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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Bissuln,

stärker berührt werden. Das historische Kunstwerk, das uns nicht blutlose
Schemen, sondern Menschen vorführen will, hat sich deshalb vor nichts so sehr
zu hüten, als vor einer gewissen konventionellen Psychologie, die für jedes Zeit¬
alter gleich schlecht paßt. Wir wollen wissen, wie die Menschen einer bestimmten
Zeit dazu kamen, so und nicht anders zu sein. Es muß uns deshalb gezeigt
werden, in welchem Maße die einzelnen Elemente des menschlichen Seelenlebens
bei der Mischung typischer Charaktere in Betracht kamen und durch welche äußern,
aus dem Stadium der jeweiligen Kulturentwicklung entspringenden Bedingungen
sie an Bedeutung gewannen oder verloren. Und das nicht in s-bstrs-oto, sondern
durch die Gestaltung und den Verlauf der Handlung selbst, die deshalb eben¬
falls für ihre Zeit typisch sein muß. Wir sind ferner nicht gewillt, auf Treu
und Glauben hinzunehmen, was der Dichter uns als Inhalt zeitgenössischer
Charaktere schildert. Wir wollen selbst beurteilen, und fordern deshalv, daß
alle jene großen Bezüge, die in ihrer Eigenart jeder Zeit ihr Gepräge geben,
im Verlaufe der Handlung zur Geltung kommen.

Das sind Erfordernisse des historischen Romans als solchen; daß darüber
die an den Roman als Kunstform in: allgemeinen zu stellenden ästhetischen
Anforderungen zu Recht bestehen bleiben, versteht sich von selbst.

Und nun aus dem Weiten ins Enge, aus der Beleuchtung des archäolo¬
gischen Romans zum vorliegenden neuesten sxc-irivlum Zönörl8. Dahns neue
Dichtung*) bezeichnet sich selbst als "historischen Roman," macht also wohl von
vornherein keinen Anspruch auf die Schonung, die mancher weichherzige Leser
in dankbarer Erinnerung an Ebers' rührselig-pyramidale Kunst den ehrwürdigen
uralten Stoffen entgegenzubringen bereit ist. Er spielt im vierten Jahrhundert.
Zu dieser Zeit hatte das Römerreich ein Jahrtausend glänzender Entwicklung
hinter sich; längst hatte seine Kultur eine feste, reich gegliederte, eigenartige
Gestaltung gewonnen; längst bestand ein Grundtypus römischer Charaktere, in
dessen Rahmen Individualität und Zeitverhältnisse eine unendliche Zahl inter¬
essanter und hochbedeutender Persönlichkeiten sich entwickeln ließen. Aber bereits
hatten in dem festen Gefüge römischer Zivilisation jene beiden Elemente Wurzel
gefaßt, die bestimmt waren, sie einst zu vernichten. Das Christentum war un¬
längst zur offiziellen Anerkennung gelangt; kein Charakter konnte sich mehr
bilden, ohne von ihm positiv oder negativ beeinflußt zu werde". Daneben war
auch das Eindringen der germanischen Welt zu einer geradezu verhängnisvollen
Bedeutung gediehen, war zu einem schwerwiegenden Faktor des öffentlichen Lebens
geworden und spielte seine Rolle im Leben des Einzelnen und des Staates. Von
allen diesen Sachen, sowie von den Elementen römischen Wesens überhaupt ist
uns vollkommen genug überliefert, um einer dichterischen Phantasie die Dar-



*) Bissula. Historischer Roman aus der Völkerwanderung. Bon Filix Dahn.
Lnpzig, Breitkopf und Hiirtcl, 1LS4.
Bissuln,

stärker berührt werden. Das historische Kunstwerk, das uns nicht blutlose
Schemen, sondern Menschen vorführen will, hat sich deshalb vor nichts so sehr
zu hüten, als vor einer gewissen konventionellen Psychologie, die für jedes Zeit¬
alter gleich schlecht paßt. Wir wollen wissen, wie die Menschen einer bestimmten
Zeit dazu kamen, so und nicht anders zu sein. Es muß uns deshalb gezeigt
werden, in welchem Maße die einzelnen Elemente des menschlichen Seelenlebens
bei der Mischung typischer Charaktere in Betracht kamen und durch welche äußern,
aus dem Stadium der jeweiligen Kulturentwicklung entspringenden Bedingungen
sie an Bedeutung gewannen oder verloren. Und das nicht in s-bstrs-oto, sondern
durch die Gestaltung und den Verlauf der Handlung selbst, die deshalb eben¬
falls für ihre Zeit typisch sein muß. Wir sind ferner nicht gewillt, auf Treu
und Glauben hinzunehmen, was der Dichter uns als Inhalt zeitgenössischer
Charaktere schildert. Wir wollen selbst beurteilen, und fordern deshalv, daß
alle jene großen Bezüge, die in ihrer Eigenart jeder Zeit ihr Gepräge geben,
im Verlaufe der Handlung zur Geltung kommen.

Das sind Erfordernisse des historischen Romans als solchen; daß darüber
die an den Roman als Kunstform in: allgemeinen zu stellenden ästhetischen
Anforderungen zu Recht bestehen bleiben, versteht sich von selbst.

Und nun aus dem Weiten ins Enge, aus der Beleuchtung des archäolo¬
gischen Romans zum vorliegenden neuesten sxc-irivlum Zönörl8. Dahns neue
Dichtung*) bezeichnet sich selbst als „historischen Roman," macht also wohl von
vornherein keinen Anspruch auf die Schonung, die mancher weichherzige Leser
in dankbarer Erinnerung an Ebers' rührselig-pyramidale Kunst den ehrwürdigen
uralten Stoffen entgegenzubringen bereit ist. Er spielt im vierten Jahrhundert.
Zu dieser Zeit hatte das Römerreich ein Jahrtausend glänzender Entwicklung
hinter sich; längst hatte seine Kultur eine feste, reich gegliederte, eigenartige
Gestaltung gewonnen; längst bestand ein Grundtypus römischer Charaktere, in
dessen Rahmen Individualität und Zeitverhältnisse eine unendliche Zahl inter¬
essanter und hochbedeutender Persönlichkeiten sich entwickeln ließen. Aber bereits
hatten in dem festen Gefüge römischer Zivilisation jene beiden Elemente Wurzel
gefaßt, die bestimmt waren, sie einst zu vernichten. Das Christentum war un¬
längst zur offiziellen Anerkennung gelangt; kein Charakter konnte sich mehr
bilden, ohne von ihm positiv oder negativ beeinflußt zu werde». Daneben war
auch das Eindringen der germanischen Welt zu einer geradezu verhängnisvollen
Bedeutung gediehen, war zu einem schwerwiegenden Faktor des öffentlichen Lebens
geworden und spielte seine Rolle im Leben des Einzelnen und des Staates. Von
allen diesen Sachen, sowie von den Elementen römischen Wesens überhaupt ist
uns vollkommen genug überliefert, um einer dichterischen Phantasie die Dar-



*) Bissula. Historischer Roman aus der Völkerwanderung. Bon Filix Dahn.
Lnpzig, Breitkopf und Hiirtcl, 1LS4.
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[0102] Bissuln, stärker berührt werden. Das historische Kunstwerk, das uns nicht blutlose Schemen, sondern Menschen vorführen will, hat sich deshalb vor nichts so sehr zu hüten, als vor einer gewissen konventionellen Psychologie, die für jedes Zeit¬ alter gleich schlecht paßt. Wir wollen wissen, wie die Menschen einer bestimmten Zeit dazu kamen, so und nicht anders zu sein. Es muß uns deshalb gezeigt werden, in welchem Maße die einzelnen Elemente des menschlichen Seelenlebens bei der Mischung typischer Charaktere in Betracht kamen und durch welche äußern, aus dem Stadium der jeweiligen Kulturentwicklung entspringenden Bedingungen sie an Bedeutung gewannen oder verloren. Und das nicht in s-bstrs-oto, sondern durch die Gestaltung und den Verlauf der Handlung selbst, die deshalb eben¬ falls für ihre Zeit typisch sein muß. Wir sind ferner nicht gewillt, auf Treu und Glauben hinzunehmen, was der Dichter uns als Inhalt zeitgenössischer Charaktere schildert. Wir wollen selbst beurteilen, und fordern deshalv, daß alle jene großen Bezüge, die in ihrer Eigenart jeder Zeit ihr Gepräge geben, im Verlaufe der Handlung zur Geltung kommen. Das sind Erfordernisse des historischen Romans als solchen; daß darüber die an den Roman als Kunstform in: allgemeinen zu stellenden ästhetischen Anforderungen zu Recht bestehen bleiben, versteht sich von selbst. Und nun aus dem Weiten ins Enge, aus der Beleuchtung des archäolo¬ gischen Romans zum vorliegenden neuesten sxc-irivlum Zönörl8. Dahns neue Dichtung*) bezeichnet sich selbst als „historischen Roman," macht also wohl von vornherein keinen Anspruch auf die Schonung, die mancher weichherzige Leser in dankbarer Erinnerung an Ebers' rührselig-pyramidale Kunst den ehrwürdigen uralten Stoffen entgegenzubringen bereit ist. Er spielt im vierten Jahrhundert. Zu dieser Zeit hatte das Römerreich ein Jahrtausend glänzender Entwicklung hinter sich; längst hatte seine Kultur eine feste, reich gegliederte, eigenartige Gestaltung gewonnen; längst bestand ein Grundtypus römischer Charaktere, in dessen Rahmen Individualität und Zeitverhältnisse eine unendliche Zahl inter¬ essanter und hochbedeutender Persönlichkeiten sich entwickeln ließen. Aber bereits hatten in dem festen Gefüge römischer Zivilisation jene beiden Elemente Wurzel gefaßt, die bestimmt waren, sie einst zu vernichten. Das Christentum war un¬ längst zur offiziellen Anerkennung gelangt; kein Charakter konnte sich mehr bilden, ohne von ihm positiv oder negativ beeinflußt zu werde». Daneben war auch das Eindringen der germanischen Welt zu einer geradezu verhängnisvollen Bedeutung gediehen, war zu einem schwerwiegenden Faktor des öffentlichen Lebens geworden und spielte seine Rolle im Leben des Einzelnen und des Staates. Von allen diesen Sachen, sowie von den Elementen römischen Wesens überhaupt ist uns vollkommen genug überliefert, um einer dichterischen Phantasie die Dar- *) Bissula. Historischer Roman aus der Völkerwanderung. Bon Filix Dahn. Lnpzig, Breitkopf und Hiirtcl, 1LS4.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/102>, abgerufen am 28.09.2024.