewohnt zu haben; indessen hat
man dazu genau soviel Recht wie bezüglich des Dickhoffscheu Falles, und wer
sich gestattet, diesen zu Gunsten der schwurgerichtiichen "Rechtspflege" ins Feld
zu führen, wird sich gefallen lassen müssen, daß ihm jene Fälle zu Ungunsten
derselben entgegengehalten werden, ohne daß man hier, wie dort, seine Ansicht
auf Grund der Verhandlung selbst geschöpft hat. Übrigens wäre der Verfasser
auch in der Lage, unter Berufung auf letztern Umstand, und insofern mit besserer
Fachlegitimation, eine große Anzahl zweifelloser Fehlsprüche der Schwurgerichte
aus eigner Praxis nachzuweisen; doch verzichtet er sür jetzt hierauf. Überhaupt
wäre ein Angriff auf das Institut der Schwurgerichte einer vielbändigen Be¬
gründung fähig und würdig, denn der Schaden, den diese "unbewußte" Recht¬
sprechung auf Grund des "lebenden Rechtsbewußtseins des Volkes" fortwährend
anrichtet, ist unberechenbar. Hier sollte darauf nicht weiter eingegangen, es sollte
nur gezeigt werden, daß es nach verschiednen Richtungen hin verfehlt und höchst
ungeschickt war, gerade den Dickhvffschen Fall zu einer Verherrlichung des
Schwurgerichtsverfayrens verwenden zu wollen, wozu derselbe schlechterdings
nicht geeignet ist.




Die Schwurgerichtsverhandlimg gegen Dickhoff.

die Brust, an welcher Verletzung Neumann nach wenigen Tagen starb. Die An¬
klage lautete auf Totschlag; das Schwurgericht sprach die Angeklagte frei.

3. Die unverehelichte Bertha Ernestine H. hatte ein Liebesverhältnis mit
dem Architekten Hummel in Berlin unterhalten. Nachdem dieses Verhältnis
gelöst worden war und Hummel sich verheiratet hatte, drohte die unverehelichte
H. demselben mündlich und brieflich, daß sie sich rächen, insbesondere „daß sie
ihm und seiner Frau die Augen mit Oleum verbrennen werde." Am 23. Mai
1882 abends zehn Uhr ging Hummel über die Belleallicmce-Brücke in Berlin;
plötzlich trat die unverehelichte H. auf ihn zu und goß ihm den Inhalt einer
Flasche ins Gesicht; Hummel verschied an den erlittenen Brandwunden nach
anderthalb Tagen. Die H. erklärte bei ihrer ersten Vernehmung, daß sie seit
Jahren diese Rache geplant und die Handlung zu diesem Zwecke verübt habe.
Die Anklage lautete auf vorsätzliche Körperverletzung mit tötlichen Ausgange.
Die Geschworenen sprachen die Angeklagte frei.

Man wird, namentlich als Jurist, kein definitives Urteil über diese Ent¬
scheidungen fällen, ohne den Verhandlungen beigewohnt zu haben; indessen hat
man dazu genau soviel Recht wie bezüglich des Dickhoffscheu Falles, und wer
sich gestattet, diesen zu Gunsten der schwurgerichtiichen „Rechtspflege" ins Feld
zu führen, wird sich gefallen lassen müssen, daß ihm jene Fälle zu Ungunsten
derselben entgegengehalten werden, ohne daß man hier, wie dort, seine Ansicht
auf Grund der Verhandlung selbst geschöpft hat. Übrigens wäre der Verfasser
auch in der Lage, unter Berufung auf letztern Umstand, und insofern mit besserer
Fachlegitimation, eine große Anzahl zweifelloser Fehlsprüche der Schwurgerichte
aus eigner Praxis nachzuweisen; doch verzichtet er sür jetzt hierauf. Überhaupt
wäre ein Angriff auf das Institut der Schwurgerichte einer vielbändigen Be¬
gründung fähig und würdig, denn der Schaden, den diese „unbewußte" Recht¬
sprechung auf Grund des „lebenden Rechtsbewußtseins des Volkes" fortwährend
anrichtet, ist unberechenbar. Hier sollte darauf nicht weiter eingegangen, es sollte
nur gezeigt werden, daß es nach verschiednen Richtungen hin verfehlt und höchst
ungeschickt war, gerade den Dickhvffschen Fall zu einer Verherrlichung des
Schwurgerichtsverfayrens verwenden zu wollen, wozu derselbe schlechterdings
nicht geeignet ist.




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[0133] Die Schwurgerichtsverhandlimg gegen Dickhoff. die Brust, an welcher Verletzung Neumann nach wenigen Tagen starb. Die An¬ klage lautete auf Totschlag; das Schwurgericht sprach die Angeklagte frei. 3. Die unverehelichte Bertha Ernestine H. hatte ein Liebesverhältnis mit dem Architekten Hummel in Berlin unterhalten. Nachdem dieses Verhältnis gelöst worden war und Hummel sich verheiratet hatte, drohte die unverehelichte H. demselben mündlich und brieflich, daß sie sich rächen, insbesondere „daß sie ihm und seiner Frau die Augen mit Oleum verbrennen werde." Am 23. Mai 1882 abends zehn Uhr ging Hummel über die Belleallicmce-Brücke in Berlin; plötzlich trat die unverehelichte H. auf ihn zu und goß ihm den Inhalt einer Flasche ins Gesicht; Hummel verschied an den erlittenen Brandwunden nach anderthalb Tagen. Die H. erklärte bei ihrer ersten Vernehmung, daß sie seit Jahren diese Rache geplant und die Handlung zu diesem Zwecke verübt habe. Die Anklage lautete auf vorsätzliche Körperverletzung mit tötlichen Ausgange. Die Geschworenen sprachen die Angeklagte frei. Man wird, namentlich als Jurist, kein definitives Urteil über diese Ent¬ scheidungen fällen, ohne den Verhandlungen beigewohnt zu haben; indessen hat man dazu genau soviel Recht wie bezüglich des Dickhoffscheu Falles, und wer sich gestattet, diesen zu Gunsten der schwurgerichtiichen „Rechtspflege" ins Feld zu führen, wird sich gefallen lassen müssen, daß ihm jene Fälle zu Ungunsten derselben entgegengehalten werden, ohne daß man hier, wie dort, seine Ansicht auf Grund der Verhandlung selbst geschöpft hat. Übrigens wäre der Verfasser auch in der Lage, unter Berufung auf letztern Umstand, und insofern mit besserer Fachlegitimation, eine große Anzahl zweifelloser Fehlsprüche der Schwurgerichte aus eigner Praxis nachzuweisen; doch verzichtet er sür jetzt hierauf. Überhaupt wäre ein Angriff auf das Institut der Schwurgerichte einer vielbändigen Be¬ gründung fähig und würdig, denn der Schaden, den diese „unbewußte" Recht¬ sprechung auf Grund des „lebenden Rechtsbewußtseins des Volkes" fortwährend anrichtet, ist unberechenbar. Hier sollte darauf nicht weiter eingegangen, es sollte nur gezeigt werden, daß es nach verschiednen Richtungen hin verfehlt und höchst ungeschickt war, gerade den Dickhvffschen Fall zu einer Verherrlichung des Schwurgerichtsverfayrens verwenden zu wollen, wozu derselbe schlechterdings nicht geeignet ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/133>, abgerufen am 22.07.2024.