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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

Herr von Stauffenberg sieht auch in dem häufigen Wechsel der Personen
im Reichstage einen Übelstand. Merkwürdig! Sonst hat man es gerade als
einen Vorzug der durch Wahl zusammenberufenen und in gewissen Zeiträumen
erneuerten Körperschaften gepriesen, daß ihnen fortwährend frisches Blut zuge¬
führt wird. Freilich muß es einem "Berufsparlamentarier" sehr störend sein,
wenn er plötzlich für eine ganze Legislaturperiode Urlaub erhält, um den er
garnicht eingekommen ist. Er hat vielleicht seine Existenz auf das Volksver-
treter eingerichtet, weiß daher mit seiner Zeit nichts rechtes anzufangen, bedarf
der parlamentarischen Aufregungen zu seinem Wohlbefinden, soll seine großen
Reden hinunterschlucken oder nur die Familie als Zuhörerschaft haben -- eine
solche Störung der Lebensgewohnheiten kann gewiß höchst lästige Folgen haben.
Aber welches Mittel giebt es dagegen? Höchstens die Ernennung zum Abge¬
ordneten auf Lebenszeit.

Ebenso verdrießlich mag es sein, die Reise, etwa aus einem ostpreußischen
Wahlbezirke, nach Berlin nicht mehr über Dresden, München, Heidelberg, Köln,
Hamburg machen zu können -- kostenfrei nämlich. Doch was diese Frage mit
dem Wohle des Vaterlandes, um dessenwillen wir hier versammelt sind und das
uns allen ja über alles geht, zu schaffen habe, das ist mir noch nicht einge¬
gangen. Ich hoffte durch diese Debatte darüber aufgeklärt zu werden, sah mich
aber getäuscht. Es soll der Würde des Reichstages abträglich sein, wenn der
Abgeordnete auf einer Reise, die er nicht in seiner Eigenschaft als Abgeordneter
unternimmt, seine Eisenbahnkarte, wie andre Leute, aus der eignen Tasche, an¬
statt -- "aus der Tasche der Steuerzahler" bezahlen muß? Das begreife ein
andrer! Ließe sich nicht mit demselben Rechte für alle Staatsbeamten und
Militärs freie Fahrt beanspruchen, solange sie im Dienste sind? Und was die
"Würde" betrifft, so hätte meines Trachtens diese schwerlich gelitten, wenn die
Herren unterlassen hätten, sich eines Vorrechtes so warm anzunehmen. Sie
sind ja sonst keine Freunde von Privilegien. Der Herr Kollege Auer meinte,
wenn die Benutzung der Freikarte für jede beliebige Fahrt ein Mißbrauch sei,
mache er sich eines solchen auch schuldig, indem er auf Reichstagspapier an
seine Frau schreibe; es thut mir leid, aber ich muß ihm das Zeugnis aus¬
stellen, daß dieser Witz ihm Anspruch giebt, bei den Freisinnigen zu hospitiren.

Den größten Genuß verdanken wir wie gewöhnlich Herrn Richter. Als
er dem Reichskanzler auf die Bemerkung, er habe sich von ganz Europa nicht
imponiren lassen, mit der Entgegnung diente, der Kanzler stelle die Opposition
auf eine Linie mit Franzosen und Russen, da sagte sich wohl ein jeder: Glück¬
liches Deutschland, das Männer von solchem Geiste in sein Parlament schicken
kann! Und unmittelbar nach dieser eminenten Leistung im Blumenthalschen
höhern Lustspielton die anstrengendste Rolle in dem großen Schaustücke "Der
Zusammenbruch der Bismarckischen Politik," doppelt anstrengend diesmal, da
Herr Windthorst verhindert war, seinen Part durchzuführen. Wenn man uns


Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

Herr von Stauffenberg sieht auch in dem häufigen Wechsel der Personen
im Reichstage einen Übelstand. Merkwürdig! Sonst hat man es gerade als
einen Vorzug der durch Wahl zusammenberufenen und in gewissen Zeiträumen
erneuerten Körperschaften gepriesen, daß ihnen fortwährend frisches Blut zuge¬
führt wird. Freilich muß es einem „Berufsparlamentarier" sehr störend sein,
wenn er plötzlich für eine ganze Legislaturperiode Urlaub erhält, um den er
garnicht eingekommen ist. Er hat vielleicht seine Existenz auf das Volksver-
treter eingerichtet, weiß daher mit seiner Zeit nichts rechtes anzufangen, bedarf
der parlamentarischen Aufregungen zu seinem Wohlbefinden, soll seine großen
Reden hinunterschlucken oder nur die Familie als Zuhörerschaft haben — eine
solche Störung der Lebensgewohnheiten kann gewiß höchst lästige Folgen haben.
Aber welches Mittel giebt es dagegen? Höchstens die Ernennung zum Abge¬
ordneten auf Lebenszeit.

Ebenso verdrießlich mag es sein, die Reise, etwa aus einem ostpreußischen
Wahlbezirke, nach Berlin nicht mehr über Dresden, München, Heidelberg, Köln,
Hamburg machen zu können — kostenfrei nämlich. Doch was diese Frage mit
dem Wohle des Vaterlandes, um dessenwillen wir hier versammelt sind und das
uns allen ja über alles geht, zu schaffen habe, das ist mir noch nicht einge¬
gangen. Ich hoffte durch diese Debatte darüber aufgeklärt zu werden, sah mich
aber getäuscht. Es soll der Würde des Reichstages abträglich sein, wenn der
Abgeordnete auf einer Reise, die er nicht in seiner Eigenschaft als Abgeordneter
unternimmt, seine Eisenbahnkarte, wie andre Leute, aus der eignen Tasche, an¬
statt — „aus der Tasche der Steuerzahler" bezahlen muß? Das begreife ein
andrer! Ließe sich nicht mit demselben Rechte für alle Staatsbeamten und
Militärs freie Fahrt beanspruchen, solange sie im Dienste sind? Und was die
„Würde" betrifft, so hätte meines Trachtens diese schwerlich gelitten, wenn die
Herren unterlassen hätten, sich eines Vorrechtes so warm anzunehmen. Sie
sind ja sonst keine Freunde von Privilegien. Der Herr Kollege Auer meinte,
wenn die Benutzung der Freikarte für jede beliebige Fahrt ein Mißbrauch sei,
mache er sich eines solchen auch schuldig, indem er auf Reichstagspapier an
seine Frau schreibe; es thut mir leid, aber ich muß ihm das Zeugnis aus¬
stellen, daß dieser Witz ihm Anspruch giebt, bei den Freisinnigen zu hospitiren.

Den größten Genuß verdanken wir wie gewöhnlich Herrn Richter. Als
er dem Reichskanzler auf die Bemerkung, er habe sich von ganz Europa nicht
imponiren lassen, mit der Entgegnung diente, der Kanzler stelle die Opposition
auf eine Linie mit Franzosen und Russen, da sagte sich wohl ein jeder: Glück¬
liches Deutschland, das Männer von solchem Geiste in sein Parlament schicken
kann! Und unmittelbar nach dieser eminenten Leistung im Blumenthalschen
höhern Lustspielton die anstrengendste Rolle in dem großen Schaustücke „Der
Zusammenbruch der Bismarckischen Politik," doppelt anstrengend diesmal, da
Herr Windthorst verhindert war, seinen Part durchzuführen. Wenn man uns


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/538>, abgerufen am 29.12.2024.