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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Frieden5aussichten.

Leben und der Nationalwohlstand nicht viel verloren. Heutzutage sind die Massen,
welche wehrpflichtig sind, so ungeheuer, daß man nicht übertreibt, wenn man
sagt, die Aufgabe, als Soldat zu dienen, sei im größten Teile Europas das Loos
mindestens der Hälfte aller wehrfähigen Männer. So tritt der Krieg in jede
Werkstatt, an jeden Herd, in Hütte und Palast, so stört er mit seinen Forderungen
jede Arbeit lind jedes Geschäft, so verschont er keinen Stand und keinen Erwerb.
Neben den geringen Elementen der Bevölkerung nimmt er auch die besten und
für das wirtschaftliche Gedeihen der betreffenden Nationen wichtigsten rücksichts¬
los in Anspruch. Ebenso wird er in andrer Beziehung allgemeiner empfunden
als früher. Die heutigen Heere kosten wegen ihrer besseren Ausrüstung und
Versorgung in einer Woche mehr, als die Armeen, mit denen Prinz Eugen,
Marlborough und die Generale Ludwigs des Vierzehnten ins Feld rückten, in
einem ganzen Jahre an Geld verschlangen, und die Folge ist, obwohl unsre
Kriege meist einen kürzeren Verlauf haben als die in unsrer Großväter Tagen,
daß jeder Staat eine schwere Steuerlast zu tragen hat. In der That, man
mochte behaupten, daß es jetzt kostspieliger sei, den Frieden zu erhalten, als es
im vorigen Jahrhundert war, Krieg zu führen.

Die einzige Hoffnung bei diesem unerfreulichen Zustande liegt darin, daß
die hier angeführten Thatsachen sich seit 1871 den Regierungen nud Völkern
zum Bewußtsein gebracht haben. Eine solche Herausforderung, wie sie 1870
Napoleon der Dritte wagte, als er, von Ehrgeiz, Selbsterhaltungstrieb und
-- nicht am wenigsten -- von seiner jesuitischen Umgebung bewogen. dem König
Wilhelm und mit ihm der deutschen Nation den Fehdehandschuh hinwarf, wird
sicherlich eine lange Zeit nicht wieder in die Bücher der Geschichte zu verzeichnen
ssin. Man kann einwerfen, daß das Vorgehen Rußlands im Jahre 1877
gezeigt habe, daß die Lektion von Sedan in ihrer Wirkung nicht lange vorge¬
halten habe. Dabei würde man aber vergessen, daß dies ein Krieg war, den
nicht sowohl ein Kabinet, das aus eignem Entschlüsse handelte, als ein Herrscher
unternahm, welcher mehr oder minder von der unruhigen nationalen und reli¬
giösen Eroberungssucht seines Volkes dazu gedrängt wurde. Der Zar trug
übrigens dabei Sorge, sich die Flanken durch ein Bündnis oder wenigstens eine
Verständigung mit Österreich- Ungarn und Deutschland zu decken, er hielt ferner
die Türkei für eine Macht dritten Ranges, und er meinte endlich, dieselbe werde
bis zu Ende ohne Hilfe von auswärts bleiben. Halb machte damals Nußland
den Krieg, halb wurde es hineingetrieben, und es erscheint mindestens sehr un-
wahrscheinlich, daß eine Großmacht heute oder morgen wagen werde, einer andern
in so hitziger und schlecht überlegter Weise eine Herausforderung zuzuschleuderu
wie die vom Juli 1870.

Wäre ein solches Vorgehen wahrscheinlich, so könnte man es am ersten
von Berlin her erwarten -- d. h. wenn man mit der dort herrschenden Gesinnung
unbekannt wäre und nur auf die dort zu Gebote stehenden Machtmittel sähe.


Frieden5aussichten.

Leben und der Nationalwohlstand nicht viel verloren. Heutzutage sind die Massen,
welche wehrpflichtig sind, so ungeheuer, daß man nicht übertreibt, wenn man
sagt, die Aufgabe, als Soldat zu dienen, sei im größten Teile Europas das Loos
mindestens der Hälfte aller wehrfähigen Männer. So tritt der Krieg in jede
Werkstatt, an jeden Herd, in Hütte und Palast, so stört er mit seinen Forderungen
jede Arbeit lind jedes Geschäft, so verschont er keinen Stand und keinen Erwerb.
Neben den geringen Elementen der Bevölkerung nimmt er auch die besten und
für das wirtschaftliche Gedeihen der betreffenden Nationen wichtigsten rücksichts¬
los in Anspruch. Ebenso wird er in andrer Beziehung allgemeiner empfunden
als früher. Die heutigen Heere kosten wegen ihrer besseren Ausrüstung und
Versorgung in einer Woche mehr, als die Armeen, mit denen Prinz Eugen,
Marlborough und die Generale Ludwigs des Vierzehnten ins Feld rückten, in
einem ganzen Jahre an Geld verschlangen, und die Folge ist, obwohl unsre
Kriege meist einen kürzeren Verlauf haben als die in unsrer Großväter Tagen,
daß jeder Staat eine schwere Steuerlast zu tragen hat. In der That, man
mochte behaupten, daß es jetzt kostspieliger sei, den Frieden zu erhalten, als es
im vorigen Jahrhundert war, Krieg zu führen.

Die einzige Hoffnung bei diesem unerfreulichen Zustande liegt darin, daß
die hier angeführten Thatsachen sich seit 1871 den Regierungen nud Völkern
zum Bewußtsein gebracht haben. Eine solche Herausforderung, wie sie 1870
Napoleon der Dritte wagte, als er, von Ehrgeiz, Selbsterhaltungstrieb und
— nicht am wenigsten — von seiner jesuitischen Umgebung bewogen. dem König
Wilhelm und mit ihm der deutschen Nation den Fehdehandschuh hinwarf, wird
sicherlich eine lange Zeit nicht wieder in die Bücher der Geschichte zu verzeichnen
ssin. Man kann einwerfen, daß das Vorgehen Rußlands im Jahre 1877
gezeigt habe, daß die Lektion von Sedan in ihrer Wirkung nicht lange vorge¬
halten habe. Dabei würde man aber vergessen, daß dies ein Krieg war, den
nicht sowohl ein Kabinet, das aus eignem Entschlüsse handelte, als ein Herrscher
unternahm, welcher mehr oder minder von der unruhigen nationalen und reli¬
giösen Eroberungssucht seines Volkes dazu gedrängt wurde. Der Zar trug
übrigens dabei Sorge, sich die Flanken durch ein Bündnis oder wenigstens eine
Verständigung mit Österreich- Ungarn und Deutschland zu decken, er hielt ferner
die Türkei für eine Macht dritten Ranges, und er meinte endlich, dieselbe werde
bis zu Ende ohne Hilfe von auswärts bleiben. Halb machte damals Nußland
den Krieg, halb wurde es hineingetrieben, und es erscheint mindestens sehr un-
wahrscheinlich, daß eine Großmacht heute oder morgen wagen werde, einer andern
in so hitziger und schlecht überlegter Weise eine Herausforderung zuzuschleuderu
wie die vom Juli 1870.

Wäre ein solches Vorgehen wahrscheinlich, so könnte man es am ersten
von Berlin her erwarten — d. h. wenn man mit der dort herrschenden Gesinnung
unbekannt wäre und nur auf die dort zu Gebote stehenden Machtmittel sähe.


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[0125] Frieden5aussichten. Leben und der Nationalwohlstand nicht viel verloren. Heutzutage sind die Massen, welche wehrpflichtig sind, so ungeheuer, daß man nicht übertreibt, wenn man sagt, die Aufgabe, als Soldat zu dienen, sei im größten Teile Europas das Loos mindestens der Hälfte aller wehrfähigen Männer. So tritt der Krieg in jede Werkstatt, an jeden Herd, in Hütte und Palast, so stört er mit seinen Forderungen jede Arbeit lind jedes Geschäft, so verschont er keinen Stand und keinen Erwerb. Neben den geringen Elementen der Bevölkerung nimmt er auch die besten und für das wirtschaftliche Gedeihen der betreffenden Nationen wichtigsten rücksichts¬ los in Anspruch. Ebenso wird er in andrer Beziehung allgemeiner empfunden als früher. Die heutigen Heere kosten wegen ihrer besseren Ausrüstung und Versorgung in einer Woche mehr, als die Armeen, mit denen Prinz Eugen, Marlborough und die Generale Ludwigs des Vierzehnten ins Feld rückten, in einem ganzen Jahre an Geld verschlangen, und die Folge ist, obwohl unsre Kriege meist einen kürzeren Verlauf haben als die in unsrer Großväter Tagen, daß jeder Staat eine schwere Steuerlast zu tragen hat. In der That, man mochte behaupten, daß es jetzt kostspieliger sei, den Frieden zu erhalten, als es im vorigen Jahrhundert war, Krieg zu führen. Die einzige Hoffnung bei diesem unerfreulichen Zustande liegt darin, daß die hier angeführten Thatsachen sich seit 1871 den Regierungen nud Völkern zum Bewußtsein gebracht haben. Eine solche Herausforderung, wie sie 1870 Napoleon der Dritte wagte, als er, von Ehrgeiz, Selbsterhaltungstrieb und — nicht am wenigsten — von seiner jesuitischen Umgebung bewogen. dem König Wilhelm und mit ihm der deutschen Nation den Fehdehandschuh hinwarf, wird sicherlich eine lange Zeit nicht wieder in die Bücher der Geschichte zu verzeichnen ssin. Man kann einwerfen, daß das Vorgehen Rußlands im Jahre 1877 gezeigt habe, daß die Lektion von Sedan in ihrer Wirkung nicht lange vorge¬ halten habe. Dabei würde man aber vergessen, daß dies ein Krieg war, den nicht sowohl ein Kabinet, das aus eignem Entschlüsse handelte, als ein Herrscher unternahm, welcher mehr oder minder von der unruhigen nationalen und reli¬ giösen Eroberungssucht seines Volkes dazu gedrängt wurde. Der Zar trug übrigens dabei Sorge, sich die Flanken durch ein Bündnis oder wenigstens eine Verständigung mit Österreich- Ungarn und Deutschland zu decken, er hielt ferner die Türkei für eine Macht dritten Ranges, und er meinte endlich, dieselbe werde bis zu Ende ohne Hilfe von auswärts bleiben. Halb machte damals Nußland den Krieg, halb wurde es hineingetrieben, und es erscheint mindestens sehr un- wahrscheinlich, daß eine Großmacht heute oder morgen wagen werde, einer andern in so hitziger und schlecht überlegter Weise eine Herausforderung zuzuschleuderu wie die vom Juli 1870. Wäre ein solches Vorgehen wahrscheinlich, so könnte man es am ersten von Berlin her erwarten — d. h. wenn man mit der dort herrschenden Gesinnung unbekannt wäre und nur auf die dort zu Gebote stehenden Machtmittel sähe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/125>, abgerufen am 22.07.2024.