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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Biffula.

auf. Von der Handlung stehen, wenn es hoch kommt, einzelne nackte That¬
sachen ohne organischen Zusammenhang fest, von den Handelnden eben nur die
Bezeichnungen der Handlungen, die sich an ihre Namen Köpfen, vom innern
Leben der Persönlichkeiten allenfalls soviel, als man aus den Resten der zeit¬
genössischen Literatur über Empfindung und Weltanschauung der betreffenden
Generationen erschließen kann, ohne jeden Bezug auf die Individualität Einzelner
und auf die Motivirung ihres Handelns. Was kann nun ein Stoff, der aus
dem Gebiete des Thatsächlichen so ungemein wenig nimmt, für einen irgend
denkbaren Vorzug haben vor einer freierfundenen Handlung aus der Gegenwart,
die sich mit dem großen Vorteil voller Anschaulichkeit und innerer, seelischer
Erfahrung des Dichters darstellen läßt? Welch ungeheure Aufgabe, eine psycho¬
logisch detaillirte Handlung und innerlich lebendige Menschen, die volle Indivi¬
dualität besitzen, zu formen aus den spärlichen Brocken, die sich aus einem
Dutzend verstümmelt und unvollständig auf uns gekommener gleichaltriger
Literaturwerke zusammenlesen lassen! Wo sie nicht gelang, weil sie nicht gelingen
konnte, ist dann mit Mühe und Not ein Werk entstanden, dem man beim besten
Willen Existenzberechtigung nicht zusprechen kann. Ein Recht zu leben hat
nur das Lebendige. Und im Interesse des Lebendigen gehört es sich, daß allem,
was künstlich galvanisirt, durch ein paar krampfhafte und widerspruchsvolle
Zuckungen den Schein des Lebens vortäuschen will, die Maske vom Gesicht ge¬
nommen werde. Und nun sei es geradezu gesagt: Werke der oben skizzirten
Art haben nicht einmal den gewöhnlichen indirekten Nutzen schlechter Bücher,
den guten als Folie zu dienen. Sie sind nicht allein mißlungen, sie sind un¬
wahr und verstecken diese innere Unwahrheit hinter dem die Menge bethörenden
Aushängeschild historischer Charaktere und thatsächlicher Begebenheiten.

Oder ist es zu streng, derartige pseudo-historische Romane mit wirklich
historischen zu vergleichen? Aber welchen Grund zu milderer Beurteilung könnten
sie für sich in Anspruch nehmen? Und giebt es für die Beurteilung von Kunst¬
werken nicht immer nur ein Maß? Kann man je etwas andres verlangen, als
die Jnnehaltung der jedem Genre eigentümlichen ästhetischen Gesetze? Nun, alle
jene Romane, die es unter anderthalb Jahrtausenden der Vergangenheit nicht
thun, sie suchen ja Nutzen zu ziehen aus enger Anlehnung an die Geschichte.
Noblssss "Misss: mögen sie auch den Anforderungen historischer Romane gerecht
werden.

Der Mensch ist stets derselbe und ist immer ein andrer. Die einzelnen
Bestandteile des Gefühls- und Geisteslebens ändern sich nicht. Aber als Trieb¬
federn für die Handlungen und infolge davon vielleicht auch hinsichtlich ihrer
Bedeutung für den einzelnen Menschen und ihrer Wertschätzung bei der Gesamt¬
heit finden doch Verschiebungen unter ihnen statt, je nachdem im Laufe der
Generationen das Menschenideal sich ändert und je nachdem durch die Gestal¬
tung des politischen und sozialen Lebens bald diese, bald jene Saiten im Menschen


Biffula.

auf. Von der Handlung stehen, wenn es hoch kommt, einzelne nackte That¬
sachen ohne organischen Zusammenhang fest, von den Handelnden eben nur die
Bezeichnungen der Handlungen, die sich an ihre Namen Köpfen, vom innern
Leben der Persönlichkeiten allenfalls soviel, als man aus den Resten der zeit¬
genössischen Literatur über Empfindung und Weltanschauung der betreffenden
Generationen erschließen kann, ohne jeden Bezug auf die Individualität Einzelner
und auf die Motivirung ihres Handelns. Was kann nun ein Stoff, der aus
dem Gebiete des Thatsächlichen so ungemein wenig nimmt, für einen irgend
denkbaren Vorzug haben vor einer freierfundenen Handlung aus der Gegenwart,
die sich mit dem großen Vorteil voller Anschaulichkeit und innerer, seelischer
Erfahrung des Dichters darstellen läßt? Welch ungeheure Aufgabe, eine psycho¬
logisch detaillirte Handlung und innerlich lebendige Menschen, die volle Indivi¬
dualität besitzen, zu formen aus den spärlichen Brocken, die sich aus einem
Dutzend verstümmelt und unvollständig auf uns gekommener gleichaltriger
Literaturwerke zusammenlesen lassen! Wo sie nicht gelang, weil sie nicht gelingen
konnte, ist dann mit Mühe und Not ein Werk entstanden, dem man beim besten
Willen Existenzberechtigung nicht zusprechen kann. Ein Recht zu leben hat
nur das Lebendige. Und im Interesse des Lebendigen gehört es sich, daß allem,
was künstlich galvanisirt, durch ein paar krampfhafte und widerspruchsvolle
Zuckungen den Schein des Lebens vortäuschen will, die Maske vom Gesicht ge¬
nommen werde. Und nun sei es geradezu gesagt: Werke der oben skizzirten
Art haben nicht einmal den gewöhnlichen indirekten Nutzen schlechter Bücher,
den guten als Folie zu dienen. Sie sind nicht allein mißlungen, sie sind un¬
wahr und verstecken diese innere Unwahrheit hinter dem die Menge bethörenden
Aushängeschild historischer Charaktere und thatsächlicher Begebenheiten.

Oder ist es zu streng, derartige pseudo-historische Romane mit wirklich
historischen zu vergleichen? Aber welchen Grund zu milderer Beurteilung könnten
sie für sich in Anspruch nehmen? Und giebt es für die Beurteilung von Kunst¬
werken nicht immer nur ein Maß? Kann man je etwas andres verlangen, als
die Jnnehaltung der jedem Genre eigentümlichen ästhetischen Gesetze? Nun, alle
jene Romane, die es unter anderthalb Jahrtausenden der Vergangenheit nicht
thun, sie suchen ja Nutzen zu ziehen aus enger Anlehnung an die Geschichte.
Noblssss «Misss: mögen sie auch den Anforderungen historischer Romane gerecht
werden.

Der Mensch ist stets derselbe und ist immer ein andrer. Die einzelnen
Bestandteile des Gefühls- und Geisteslebens ändern sich nicht. Aber als Trieb¬
federn für die Handlungen und infolge davon vielleicht auch hinsichtlich ihrer
Bedeutung für den einzelnen Menschen und ihrer Wertschätzung bei der Gesamt¬
heit finden doch Verschiebungen unter ihnen statt, je nachdem im Laufe der
Generationen das Menschenideal sich ändert und je nachdem durch die Gestal¬
tung des politischen und sozialen Lebens bald diese, bald jene Saiten im Menschen


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[0101] Biffula. auf. Von der Handlung stehen, wenn es hoch kommt, einzelne nackte That¬ sachen ohne organischen Zusammenhang fest, von den Handelnden eben nur die Bezeichnungen der Handlungen, die sich an ihre Namen Köpfen, vom innern Leben der Persönlichkeiten allenfalls soviel, als man aus den Resten der zeit¬ genössischen Literatur über Empfindung und Weltanschauung der betreffenden Generationen erschließen kann, ohne jeden Bezug auf die Individualität Einzelner und auf die Motivirung ihres Handelns. Was kann nun ein Stoff, der aus dem Gebiete des Thatsächlichen so ungemein wenig nimmt, für einen irgend denkbaren Vorzug haben vor einer freierfundenen Handlung aus der Gegenwart, die sich mit dem großen Vorteil voller Anschaulichkeit und innerer, seelischer Erfahrung des Dichters darstellen läßt? Welch ungeheure Aufgabe, eine psycho¬ logisch detaillirte Handlung und innerlich lebendige Menschen, die volle Indivi¬ dualität besitzen, zu formen aus den spärlichen Brocken, die sich aus einem Dutzend verstümmelt und unvollständig auf uns gekommener gleichaltriger Literaturwerke zusammenlesen lassen! Wo sie nicht gelang, weil sie nicht gelingen konnte, ist dann mit Mühe und Not ein Werk entstanden, dem man beim besten Willen Existenzberechtigung nicht zusprechen kann. Ein Recht zu leben hat nur das Lebendige. Und im Interesse des Lebendigen gehört es sich, daß allem, was künstlich galvanisirt, durch ein paar krampfhafte und widerspruchsvolle Zuckungen den Schein des Lebens vortäuschen will, die Maske vom Gesicht ge¬ nommen werde. Und nun sei es geradezu gesagt: Werke der oben skizzirten Art haben nicht einmal den gewöhnlichen indirekten Nutzen schlechter Bücher, den guten als Folie zu dienen. Sie sind nicht allein mißlungen, sie sind un¬ wahr und verstecken diese innere Unwahrheit hinter dem die Menge bethörenden Aushängeschild historischer Charaktere und thatsächlicher Begebenheiten. Oder ist es zu streng, derartige pseudo-historische Romane mit wirklich historischen zu vergleichen? Aber welchen Grund zu milderer Beurteilung könnten sie für sich in Anspruch nehmen? Und giebt es für die Beurteilung von Kunst¬ werken nicht immer nur ein Maß? Kann man je etwas andres verlangen, als die Jnnehaltung der jedem Genre eigentümlichen ästhetischen Gesetze? Nun, alle jene Romane, die es unter anderthalb Jahrtausenden der Vergangenheit nicht thun, sie suchen ja Nutzen zu ziehen aus enger Anlehnung an die Geschichte. Noblssss «Misss: mögen sie auch den Anforderungen historischer Romane gerecht werden. Der Mensch ist stets derselbe und ist immer ein andrer. Die einzelnen Bestandteile des Gefühls- und Geisteslebens ändern sich nicht. Aber als Trieb¬ federn für die Handlungen und infolge davon vielleicht auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für den einzelnen Menschen und ihrer Wertschätzung bei der Gesamt¬ heit finden doch Verschiebungen unter ihnen statt, je nachdem im Laufe der Generationen das Menschenideal sich ändert und je nachdem durch die Gestal¬ tung des politischen und sozialen Lebens bald diese, bald jene Saiten im Menschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/101>, abgerufen am 02.10.2024.