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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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La wort an die Presse.

Recht verteidigen und werden das umso wirksamer thun, wenn sie sich nicht
gleichzeitig zu Anwälten des journalistischen Freibeuter- und Rowdytums her¬
geben. Dieses, welcher Farbe immer es Unehre bringen mag, muß gebändigt
werden, wenn nicht unser öffentliches Leben gänzlich verrohen soll, das ist offen¬
bar, und niemand wird von den Folgen jenes Treibens unmittelbarer berührt
als die ernste, anständige Publizistik, deren Angehörige längst empfunden haben
müssen, das; die gebildete Gesellschaft mehr und mehr eine Mauer zieht
zwischen sich und allem, was mit der Presse zusammenhängt. Die
Mittel zu suchen, welche Abhilfe schaffen können, ohne das freie Wort zu be¬
schränken, müssen wir uns alle angelegen sein lassen. Und es giebt solche Mittel.

Vor allem werfen wir die hohlen Phrasen entschlossen über Bord, welche
uns soviele Jahrzehnte lang über die Bedeutung der Presse im Staate vorgeredet
worden sind. Wenn dieselben die Wahrheit ausdrückten, so bedürften wir keiner
Regierung, keiner Verfassung, keiner Justiz, keiner Kirche, keines Sittengesetzes,
vor allem keiner Armee: alles würde die freie Presse besorgen, richten und
schlichten. Was das Sittenrichteramt der Presse betrifft, wollen wir einen
Mann sprechen lassen, dessen Autorität, soviel wir wissen, auch im Lager der
Radikalen unangefochten ist. "Welcker hat die freie Presse als die einzig mög¬
liche Sittenzensur der neuen Zeit erklärt. Auch wir find der Ansicht, daß eine
wirkliche freie Presse einigen Ersatz für den Mangel der Institution biete. Aber
wo diese Freiheit entweder nicht oder nur zum Scheine geübt wird, fällt auch
dieser Ersatz weg; und selbst wo sie geübt wird, reicht sie nicht aus, um jene
Lücke zu decken. Teils ist die Presse meistens ein sehr parteiischer Sittenrichter
-- die besten Zeitungen sind Parteiorgane und sind ebenso freigebig im Lob ihrer
Freunde wie tadelsüchtig gegen ihre Feinde --; teils ist das Wesen der ^Sitten->
Zensur staatliche Autorität, welche der Presse gänzlich abgeht." So schrieb
I. C. Bluntschli im Jahre 1857, und er konnte auf Grund persönlicher Er-
fahrung sprechen, denn der nachher auf Juristen-, Abgeordneten- und Prote¬
stantentagen Vielgefcierte gehörte zu den meistgeschmähten, als er es gewagt
hatte, dem Züricher Radikalismus entgegenzutreten und den kommunistischen
Schneidergesellen den Daumen aufs Auge zu drücken. Ob die Entwicklung der
Presse in den letzten fünfundzwanzig Jahren ihn wohl heute bestimmen würde,
den damaligen Ausspruch zurückzunehmen? Jene Sittenzensur, für welche er
sogar den besten Zeitungen den Beruf bestritt, maßen sich bekanntlich die schlechtesten
mit größter Dreistigkeit an.

Im besondern verweisen wir die Meinung, daß der Schaden, welchen die
freie Presse etwa verursachen könne, von ihr selbst wieder gutgemacht werde, in
das Reich des Aberglaubens. Nur Gedankenlosigkeit kann das beliebte Bild
vom Speer des Achill immer aufs neue vorbringe". Selbst wenn die Verleum¬
dung in einer so direkten Form auftritt, daß der Verleumdete einen Widerruf
zu erzwingen vermag, weiß die journalistische Praxis den letztern so zu ver-


La wort an die Presse.

Recht verteidigen und werden das umso wirksamer thun, wenn sie sich nicht
gleichzeitig zu Anwälten des journalistischen Freibeuter- und Rowdytums her¬
geben. Dieses, welcher Farbe immer es Unehre bringen mag, muß gebändigt
werden, wenn nicht unser öffentliches Leben gänzlich verrohen soll, das ist offen¬
bar, und niemand wird von den Folgen jenes Treibens unmittelbarer berührt
als die ernste, anständige Publizistik, deren Angehörige längst empfunden haben
müssen, das; die gebildete Gesellschaft mehr und mehr eine Mauer zieht
zwischen sich und allem, was mit der Presse zusammenhängt. Die
Mittel zu suchen, welche Abhilfe schaffen können, ohne das freie Wort zu be¬
schränken, müssen wir uns alle angelegen sein lassen. Und es giebt solche Mittel.

Vor allem werfen wir die hohlen Phrasen entschlossen über Bord, welche
uns soviele Jahrzehnte lang über die Bedeutung der Presse im Staate vorgeredet
worden sind. Wenn dieselben die Wahrheit ausdrückten, so bedürften wir keiner
Regierung, keiner Verfassung, keiner Justiz, keiner Kirche, keines Sittengesetzes,
vor allem keiner Armee: alles würde die freie Presse besorgen, richten und
schlichten. Was das Sittenrichteramt der Presse betrifft, wollen wir einen
Mann sprechen lassen, dessen Autorität, soviel wir wissen, auch im Lager der
Radikalen unangefochten ist. „Welcker hat die freie Presse als die einzig mög¬
liche Sittenzensur der neuen Zeit erklärt. Auch wir find der Ansicht, daß eine
wirkliche freie Presse einigen Ersatz für den Mangel der Institution biete. Aber
wo diese Freiheit entweder nicht oder nur zum Scheine geübt wird, fällt auch
dieser Ersatz weg; und selbst wo sie geübt wird, reicht sie nicht aus, um jene
Lücke zu decken. Teils ist die Presse meistens ein sehr parteiischer Sittenrichter
— die besten Zeitungen sind Parteiorgane und sind ebenso freigebig im Lob ihrer
Freunde wie tadelsüchtig gegen ihre Feinde —; teils ist das Wesen der ^Sitten->
Zensur staatliche Autorität, welche der Presse gänzlich abgeht." So schrieb
I. C. Bluntschli im Jahre 1857, und er konnte auf Grund persönlicher Er-
fahrung sprechen, denn der nachher auf Juristen-, Abgeordneten- und Prote¬
stantentagen Vielgefcierte gehörte zu den meistgeschmähten, als er es gewagt
hatte, dem Züricher Radikalismus entgegenzutreten und den kommunistischen
Schneidergesellen den Daumen aufs Auge zu drücken. Ob die Entwicklung der
Presse in den letzten fünfundzwanzig Jahren ihn wohl heute bestimmen würde,
den damaligen Ausspruch zurückzunehmen? Jene Sittenzensur, für welche er
sogar den besten Zeitungen den Beruf bestritt, maßen sich bekanntlich die schlechtesten
mit größter Dreistigkeit an.

Im besondern verweisen wir die Meinung, daß der Schaden, welchen die
freie Presse etwa verursachen könne, von ihr selbst wieder gutgemacht werde, in
das Reich des Aberglaubens. Nur Gedankenlosigkeit kann das beliebte Bild
vom Speer des Achill immer aufs neue vorbringe«. Selbst wenn die Verleum¬
dung in einer so direkten Form auftritt, daß der Verleumdete einen Widerruf
zu erzwingen vermag, weiß die journalistische Praxis den letztern so zu ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/13>, abgerufen am 03.07.2024.