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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.

Er beschränkte die Dichter auf einen kleinen Kreis darzustellenden Lebens. In¬
dem er nicht nur die Kunstgattungen, sondern auch die Wirklichkeiten streng
schied, denen diese Kunstgattungen entsprechen sollten, indem er die Tragödie
zur Schule der Könige und Höfe und die Komödie zur Sittenschule der "Stadt"
stempelte, schloß er jede Überschwängkichkeit, jede Kühnheit der Phantasie, wie
jede Plattheit aus. Er band die Dichter an strenge, äußerlich erkennbare, auch
vom flüchtigst Gebildeten leicht zu unterscheidende und anzuwendende Regeln.
Er setzte das Verdienst des Dichters vor allem in das feinste, klarste, edelste
Gleichmaß des Ausdrucks, er forderte für den Vers Vorzüge der Prosa und
ein verstärktes Gefühl für den Wohlklang der Sprache. Er glaubte durch seine
Regeln jede Mittelmäßigkeit wie jeden Dilettantismus von der Mitbewerbung
um die Ehrenpreise der Poesie ausgeschlossen zu haben. Es war Bvileaus
ehrlichste Überzeugung, daß es tausendmal besser sei, als guter Maurer denn
als schlechter Dichter durch die Welt zu wandeln. Er ahnte nicht, daß gerade
diese Korrektheit, wenn eines nicht ihrem innersten Wesen, so doch ihrem äußern
Scheine nach vom Dilettantismus leicht erreicht werden könne, und er würde
erstaunt gewesen sei", wenn ihm vorausgesagt wordeu wäre, daß Frankreich
Hunderte von Tragödien erhalten sollte, die für das gemeine Urteil alle Vor¬
züge der Racineschen Schöpfungen aufwiesen und dennoch hohl und leblos
waren.

Gleichwohl war bis zum Auftreten Victor Hugos mit seinem "Herncmi"
nur vereinzelt und in der Weise Voltaires die Schranke des altgeheiligten
nationalen Stils durchbrochen worden. Die Mängel aller nachklassischen Dramen
galten immer als Mängel der Dichter und nie als Mängel der herrschenden
Form, was nur bedingt zutraf. Und als nun die große Schlacht um die Ein¬
führung des romantischen Dramas im llreMrs trkmyg,is geschlagen wurde, so
war es nur natürlich, daß die Anhänger des Alten von der Unfähigkeit sprachen,
die bewährte Form mit Leben zu erfüllen und die Hereinziehung ganz fremder
Elemente in die dramatische Gestaltung garnicht darauf prüften, ob diesen
fremden Elementen irgendwelche Berechtigung innewohne. Man traut seinen
Augen nicht, wenn man die Kritiken der damaligen Pariser Journale, welche
der Aufführung des "Hernani" auf dem Fuße folgten, heute zur Hand nimmt
und immer wieder nur den Anschuldigungen der Barbarei, der Stillosigkeit und
vor allen Dingen der unfranzösischen, spanischen, englischen und deutschen Ele¬
mente begegnet.

Wie stellte sich, um den Vergleich zwischen der Dichtung des gepriesenen
alten und der jungen des neuen Stils zu ziehen und am konkreten Beispiel
den Unterschied nachzuweisen, jene triZMäis, die bis hierher auf den Brettern
des lIMtrs trMyg.is allein geherrscht hatte, zu dem romantischen Drama, das
mit Victor Hugos "Herncmi" einen freilich kurz dauernden Siegeszug begann?
Welches waren die unterscheidenden Kennzeichen, die gewaltigen Abweichungen,


Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.

Er beschränkte die Dichter auf einen kleinen Kreis darzustellenden Lebens. In¬
dem er nicht nur die Kunstgattungen, sondern auch die Wirklichkeiten streng
schied, denen diese Kunstgattungen entsprechen sollten, indem er die Tragödie
zur Schule der Könige und Höfe und die Komödie zur Sittenschule der „Stadt"
stempelte, schloß er jede Überschwängkichkeit, jede Kühnheit der Phantasie, wie
jede Plattheit aus. Er band die Dichter an strenge, äußerlich erkennbare, auch
vom flüchtigst Gebildeten leicht zu unterscheidende und anzuwendende Regeln.
Er setzte das Verdienst des Dichters vor allem in das feinste, klarste, edelste
Gleichmaß des Ausdrucks, er forderte für den Vers Vorzüge der Prosa und
ein verstärktes Gefühl für den Wohlklang der Sprache. Er glaubte durch seine
Regeln jede Mittelmäßigkeit wie jeden Dilettantismus von der Mitbewerbung
um die Ehrenpreise der Poesie ausgeschlossen zu haben. Es war Bvileaus
ehrlichste Überzeugung, daß es tausendmal besser sei, als guter Maurer denn
als schlechter Dichter durch die Welt zu wandeln. Er ahnte nicht, daß gerade
diese Korrektheit, wenn eines nicht ihrem innersten Wesen, so doch ihrem äußern
Scheine nach vom Dilettantismus leicht erreicht werden könne, und er würde
erstaunt gewesen sei», wenn ihm vorausgesagt wordeu wäre, daß Frankreich
Hunderte von Tragödien erhalten sollte, die für das gemeine Urteil alle Vor¬
züge der Racineschen Schöpfungen aufwiesen und dennoch hohl und leblos
waren.

Gleichwohl war bis zum Auftreten Victor Hugos mit seinem „Herncmi"
nur vereinzelt und in der Weise Voltaires die Schranke des altgeheiligten
nationalen Stils durchbrochen worden. Die Mängel aller nachklassischen Dramen
galten immer als Mängel der Dichter und nie als Mängel der herrschenden
Form, was nur bedingt zutraf. Und als nun die große Schlacht um die Ein¬
führung des romantischen Dramas im llreMrs trkmyg,is geschlagen wurde, so
war es nur natürlich, daß die Anhänger des Alten von der Unfähigkeit sprachen,
die bewährte Form mit Leben zu erfüllen und die Hereinziehung ganz fremder
Elemente in die dramatische Gestaltung garnicht darauf prüften, ob diesen
fremden Elementen irgendwelche Berechtigung innewohne. Man traut seinen
Augen nicht, wenn man die Kritiken der damaligen Pariser Journale, welche
der Aufführung des „Hernani" auf dem Fuße folgten, heute zur Hand nimmt
und immer wieder nur den Anschuldigungen der Barbarei, der Stillosigkeit und
vor allen Dingen der unfranzösischen, spanischen, englischen und deutschen Ele¬
mente begegnet.

Wie stellte sich, um den Vergleich zwischen der Dichtung des gepriesenen
alten und der jungen des neuen Stils zu ziehen und am konkreten Beispiel
den Unterschied nachzuweisen, jene triZMäis, die bis hierher auf den Brettern
des lIMtrs trMyg.is allein geherrscht hatte, zu dem romantischen Drama, das
mit Victor Hugos „Herncmi" einen freilich kurz dauernden Siegeszug begann?
Welches waren die unterscheidenden Kennzeichen, die gewaltigen Abweichungen,


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[0080] Die französische Romantik im Anfang und Ausgang. Er beschränkte die Dichter auf einen kleinen Kreis darzustellenden Lebens. In¬ dem er nicht nur die Kunstgattungen, sondern auch die Wirklichkeiten streng schied, denen diese Kunstgattungen entsprechen sollten, indem er die Tragödie zur Schule der Könige und Höfe und die Komödie zur Sittenschule der „Stadt" stempelte, schloß er jede Überschwängkichkeit, jede Kühnheit der Phantasie, wie jede Plattheit aus. Er band die Dichter an strenge, äußerlich erkennbare, auch vom flüchtigst Gebildeten leicht zu unterscheidende und anzuwendende Regeln. Er setzte das Verdienst des Dichters vor allem in das feinste, klarste, edelste Gleichmaß des Ausdrucks, er forderte für den Vers Vorzüge der Prosa und ein verstärktes Gefühl für den Wohlklang der Sprache. Er glaubte durch seine Regeln jede Mittelmäßigkeit wie jeden Dilettantismus von der Mitbewerbung um die Ehrenpreise der Poesie ausgeschlossen zu haben. Es war Bvileaus ehrlichste Überzeugung, daß es tausendmal besser sei, als guter Maurer denn als schlechter Dichter durch die Welt zu wandeln. Er ahnte nicht, daß gerade diese Korrektheit, wenn eines nicht ihrem innersten Wesen, so doch ihrem äußern Scheine nach vom Dilettantismus leicht erreicht werden könne, und er würde erstaunt gewesen sei», wenn ihm vorausgesagt wordeu wäre, daß Frankreich Hunderte von Tragödien erhalten sollte, die für das gemeine Urteil alle Vor¬ züge der Racineschen Schöpfungen aufwiesen und dennoch hohl und leblos waren. Gleichwohl war bis zum Auftreten Victor Hugos mit seinem „Herncmi" nur vereinzelt und in der Weise Voltaires die Schranke des altgeheiligten nationalen Stils durchbrochen worden. Die Mängel aller nachklassischen Dramen galten immer als Mängel der Dichter und nie als Mängel der herrschenden Form, was nur bedingt zutraf. Und als nun die große Schlacht um die Ein¬ führung des romantischen Dramas im llreMrs trkmyg,is geschlagen wurde, so war es nur natürlich, daß die Anhänger des Alten von der Unfähigkeit sprachen, die bewährte Form mit Leben zu erfüllen und die Hereinziehung ganz fremder Elemente in die dramatische Gestaltung garnicht darauf prüften, ob diesen fremden Elementen irgendwelche Berechtigung innewohne. Man traut seinen Augen nicht, wenn man die Kritiken der damaligen Pariser Journale, welche der Aufführung des „Hernani" auf dem Fuße folgten, heute zur Hand nimmt und immer wieder nur den Anschuldigungen der Barbarei, der Stillosigkeit und vor allen Dingen der unfranzösischen, spanischen, englischen und deutschen Ele¬ mente begegnet. Wie stellte sich, um den Vergleich zwischen der Dichtung des gepriesenen alten und der jungen des neuen Stils zu ziehen und am konkreten Beispiel den Unterschied nachzuweisen, jene triZMäis, die bis hierher auf den Brettern des lIMtrs trMyg.is allein geherrscht hatte, zu dem romantischen Drama, das mit Victor Hugos „Herncmi" einen freilich kurz dauernden Siegeszug begann? Welches waren die unterscheidenden Kennzeichen, die gewaltigen Abweichungen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/80>, abgerufen am 29.12.2024.