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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Lin Roman aus den dreißiger Jahren.

Eine der traurigsten und widerwärtigsten Episoden aus dem unterirdischen
und von beiden Seiten gleich gehässigen Kampfe, der in manchen deutschen
Kleinstaaten der dreißiger Jahre zwischen der Regierung auf der einen, der
Oppositionspartei auf der andern Seite stattgefunden hat, eine blutige Er¬
innerung, an welche jeder wahrhaft konservativ Gesinnte nur mit zorniger
Schamröte denken wird, und welche je nachdem von Patrioten wie von
Demagogen auch unter den gänzlich veränderten Verhältnissen der Gegenwart
in usum clslpuini angewendet oder sophistisch ausgebeutet werden kann, ein
Stück Geschichte hcrzpressender Natur, zu allem andern besser geeignet als zum
Stoff eines poetischen Werkes, ein historischer Vorgang, der nur dadurch, daß
man die Thatsachen völlig umgestaltet, überhaupt dnrstellungssähig wird, giebt
einen schönen Anlaß, eine Reihe von Deklamationen zu erneuern, die nach Lage
der Sache längst unnütz, aber in gewissen Kreisen leider noch nicht so wirkungs¬
los als unnütz geworden sind. Gegen die wunderliche Beurteilung, welche das
Buch hie und dn findet und in welcher wieder einmal einem gläubigen Publikum
versichert wird, daß der politische Kern desselben die Erörterung des literarischen
Verdienstes unnötig mache (womit wir denn gleichfalls glücklich in die dreißiger
Jahre, in die Tage des jungen Deutschland zurückversetzt wären), oder nach
welcher die allgemeine Bedeutung eines Stoffes auch die Vorgänge der Aus¬
führung bedingt wird zunächst Protest einzulegen sein. Der Romanschriftsteller
besitzt ein gutes Recht, auch gegen seine Lobredner geschützt zu werden, und wenn
er wirklich ein Werk der poetischen Darstellung gegeben hat, nicht dem Verdacht
anheimzufallen, er habe ein politisches Pamphlet in belletristischer Form in
die Welt schicken wollen. So peinlich und widerwärtig, so gänzlich unpoetisch
uns die realen Vorgänge erscheinen, welche der Erzählung "Altar und Kerker"
zu gründe liegen, so können sie dem Romanschriftsteller in ganz anderm Lichte
erschienen sein. Otto Müller ist Oberhesse, der Vogelsbcrg seine Heimat, die
Katastrophe der hessischen Geheimbündler in der Mitte der dreißiger Jahre hat
ihn jedenfalls tiefer ergriffen und erschüttert als die ferner und draußen
stehenden, die Erinnerungen an Thatsachen, welche in seine Jugendzeit gefallen
sind, können sich so mächtig und unwiderstehlich aufgedrängt haben, daß ein
poetisches Muß für ihre Gestaltung vorhanden war. Eine glückliche Einbildungs¬
kraft mag ihm selbst für einen so wenig günstig liegenden Stoff zu Hilfe gekommen
sein, und die Verknüpfung seiner Erfindung mit dem historisch gegebenen
Schicksalen Weidigs mag einen immerhin interessanten Roman ergeben. Der
Name des Erzählers ist mit Recht ein wohlangesehener, einzelne seiner Er¬
zählungen wie "Der Stadtschultheiß von Frankfurt" und "Die beiden Krüglein,"
vor allem aber die im hessischen Vogelsberg spielenden Novellen "Der Tannen¬
schütz" und "Münchhausen im Vogelsberg" sind anspruchslose, aber lebensvolle und
sorgfältig ausgeführte Arbeiten. Warum sollte ihm nicht wieder ein frisches Lebens¬
bild, in welchem eine dunkle und blutige Episode Aufnahme gefunden, gelungen sein?


Lin Roman aus den dreißiger Jahren.

Eine der traurigsten und widerwärtigsten Episoden aus dem unterirdischen
und von beiden Seiten gleich gehässigen Kampfe, der in manchen deutschen
Kleinstaaten der dreißiger Jahre zwischen der Regierung auf der einen, der
Oppositionspartei auf der andern Seite stattgefunden hat, eine blutige Er¬
innerung, an welche jeder wahrhaft konservativ Gesinnte nur mit zorniger
Schamröte denken wird, und welche je nachdem von Patrioten wie von
Demagogen auch unter den gänzlich veränderten Verhältnissen der Gegenwart
in usum clslpuini angewendet oder sophistisch ausgebeutet werden kann, ein
Stück Geschichte hcrzpressender Natur, zu allem andern besser geeignet als zum
Stoff eines poetischen Werkes, ein historischer Vorgang, der nur dadurch, daß
man die Thatsachen völlig umgestaltet, überhaupt dnrstellungssähig wird, giebt
einen schönen Anlaß, eine Reihe von Deklamationen zu erneuern, die nach Lage
der Sache längst unnütz, aber in gewissen Kreisen leider noch nicht so wirkungs¬
los als unnütz geworden sind. Gegen die wunderliche Beurteilung, welche das
Buch hie und dn findet und in welcher wieder einmal einem gläubigen Publikum
versichert wird, daß der politische Kern desselben die Erörterung des literarischen
Verdienstes unnötig mache (womit wir denn gleichfalls glücklich in die dreißiger
Jahre, in die Tage des jungen Deutschland zurückversetzt wären), oder nach
welcher die allgemeine Bedeutung eines Stoffes auch die Vorgänge der Aus¬
führung bedingt wird zunächst Protest einzulegen sein. Der Romanschriftsteller
besitzt ein gutes Recht, auch gegen seine Lobredner geschützt zu werden, und wenn
er wirklich ein Werk der poetischen Darstellung gegeben hat, nicht dem Verdacht
anheimzufallen, er habe ein politisches Pamphlet in belletristischer Form in
die Welt schicken wollen. So peinlich und widerwärtig, so gänzlich unpoetisch
uns die realen Vorgänge erscheinen, welche der Erzählung „Altar und Kerker"
zu gründe liegen, so können sie dem Romanschriftsteller in ganz anderm Lichte
erschienen sein. Otto Müller ist Oberhesse, der Vogelsbcrg seine Heimat, die
Katastrophe der hessischen Geheimbündler in der Mitte der dreißiger Jahre hat
ihn jedenfalls tiefer ergriffen und erschüttert als die ferner und draußen
stehenden, die Erinnerungen an Thatsachen, welche in seine Jugendzeit gefallen
sind, können sich so mächtig und unwiderstehlich aufgedrängt haben, daß ein
poetisches Muß für ihre Gestaltung vorhanden war. Eine glückliche Einbildungs¬
kraft mag ihm selbst für einen so wenig günstig liegenden Stoff zu Hilfe gekommen
sein, und die Verknüpfung seiner Erfindung mit dem historisch gegebenen
Schicksalen Weidigs mag einen immerhin interessanten Roman ergeben. Der
Name des Erzählers ist mit Recht ein wohlangesehener, einzelne seiner Er¬
zählungen wie „Der Stadtschultheiß von Frankfurt" und „Die beiden Krüglein,"
vor allem aber die im hessischen Vogelsberg spielenden Novellen „Der Tannen¬
schütz" und „Münchhausen im Vogelsberg" sind anspruchslose, aber lebensvolle und
sorgfältig ausgeführte Arbeiten. Warum sollte ihm nicht wieder ein frisches Lebens¬
bild, in welchem eine dunkle und blutige Episode Aufnahme gefunden, gelungen sein?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/587>, abgerufen am 29.12.2024.