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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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von Italiens Freiheit, dessen Name noch heute jeder Italiener mit Stolz und
Ehrfurcht nennt; wir schreiben auch keinen nervenerschütternden, physiologischen
Vivisektionsroman, wie die "Letzten Tage eines Verurteilten" von Victor Hugo;
wir schildern nur in Form und Brauch des Romans, mit schuldiger Rücksicht
auf noch lebende Personen, den Charakter, die Zeitgenossen und die Schicksale
des größten politischen Märtyrers Deutschlands, den leider selbst unter den
Gebildeten heutzutage nur noch wenige kennen und dessen Bild auch vielfach
durch der Parteien Haß und Gunst verwirrt wurde. Diesem Lebeus- und
Charakterbilde liegen teils mündliche Mitteilungen von noch lebenden oder erst
kürzlich verstorbenen Freunden des Pfarrers, sowie Briefe von ihm und seinen
nächsten Verwandten -- darunter selbst zwei von vielen Thränen aus treuen
Augen halbverlöschte Originalbriefe des Gefangenen und seiner Frau --, teils
unsre eignen Jugenderinnerungen an den seltenen Mann zu gründe, dessen Name
als Patriot und mutiger Freiheitsmann sich schon in unsrer Kindheit einer
großen Popularität in unsrer ganzen Provinz erfreute und zu dem seine zahl¬
reichen Schüler und Anhänger wie zu einem Apostel der Freiheit emporsahen!"

Das alles mag wahr und im Sinne des Verfassers wohlgemeint sein,
poetisch ist es nicht. Die Erzählung und die dazwischen geschobenen Erinnerungen
an Weidig machen von hier an nicht mehr den Eindruck einer Komposition,
sondern den einer Zusammenstoppelung. Die Szenen, in denen über die Schutz¬
maßregeln beraten wird, welche man für Pfarrer Friedrich aussinnt und welche
sich alle als unwirksam erweisen und den letzten trüben Ausgang, den Selbst¬
mord des Eingekerkerten, nicht aufhalten, sind als Romanepisoden so langweilig
als möglich, zu einer Art Handlung kommt es bis zum Schlüsse des Romans
nicht wieder, der Versuch, die Erzählung nach Oderwiesen zurückzuversetzen, ebenso
wie der, für die Liebe des Malers Heldmann (Flambo) zu Auguste Welcker zu
interessiren, verläuft ziemlich im Sande. Die Mitteilung "thatsächlichen" Materials,
das heißt einer Anzahl Gedichte und Briefe Weidigs, die zum Roman nnr durch
den Eindruck, welchen sie auf die junge Schwägerin hervorrufen, in Beziehung
gesetzt sind, unterbricht immer wieder die wirkliche Darstellung. Es ist schwer
zu verstehen, wie ein gewandter und geübter Erzähler, wie der Verfasser der
"Charlotte Ackermann" und des "Stadtschultheiß von Frankfurt" (wir nennen
absichtlich zwei seiner Romane, bei denen er mit besondern Stoffschwierigkeiten
kämpfte und die im großen und ganzen vortrefflich durchgeführt sind) nicht
gemerkt hat, daß er hier eine wahrhaft selbstzerstörende Manier befolgt. Er
hat im ersten Teil des Romans den Märtyrer, den er verherrlichen will, viel
zu sehr in den Hintergrund gerückt und uns viel zu sehr für eine kleine Gruppe
andrer Persönlichkeiten interessirt, um so plötzlich, wie es vom zweiten Teil an
geschieht, seine Position wechseln zu können. Die Anstrengungen, welche er
gegen den Schluß hin macht, in den Ton reiner Darstellung wieder einzulenken,
sind anerkennenswert, aber vergeblich. Mit wiederkehrender poetischer Empfindung


Gttnzbotm IV. Z884, - 74

von Italiens Freiheit, dessen Name noch heute jeder Italiener mit Stolz und
Ehrfurcht nennt; wir schreiben auch keinen nervenerschütternden, physiologischen
Vivisektionsroman, wie die „Letzten Tage eines Verurteilten" von Victor Hugo;
wir schildern nur in Form und Brauch des Romans, mit schuldiger Rücksicht
auf noch lebende Personen, den Charakter, die Zeitgenossen und die Schicksale
des größten politischen Märtyrers Deutschlands, den leider selbst unter den
Gebildeten heutzutage nur noch wenige kennen und dessen Bild auch vielfach
durch der Parteien Haß und Gunst verwirrt wurde. Diesem Lebeus- und
Charakterbilde liegen teils mündliche Mitteilungen von noch lebenden oder erst
kürzlich verstorbenen Freunden des Pfarrers, sowie Briefe von ihm und seinen
nächsten Verwandten — darunter selbst zwei von vielen Thränen aus treuen
Augen halbverlöschte Originalbriefe des Gefangenen und seiner Frau —, teils
unsre eignen Jugenderinnerungen an den seltenen Mann zu gründe, dessen Name
als Patriot und mutiger Freiheitsmann sich schon in unsrer Kindheit einer
großen Popularität in unsrer ganzen Provinz erfreute und zu dem seine zahl¬
reichen Schüler und Anhänger wie zu einem Apostel der Freiheit emporsahen!"

Das alles mag wahr und im Sinne des Verfassers wohlgemeint sein,
poetisch ist es nicht. Die Erzählung und die dazwischen geschobenen Erinnerungen
an Weidig machen von hier an nicht mehr den Eindruck einer Komposition,
sondern den einer Zusammenstoppelung. Die Szenen, in denen über die Schutz¬
maßregeln beraten wird, welche man für Pfarrer Friedrich aussinnt und welche
sich alle als unwirksam erweisen und den letzten trüben Ausgang, den Selbst¬
mord des Eingekerkerten, nicht aufhalten, sind als Romanepisoden so langweilig
als möglich, zu einer Art Handlung kommt es bis zum Schlüsse des Romans
nicht wieder, der Versuch, die Erzählung nach Oderwiesen zurückzuversetzen, ebenso
wie der, für die Liebe des Malers Heldmann (Flambo) zu Auguste Welcker zu
interessiren, verläuft ziemlich im Sande. Die Mitteilung „thatsächlichen" Materials,
das heißt einer Anzahl Gedichte und Briefe Weidigs, die zum Roman nnr durch
den Eindruck, welchen sie auf die junge Schwägerin hervorrufen, in Beziehung
gesetzt sind, unterbricht immer wieder die wirkliche Darstellung. Es ist schwer
zu verstehen, wie ein gewandter und geübter Erzähler, wie der Verfasser der
„Charlotte Ackermann" und des „Stadtschultheiß von Frankfurt" (wir nennen
absichtlich zwei seiner Romane, bei denen er mit besondern Stoffschwierigkeiten
kämpfte und die im großen und ganzen vortrefflich durchgeführt sind) nicht
gemerkt hat, daß er hier eine wahrhaft selbstzerstörende Manier befolgt. Er
hat im ersten Teil des Romans den Märtyrer, den er verherrlichen will, viel
zu sehr in den Hintergrund gerückt und uns viel zu sehr für eine kleine Gruppe
andrer Persönlichkeiten interessirt, um so plötzlich, wie es vom zweiten Teil an
geschieht, seine Position wechseln zu können. Die Anstrengungen, welche er
gegen den Schluß hin macht, in den Ton reiner Darstellung wieder einzulenken,
sind anerkennenswert, aber vergeblich. Mit wiederkehrender poetischer Empfindung


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[0593] von Italiens Freiheit, dessen Name noch heute jeder Italiener mit Stolz und Ehrfurcht nennt; wir schreiben auch keinen nervenerschütternden, physiologischen Vivisektionsroman, wie die „Letzten Tage eines Verurteilten" von Victor Hugo; wir schildern nur in Form und Brauch des Romans, mit schuldiger Rücksicht auf noch lebende Personen, den Charakter, die Zeitgenossen und die Schicksale des größten politischen Märtyrers Deutschlands, den leider selbst unter den Gebildeten heutzutage nur noch wenige kennen und dessen Bild auch vielfach durch der Parteien Haß und Gunst verwirrt wurde. Diesem Lebeus- und Charakterbilde liegen teils mündliche Mitteilungen von noch lebenden oder erst kürzlich verstorbenen Freunden des Pfarrers, sowie Briefe von ihm und seinen nächsten Verwandten — darunter selbst zwei von vielen Thränen aus treuen Augen halbverlöschte Originalbriefe des Gefangenen und seiner Frau —, teils unsre eignen Jugenderinnerungen an den seltenen Mann zu gründe, dessen Name als Patriot und mutiger Freiheitsmann sich schon in unsrer Kindheit einer großen Popularität in unsrer ganzen Provinz erfreute und zu dem seine zahl¬ reichen Schüler und Anhänger wie zu einem Apostel der Freiheit emporsahen!" Das alles mag wahr und im Sinne des Verfassers wohlgemeint sein, poetisch ist es nicht. Die Erzählung und die dazwischen geschobenen Erinnerungen an Weidig machen von hier an nicht mehr den Eindruck einer Komposition, sondern den einer Zusammenstoppelung. Die Szenen, in denen über die Schutz¬ maßregeln beraten wird, welche man für Pfarrer Friedrich aussinnt und welche sich alle als unwirksam erweisen und den letzten trüben Ausgang, den Selbst¬ mord des Eingekerkerten, nicht aufhalten, sind als Romanepisoden so langweilig als möglich, zu einer Art Handlung kommt es bis zum Schlüsse des Romans nicht wieder, der Versuch, die Erzählung nach Oderwiesen zurückzuversetzen, ebenso wie der, für die Liebe des Malers Heldmann (Flambo) zu Auguste Welcker zu interessiren, verläuft ziemlich im Sande. Die Mitteilung „thatsächlichen" Materials, das heißt einer Anzahl Gedichte und Briefe Weidigs, die zum Roman nnr durch den Eindruck, welchen sie auf die junge Schwägerin hervorrufen, in Beziehung gesetzt sind, unterbricht immer wieder die wirkliche Darstellung. Es ist schwer zu verstehen, wie ein gewandter und geübter Erzähler, wie der Verfasser der „Charlotte Ackermann" und des „Stadtschultheiß von Frankfurt" (wir nennen absichtlich zwei seiner Romane, bei denen er mit besondern Stoffschwierigkeiten kämpfte und die im großen und ganzen vortrefflich durchgeführt sind) nicht gemerkt hat, daß er hier eine wahrhaft selbstzerstörende Manier befolgt. Er hat im ersten Teil des Romans den Märtyrer, den er verherrlichen will, viel zu sehr in den Hintergrund gerückt und uns viel zu sehr für eine kleine Gruppe andrer Persönlichkeiten interessirt, um so plötzlich, wie es vom zweiten Teil an geschieht, seine Position wechseln zu können. Die Anstrengungen, welche er gegen den Schluß hin macht, in den Ton reiner Darstellung wieder einzulenken, sind anerkennenswert, aber vergeblich. Mit wiederkehrender poetischer Empfindung Gttnzbotm IV. Z884, - 74

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/593>, abgerufen am 29.12.2024.