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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Stellung lebensvoller und für ihre Zeit charakteristischer Individualitäten zu er¬
möglichen. Ungeheure Gegensätze, gewaltige Aktionen wichtigster und für das
Jahrhundert bezeichnendster Art waren da und wurden erlebt; auch spannende
und typische Handlung konnte mit Leichtigkeit für ein Kunstwerk zusammen¬
gestellt und erfunden werden,

Dahn hat darauf verzichtet, die Vorgänge seines Romans im Mittelpunkte
der Weltbegebenheiten sich abspielen zu lassen. Und darin hat er Recht. Der
römische Kaiser und sein Hof, die Schwankungen der großen Politik waren besser
als Hintergrund zu verwerten, durch den das Geschick eines kleiner" Kreises
von Personen an Intimität und Eindruck gewinnen konnte. Aber nicht eben
so Recht hat er mit der starken Hervorhebung des Germanentums, dessen sieg¬
reichem Vorschreiten sein Roman fast ausschließlich gewidmet ist. Konsequenter
und umsichtiger wäre es gewesen, lieber ganz und gar auf die direkte Benutzung
der Zeitereignisse zu verzichten und sie gewissermaßen im reflektirten Lichte, in
ihrer Wirkung auf die Lebenslose seiner Hauptpersonen zu zeigen. So hätte
er allem gerecht werden können, und viel mehr, als nnn geschehen ist, Raum
gewonnen, um die mangelnde Extensivität der Fabel durch umso größere Ver¬
tiefung zu ersetzen. Aber abgesehen von dieser sehr einseitigen Hervorhebung
eines willkürlich herausgegriffenen Elements der Weltlage: einen unglücklicheren
Griff hätte er nicht wohl thun können, als diesen sehr zuversichtlichen in urger¬
manisches Volksleben. Es ist ja sehr zu bedauern, aber es ist doch nun so:
wir wissen von dem innern Leben unsrer Vorfahren im vierten Jahrhundert
im Grunde weniger als von dem der Griechen zur Zeit Homers. Täusche sich
doch niemand darüber! Etwas Mythologie, eine ungefähre Vorstellung vou
,der Form der zeitgenössischen Dichtung und eine oberflächliche Kenntnis der
äußern Lebensgewohnheiten: wer ist der Zauberer, welcher ans diesem kümmer¬
lichen Material Menschen zu bilden vermag, die uns in Zeiten schwerer Not
und Gefahr ihr innerstes Denken und Fühlen offenbaren, deren seelischen Zustand
wir in den heterogensten Stimmungen, unter den denkbar verschiedensten Um¬
ständen begreifen sollen? Und nun obendrein Menschen eines bestimmten Jahr¬
hunderts, die in ihrer Art zu sein den Einfluß desselben erkennen lassen? Da
das unmöglich ist, hat sich denn auch Dahn darauf beschränkt, uns seine Ger¬
manen in Kampf und kriegerischer Beratung zu zeigen, also gerade von einer
Seite, in der der Empfindungsinhalt, der Kreis des seelischen Lebens fast gar¬
nicht zum Ausdruck kommt. Und so ist denn natürlich von jenen feinern Ein¬
flüssen des Zeitalters und seiner treibenden Motive noch weniger die Rede.
Nimmt man einige wenige Andeutungen hinweg, so kann der Roman ganz
ebensogut vierhundert Jahre früher in Gallien oder Britannien spielen. Nun
stelle man sich einmal einen historischen Roman aus dem 18. Jahrhundert und
aus Frankreich vor, der beinahe ebensogut auf das 14. und auf Deutschland
Paßte! Würde es einen einzigen Menschen geben, der nicht überzeugt wäre,


Bissula,

Stellung lebensvoller und für ihre Zeit charakteristischer Individualitäten zu er¬
möglichen. Ungeheure Gegensätze, gewaltige Aktionen wichtigster und für das
Jahrhundert bezeichnendster Art waren da und wurden erlebt; auch spannende
und typische Handlung konnte mit Leichtigkeit für ein Kunstwerk zusammen¬
gestellt und erfunden werden,

Dahn hat darauf verzichtet, die Vorgänge seines Romans im Mittelpunkte
der Weltbegebenheiten sich abspielen zu lassen. Und darin hat er Recht. Der
römische Kaiser und sein Hof, die Schwankungen der großen Politik waren besser
als Hintergrund zu verwerten, durch den das Geschick eines kleiner» Kreises
von Personen an Intimität und Eindruck gewinnen konnte. Aber nicht eben
so Recht hat er mit der starken Hervorhebung des Germanentums, dessen sieg¬
reichem Vorschreiten sein Roman fast ausschließlich gewidmet ist. Konsequenter
und umsichtiger wäre es gewesen, lieber ganz und gar auf die direkte Benutzung
der Zeitereignisse zu verzichten und sie gewissermaßen im reflektirten Lichte, in
ihrer Wirkung auf die Lebenslose seiner Hauptpersonen zu zeigen. So hätte
er allem gerecht werden können, und viel mehr, als nnn geschehen ist, Raum
gewonnen, um die mangelnde Extensivität der Fabel durch umso größere Ver¬
tiefung zu ersetzen. Aber abgesehen von dieser sehr einseitigen Hervorhebung
eines willkürlich herausgegriffenen Elements der Weltlage: einen unglücklicheren
Griff hätte er nicht wohl thun können, als diesen sehr zuversichtlichen in urger¬
manisches Volksleben. Es ist ja sehr zu bedauern, aber es ist doch nun so:
wir wissen von dem innern Leben unsrer Vorfahren im vierten Jahrhundert
im Grunde weniger als von dem der Griechen zur Zeit Homers. Täusche sich
doch niemand darüber! Etwas Mythologie, eine ungefähre Vorstellung vou
,der Form der zeitgenössischen Dichtung und eine oberflächliche Kenntnis der
äußern Lebensgewohnheiten: wer ist der Zauberer, welcher ans diesem kümmer¬
lichen Material Menschen zu bilden vermag, die uns in Zeiten schwerer Not
und Gefahr ihr innerstes Denken und Fühlen offenbaren, deren seelischen Zustand
wir in den heterogensten Stimmungen, unter den denkbar verschiedensten Um¬
ständen begreifen sollen? Und nun obendrein Menschen eines bestimmten Jahr¬
hunderts, die in ihrer Art zu sein den Einfluß desselben erkennen lassen? Da
das unmöglich ist, hat sich denn auch Dahn darauf beschränkt, uns seine Ger¬
manen in Kampf und kriegerischer Beratung zu zeigen, also gerade von einer
Seite, in der der Empfindungsinhalt, der Kreis des seelischen Lebens fast gar¬
nicht zum Ausdruck kommt. Und so ist denn natürlich von jenen feinern Ein¬
flüssen des Zeitalters und seiner treibenden Motive noch weniger die Rede.
Nimmt man einige wenige Andeutungen hinweg, so kann der Roman ganz
ebensogut vierhundert Jahre früher in Gallien oder Britannien spielen. Nun
stelle man sich einmal einen historischen Roman aus dem 18. Jahrhundert und
aus Frankreich vor, der beinahe ebensogut auf das 14. und auf Deutschland
Paßte! Würde es einen einzigen Menschen geben, der nicht überzeugt wäre,


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[0103] Bissula, Stellung lebensvoller und für ihre Zeit charakteristischer Individualitäten zu er¬ möglichen. Ungeheure Gegensätze, gewaltige Aktionen wichtigster und für das Jahrhundert bezeichnendster Art waren da und wurden erlebt; auch spannende und typische Handlung konnte mit Leichtigkeit für ein Kunstwerk zusammen¬ gestellt und erfunden werden, Dahn hat darauf verzichtet, die Vorgänge seines Romans im Mittelpunkte der Weltbegebenheiten sich abspielen zu lassen. Und darin hat er Recht. Der römische Kaiser und sein Hof, die Schwankungen der großen Politik waren besser als Hintergrund zu verwerten, durch den das Geschick eines kleiner» Kreises von Personen an Intimität und Eindruck gewinnen konnte. Aber nicht eben so Recht hat er mit der starken Hervorhebung des Germanentums, dessen sieg¬ reichem Vorschreiten sein Roman fast ausschließlich gewidmet ist. Konsequenter und umsichtiger wäre es gewesen, lieber ganz und gar auf die direkte Benutzung der Zeitereignisse zu verzichten und sie gewissermaßen im reflektirten Lichte, in ihrer Wirkung auf die Lebenslose seiner Hauptpersonen zu zeigen. So hätte er allem gerecht werden können, und viel mehr, als nnn geschehen ist, Raum gewonnen, um die mangelnde Extensivität der Fabel durch umso größere Ver¬ tiefung zu ersetzen. Aber abgesehen von dieser sehr einseitigen Hervorhebung eines willkürlich herausgegriffenen Elements der Weltlage: einen unglücklicheren Griff hätte er nicht wohl thun können, als diesen sehr zuversichtlichen in urger¬ manisches Volksleben. Es ist ja sehr zu bedauern, aber es ist doch nun so: wir wissen von dem innern Leben unsrer Vorfahren im vierten Jahrhundert im Grunde weniger als von dem der Griechen zur Zeit Homers. Täusche sich doch niemand darüber! Etwas Mythologie, eine ungefähre Vorstellung vou ,der Form der zeitgenössischen Dichtung und eine oberflächliche Kenntnis der äußern Lebensgewohnheiten: wer ist der Zauberer, welcher ans diesem kümmer¬ lichen Material Menschen zu bilden vermag, die uns in Zeiten schwerer Not und Gefahr ihr innerstes Denken und Fühlen offenbaren, deren seelischen Zustand wir in den heterogensten Stimmungen, unter den denkbar verschiedensten Um¬ ständen begreifen sollen? Und nun obendrein Menschen eines bestimmten Jahr¬ hunderts, die in ihrer Art zu sein den Einfluß desselben erkennen lassen? Da das unmöglich ist, hat sich denn auch Dahn darauf beschränkt, uns seine Ger¬ manen in Kampf und kriegerischer Beratung zu zeigen, also gerade von einer Seite, in der der Empfindungsinhalt, der Kreis des seelischen Lebens fast gar¬ nicht zum Ausdruck kommt. Und so ist denn natürlich von jenen feinern Ein¬ flüssen des Zeitalters und seiner treibenden Motive noch weniger die Rede. Nimmt man einige wenige Andeutungen hinweg, so kann der Roman ganz ebensogut vierhundert Jahre früher in Gallien oder Britannien spielen. Nun stelle man sich einmal einen historischen Roman aus dem 18. Jahrhundert und aus Frankreich vor, der beinahe ebensogut auf das 14. und auf Deutschland Paßte! Würde es einen einzigen Menschen geben, der nicht überzeugt wäre,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/103>, abgerufen am 28.09.2024.