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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

sonst zeigte, wie der Reichskanzler das von Herrn Virchow und dessen Freunden
aufgerichtete Reich unterwühlt und zu Falle zu bringen sucht, so stützten
wenigstens die beiden Athleten das wankende Gebäude. Aber da der andre
durch ein kleines Geldgeschäft in Braunschweig festgehalten wurde, lag diesmal
die ganze Last auf den Schultern des Herrn Richter. Wir wissen ja, daß das
Ganze nur ein lebendes Bild ist, daß die angeblichen Säulen und Quadern
nur aus Latten und Leinwand bestehen, und daß die strotzenden Muskeln,
welche deren Gewicht Widerstand leisten, in der Kunstsprache on^tous genannt
werden. Aber wir wissen auch, daß Scippho, die in die Meeresfluten springt,
von weichen Pfühlen und Decken in Empfang genommen wird, und dennoch
ergreift uns der Sprung, und wir applaudiren der kühnen Künstlerin. Daß
ein Mann, der so vielfältig beschäftigt ist, besonders so viele Reden hält und
so viele Zeitungsartikel schreibt, sich nur wenig um das bekümmern kann, was
von andern, namentlich im Auslande, geredet und geschrieben wird, das ist na¬
türlich, und nur Parteigeist kann ihm einen Vorwurf daraus machen, daß er
glaubt, die Geschäftskrise existire nur in Deutschland und sei durch die wirt¬
schaftliche Politik des Kanzlers hervorgerufen, während andre Länder viel
schwerer leiden -- daß er in seiner Unschuld und Bescheidenheit nicht ahnt, sein
Geplauder über die Befestigungsarbeiten sei Wasser auf die Mühle aller Feinde
Deutschlands und werde benutzt werden, um das Vertrauen zur Friedenspolitik
wieder zu erschüttern. Wer kann auch an alles denken, wenn er über alles
reden muß?

Nur eins möchte ich noch dem neufortschrittlichen Generalstabschef und
einigen andern Herren zu bedenken geben. Ihrer Darstellung zufolge hätte
das deutsche Volk nur die Wahl zwischen zwei Extremen: entweder die that¬
sächliche, nur mit einigen Formalitäten verbrämte Herrschaft einer durch Ma¬
joritätswahlen vermöge der abenteuerlichsten Parteikompromisse und bei Ent¬
haltung großer Bevölkerungsmassen zustandegekommenen Versammlung oder --
Absolutismus. Im Volke fängt man an, über diese Dinge ganz^anders zu denken.
Man erwägt hin und her, ob die Glückseligkeit der parlamentarisch regierten
Länder wirklich geeignet sei, unsern Neid zu erregen, man simulirt über Wahl¬
systeme, welche eine Vertretung ermöglichen sollen, die in Wahrheit das ver¬
kleinerte Abbild der Gesamtheit wäre, und dabei entfernt man sich immer weiter
von dem Glauben an die alleinseligmachende Kraft der Kopfzahlwahlen und des
Parlamentarismus. Man räsonnirt: Wenn eine junge Frau im Karneval ihr
Tagewerk zwischen Tanzen, Ausruhen vom Tanz und Schmücken zum neuen
Tanze teilt, oder ein Student die Frist zwischen zwei Kneipereien nur mit Schlaf
und Katzenjammer ausfüllt, so pflegt bei einem so "lustigen" Leben in dem einen
Falle das Hauswesen, in dem andern das Studium und in beiden die Gesundheit
Schaden zu leiden. Kann es dem jungen Reiche ersprießlich sein, wenn es in
fortwährender künstlerischer Aufregung erhalten wird dnrch Wahlschlachten und


Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

sonst zeigte, wie der Reichskanzler das von Herrn Virchow und dessen Freunden
aufgerichtete Reich unterwühlt und zu Falle zu bringen sucht, so stützten
wenigstens die beiden Athleten das wankende Gebäude. Aber da der andre
durch ein kleines Geldgeschäft in Braunschweig festgehalten wurde, lag diesmal
die ganze Last auf den Schultern des Herrn Richter. Wir wissen ja, daß das
Ganze nur ein lebendes Bild ist, daß die angeblichen Säulen und Quadern
nur aus Latten und Leinwand bestehen, und daß die strotzenden Muskeln,
welche deren Gewicht Widerstand leisten, in der Kunstsprache on^tous genannt
werden. Aber wir wissen auch, daß Scippho, die in die Meeresfluten springt,
von weichen Pfühlen und Decken in Empfang genommen wird, und dennoch
ergreift uns der Sprung, und wir applaudiren der kühnen Künstlerin. Daß
ein Mann, der so vielfältig beschäftigt ist, besonders so viele Reden hält und
so viele Zeitungsartikel schreibt, sich nur wenig um das bekümmern kann, was
von andern, namentlich im Auslande, geredet und geschrieben wird, das ist na¬
türlich, und nur Parteigeist kann ihm einen Vorwurf daraus machen, daß er
glaubt, die Geschäftskrise existire nur in Deutschland und sei durch die wirt¬
schaftliche Politik des Kanzlers hervorgerufen, während andre Länder viel
schwerer leiden — daß er in seiner Unschuld und Bescheidenheit nicht ahnt, sein
Geplauder über die Befestigungsarbeiten sei Wasser auf die Mühle aller Feinde
Deutschlands und werde benutzt werden, um das Vertrauen zur Friedenspolitik
wieder zu erschüttern. Wer kann auch an alles denken, wenn er über alles
reden muß?

Nur eins möchte ich noch dem neufortschrittlichen Generalstabschef und
einigen andern Herren zu bedenken geben. Ihrer Darstellung zufolge hätte
das deutsche Volk nur die Wahl zwischen zwei Extremen: entweder die that¬
sächliche, nur mit einigen Formalitäten verbrämte Herrschaft einer durch Ma¬
joritätswahlen vermöge der abenteuerlichsten Parteikompromisse und bei Ent¬
haltung großer Bevölkerungsmassen zustandegekommenen Versammlung oder —
Absolutismus. Im Volke fängt man an, über diese Dinge ganz^anders zu denken.
Man erwägt hin und her, ob die Glückseligkeit der parlamentarisch regierten
Länder wirklich geeignet sei, unsern Neid zu erregen, man simulirt über Wahl¬
systeme, welche eine Vertretung ermöglichen sollen, die in Wahrheit das ver¬
kleinerte Abbild der Gesamtheit wäre, und dabei entfernt man sich immer weiter
von dem Glauben an die alleinseligmachende Kraft der Kopfzahlwahlen und des
Parlamentarismus. Man räsonnirt: Wenn eine junge Frau im Karneval ihr
Tagewerk zwischen Tanzen, Ausruhen vom Tanz und Schmücken zum neuen
Tanze teilt, oder ein Student die Frist zwischen zwei Kneipereien nur mit Schlaf
und Katzenjammer ausfüllt, so pflegt bei einem so „lustigen" Leben in dem einen
Falle das Hauswesen, in dem andern das Studium und in beiden die Gesundheit
Schaden zu leiden. Kann es dem jungen Reiche ersprießlich sein, wenn es in
fortwährender künstlerischer Aufregung erhalten wird dnrch Wahlschlachten und


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[0539] Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten. sonst zeigte, wie der Reichskanzler das von Herrn Virchow und dessen Freunden aufgerichtete Reich unterwühlt und zu Falle zu bringen sucht, so stützten wenigstens die beiden Athleten das wankende Gebäude. Aber da der andre durch ein kleines Geldgeschäft in Braunschweig festgehalten wurde, lag diesmal die ganze Last auf den Schultern des Herrn Richter. Wir wissen ja, daß das Ganze nur ein lebendes Bild ist, daß die angeblichen Säulen und Quadern nur aus Latten und Leinwand bestehen, und daß die strotzenden Muskeln, welche deren Gewicht Widerstand leisten, in der Kunstsprache on^tous genannt werden. Aber wir wissen auch, daß Scippho, die in die Meeresfluten springt, von weichen Pfühlen und Decken in Empfang genommen wird, und dennoch ergreift uns der Sprung, und wir applaudiren der kühnen Künstlerin. Daß ein Mann, der so vielfältig beschäftigt ist, besonders so viele Reden hält und so viele Zeitungsartikel schreibt, sich nur wenig um das bekümmern kann, was von andern, namentlich im Auslande, geredet und geschrieben wird, das ist na¬ türlich, und nur Parteigeist kann ihm einen Vorwurf daraus machen, daß er glaubt, die Geschäftskrise existire nur in Deutschland und sei durch die wirt¬ schaftliche Politik des Kanzlers hervorgerufen, während andre Länder viel schwerer leiden — daß er in seiner Unschuld und Bescheidenheit nicht ahnt, sein Geplauder über die Befestigungsarbeiten sei Wasser auf die Mühle aller Feinde Deutschlands und werde benutzt werden, um das Vertrauen zur Friedenspolitik wieder zu erschüttern. Wer kann auch an alles denken, wenn er über alles reden muß? Nur eins möchte ich noch dem neufortschrittlichen Generalstabschef und einigen andern Herren zu bedenken geben. Ihrer Darstellung zufolge hätte das deutsche Volk nur die Wahl zwischen zwei Extremen: entweder die that¬ sächliche, nur mit einigen Formalitäten verbrämte Herrschaft einer durch Ma¬ joritätswahlen vermöge der abenteuerlichsten Parteikompromisse und bei Ent¬ haltung großer Bevölkerungsmassen zustandegekommenen Versammlung oder — Absolutismus. Im Volke fängt man an, über diese Dinge ganz^anders zu denken. Man erwägt hin und her, ob die Glückseligkeit der parlamentarisch regierten Länder wirklich geeignet sei, unsern Neid zu erregen, man simulirt über Wahl¬ systeme, welche eine Vertretung ermöglichen sollen, die in Wahrheit das ver¬ kleinerte Abbild der Gesamtheit wäre, und dabei entfernt man sich immer weiter von dem Glauben an die alleinseligmachende Kraft der Kopfzahlwahlen und des Parlamentarismus. Man räsonnirt: Wenn eine junge Frau im Karneval ihr Tagewerk zwischen Tanzen, Ausruhen vom Tanz und Schmücken zum neuen Tanze teilt, oder ein Student die Frist zwischen zwei Kneipereien nur mit Schlaf und Katzenjammer ausfüllt, so pflegt bei einem so „lustigen" Leben in dem einen Falle das Hauswesen, in dem andern das Studium und in beiden die Gesundheit Schaden zu leiden. Kann es dem jungen Reiche ersprießlich sein, wenn es in fortwährender künstlerischer Aufregung erhalten wird dnrch Wahlschlachten und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/539>, abgerufen am 29.12.2024.