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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.

das allgemeine Besitztum der Bildung, in jene Literatur übergegangen, die un¬
vergänglich und von der Empfindung der Leser und Hörer stets leoendig er¬
neut unmittelbar genossen wird, wie bei uns einige Märchen Tiecks, die Dramen
und Erzählungen Heinrichs von Kleist, der "Taugenichts" und die lyrischen Ge¬
dichte Josefs von Eichendorff. Die Fortentwicklung in Naturen von anderm
Gehalt und andern literarischen Intentionen, die Wirkung auf andern Gebieten
als dem der Poesie, die allgemeine Emporrüttelung der Geister, die Durch¬
brechung einer Tradition, die zur öden Erstarrung geworden war, stellen sich
als bedeutender heraus als die vollendeten Leistungen des poetischen Roman-
tizismus selbst.

Georg Brandes schließt seine "Romantische Schule in Frankreich" mit den
Worten: "In diesem Augenblicke sind die Männer und Frauen der großen li¬
terarischen Schule von der Oberfläche der Erde verschwunden. Nur ein einziger
von den Großen, nur der Größte, ist noch am Leben. Victor Hugo, welcher
der erste war, ist der letzte geblieben. Sein reiches Leben, überschwänglich im
Glücke der Jugend, würdevoll und groß im Unglück, ein pompöses und anti-
thesenreiches Poem, wie seine eignen Gedichte, krönt seine Kunst. Die Sonne
der französischen Romantik ist untergegangen, aber so lange Victor Hugo lebt,
sieht man noch ihren roten Abendschimmer über dem Horizont."

Nicht jedermann wird diese freundlich bewundernde Anschanung über
den größten aller lebenden zeitgenössischen Dichter teilen. Aber auch der¬
jenige, der die geistige Grundstimmung, die gehässige Befangenheit, welcher
der Dichter seit dem Unglück seines Volkes im Jahre 1870 verfallen ist,
noch so scharf verurteilt, auch der, welcher die Mischung von mystischem
Prophetentum, Demagogentnm und Dichtertum, in der sich der erlauchte
Überlebende inmitten eines veränderten Geschlechts gefällt, noch so energisch
ablehnt, kann der groß angelegten, mächtig phantasiereichen und vom Drange
des Schaffens in seltener Weise frisch erhaltenen Natur den Tribut der Be¬
wunderung nicht versagen. Victor Hugos Stellung innerhalb der heutigen
französischen Literatur ist eine merkwürdig isolirte. Er ist nicht völlig stehen
geblieben, er hat seine Zeit, oft nur zu hastig und atemlos, begleitet. Seine von
Bitterkeit und ingrimmiger Entrüstung überfließenden satirischen Gedichte gegen
das zweite Kaiserreich, seine großen Tendcnzromane, die mit dem langatmigen
Buche "Die Elenden" beginnen und sich bis zu den brandroten und blutroten
Schilderungen des Schreckensjahres "Siebzehnhundertuuddreiundneunzig" in dem
gleichnamigen Roman erstrecken, belegen deutlich genug, daß er die Entwicklung
der modernen französischen Literatur, im Dienst der Tendenz, mit der Richtung
auf den entschiedensten, ja rücksichtslosesten Realismus zu teilen gewünscht hat.
Es bleibt bewunderungswürdig, wie weit ihm dies gelungen ist, wie viel von
den modernsten Mitteln und Wirkungen der jüngsten Literaturschule das Haupt
und der Meister der Romantik in sich aufzunehmen vermocht hat. Aber niemand


Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.

das allgemeine Besitztum der Bildung, in jene Literatur übergegangen, die un¬
vergänglich und von der Empfindung der Leser und Hörer stets leoendig er¬
neut unmittelbar genossen wird, wie bei uns einige Märchen Tiecks, die Dramen
und Erzählungen Heinrichs von Kleist, der „Taugenichts" und die lyrischen Ge¬
dichte Josefs von Eichendorff. Die Fortentwicklung in Naturen von anderm
Gehalt und andern literarischen Intentionen, die Wirkung auf andern Gebieten
als dem der Poesie, die allgemeine Emporrüttelung der Geister, die Durch¬
brechung einer Tradition, die zur öden Erstarrung geworden war, stellen sich
als bedeutender heraus als die vollendeten Leistungen des poetischen Roman-
tizismus selbst.

Georg Brandes schließt seine „Romantische Schule in Frankreich" mit den
Worten: „In diesem Augenblicke sind die Männer und Frauen der großen li¬
terarischen Schule von der Oberfläche der Erde verschwunden. Nur ein einziger
von den Großen, nur der Größte, ist noch am Leben. Victor Hugo, welcher
der erste war, ist der letzte geblieben. Sein reiches Leben, überschwänglich im
Glücke der Jugend, würdevoll und groß im Unglück, ein pompöses und anti-
thesenreiches Poem, wie seine eignen Gedichte, krönt seine Kunst. Die Sonne
der französischen Romantik ist untergegangen, aber so lange Victor Hugo lebt,
sieht man noch ihren roten Abendschimmer über dem Horizont."

Nicht jedermann wird diese freundlich bewundernde Anschanung über
den größten aller lebenden zeitgenössischen Dichter teilen. Aber auch der¬
jenige, der die geistige Grundstimmung, die gehässige Befangenheit, welcher
der Dichter seit dem Unglück seines Volkes im Jahre 1870 verfallen ist,
noch so scharf verurteilt, auch der, welcher die Mischung von mystischem
Prophetentum, Demagogentnm und Dichtertum, in der sich der erlauchte
Überlebende inmitten eines veränderten Geschlechts gefällt, noch so energisch
ablehnt, kann der groß angelegten, mächtig phantasiereichen und vom Drange
des Schaffens in seltener Weise frisch erhaltenen Natur den Tribut der Be¬
wunderung nicht versagen. Victor Hugos Stellung innerhalb der heutigen
französischen Literatur ist eine merkwürdig isolirte. Er ist nicht völlig stehen
geblieben, er hat seine Zeit, oft nur zu hastig und atemlos, begleitet. Seine von
Bitterkeit und ingrimmiger Entrüstung überfließenden satirischen Gedichte gegen
das zweite Kaiserreich, seine großen Tendcnzromane, die mit dem langatmigen
Buche „Die Elenden" beginnen und sich bis zu den brandroten und blutroten
Schilderungen des Schreckensjahres „Siebzehnhundertuuddreiundneunzig" in dem
gleichnamigen Roman erstrecken, belegen deutlich genug, daß er die Entwicklung
der modernen französischen Literatur, im Dienst der Tendenz, mit der Richtung
auf den entschiedensten, ja rücksichtslosesten Realismus zu teilen gewünscht hat.
Es bleibt bewunderungswürdig, wie weit ihm dies gelungen ist, wie viel von
den modernsten Mitteln und Wirkungen der jüngsten Literaturschule das Haupt
und der Meister der Romantik in sich aufzunehmen vermocht hat. Aber niemand


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[0085] Die französische Romantik im Anfang und Ausgang. das allgemeine Besitztum der Bildung, in jene Literatur übergegangen, die un¬ vergänglich und von der Empfindung der Leser und Hörer stets leoendig er¬ neut unmittelbar genossen wird, wie bei uns einige Märchen Tiecks, die Dramen und Erzählungen Heinrichs von Kleist, der „Taugenichts" und die lyrischen Ge¬ dichte Josefs von Eichendorff. Die Fortentwicklung in Naturen von anderm Gehalt und andern literarischen Intentionen, die Wirkung auf andern Gebieten als dem der Poesie, die allgemeine Emporrüttelung der Geister, die Durch¬ brechung einer Tradition, die zur öden Erstarrung geworden war, stellen sich als bedeutender heraus als die vollendeten Leistungen des poetischen Roman- tizismus selbst. Georg Brandes schließt seine „Romantische Schule in Frankreich" mit den Worten: „In diesem Augenblicke sind die Männer und Frauen der großen li¬ terarischen Schule von der Oberfläche der Erde verschwunden. Nur ein einziger von den Großen, nur der Größte, ist noch am Leben. Victor Hugo, welcher der erste war, ist der letzte geblieben. Sein reiches Leben, überschwänglich im Glücke der Jugend, würdevoll und groß im Unglück, ein pompöses und anti- thesenreiches Poem, wie seine eignen Gedichte, krönt seine Kunst. Die Sonne der französischen Romantik ist untergegangen, aber so lange Victor Hugo lebt, sieht man noch ihren roten Abendschimmer über dem Horizont." Nicht jedermann wird diese freundlich bewundernde Anschanung über den größten aller lebenden zeitgenössischen Dichter teilen. Aber auch der¬ jenige, der die geistige Grundstimmung, die gehässige Befangenheit, welcher der Dichter seit dem Unglück seines Volkes im Jahre 1870 verfallen ist, noch so scharf verurteilt, auch der, welcher die Mischung von mystischem Prophetentum, Demagogentnm und Dichtertum, in der sich der erlauchte Überlebende inmitten eines veränderten Geschlechts gefällt, noch so energisch ablehnt, kann der groß angelegten, mächtig phantasiereichen und vom Drange des Schaffens in seltener Weise frisch erhaltenen Natur den Tribut der Be¬ wunderung nicht versagen. Victor Hugos Stellung innerhalb der heutigen französischen Literatur ist eine merkwürdig isolirte. Er ist nicht völlig stehen geblieben, er hat seine Zeit, oft nur zu hastig und atemlos, begleitet. Seine von Bitterkeit und ingrimmiger Entrüstung überfließenden satirischen Gedichte gegen das zweite Kaiserreich, seine großen Tendcnzromane, die mit dem langatmigen Buche „Die Elenden" beginnen und sich bis zu den brandroten und blutroten Schilderungen des Schreckensjahres „Siebzehnhundertuuddreiundneunzig" in dem gleichnamigen Roman erstrecken, belegen deutlich genug, daß er die Entwicklung der modernen französischen Literatur, im Dienst der Tendenz, mit der Richtung auf den entschiedensten, ja rücksichtslosesten Realismus zu teilen gewünscht hat. Es bleibt bewunderungswürdig, wie weit ihm dies gelungen ist, wie viel von den modernsten Mitteln und Wirkungen der jüngsten Literaturschule das Haupt und der Meister der Romantik in sich aufzunehmen vermocht hat. Aber niemand

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/85>, abgerufen am 29.12.2024.