Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Zunahme des Soztalismus.

Konkurrenz, des mcmchesterlichen Gehenlassens gelöst werden könnten, scheint
sonach wenigstens bei einem Teile dieser Politiker zu weichen und die nahende
große Gefahr infolge des Ausfalles der neuesten Wahlen demselben zum Be¬
wußtsein zu kommen, während allerdings der echte Fortschritt immer noch in
seinem Wesen verharrt, als lasse sich die von ihm bethörte Masse auch fernerhin
mit seinen verbrauchten Phrasen abspeisen, und als sei er imstande, durch die
stets wiederholten Klagen über Mangel an politischer Freiheit das Volk über
seine wahren Bedürfnisse hinwegzutäuschen und dabei sich selbst im ungestörten
Besitze der angenehm erworbenen Reichtümer zu erhalten.

Daß die große Mehrzahl der den Sozialisten zugefallenen Stimmen sich
aus früher fortschrittlichen Kreisen gebildet hat, ist ganz in der Ordnung, denn
der Liberalismus hat die Sozialdemokratie, wie die Führer der letzteren selbst
oft genug anerkannt haben, erzeugt und großgezogen und der altersschwache
Vater wird naturgemäß von dem kräftigeren Sohne abgelöst. Vom Liberalismus
haben die Sozialdemokraten die materialistische Weltanschauung gelernt und auf
das politische und soziale Gebiet übertragen; die unter der Herrschaft der libe¬
ralen Politik 'etablirte schrankenlose Ausbeutung der wirtschaftlich Schwachen
durch die Starken, die unbeschränkte Macht des Großkapitals hat seine Früchte
gezeitigt. Wer will sich jetzt uoch wundern, wenn der infolge der famosen Aus-
beutuugsfreiheit von seinem Arbeitgeber vollständig abhängige Arbeiter, der nie
zu einer gewerblichen Selbständigkeit gelangen kann, sondern lediglich auf seinen
Tagelohn angewiesen ist, immer dringender darnach strebt, seiner Lage ein Ende
zu machen?

Die sozialreformatorischen Gesetzesvorschläge sind von der Regierung in
richtiger Würdigung der Unzulänglichkeit der wirtschaftlichen Lage des Arbeiters
gemacht worden, und mit den bis jetzt durchgeführten Gesetzen ist wenigstens ein
Schritt auf dem Wege zur Besserung dieser Lage gethan worden. Zur wirk¬
samen Förderung der weiteren Schritte aber wird dem Arbeiter die Einsicht
dienen, daß allerdings nicht die von den Demokraten gepredigte politische Frei¬
heit, sondern die von der Regierung ihm gewährte wirtschaftliche Unabhängig¬
keit das von ihm zu erstrebende Ziel ist, und daß dieses Ziel sehr Wohl mit
der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung vereinbar ist. Das fortwäh¬
rende Bestreben der Sozialistenführer ist freilich darauf gerichtet, der Masse das
Gegenteil einzureden, und bei den in der That bestehenden Mängeln des Ver¬
hältnisses zwischen Kapital und Arbeit ist es den rührigen Agitatoren nicht
schwer geworden, den weniger gewandten und einsichtsvollen Arbeiter glauben
zu machen, das Bestehen der vorhandenen staatlichen und gesellschaftlichen Ord¬
nung sei mit einem befriedigenden Zustande der lvhnarbeitenden Klasse unver¬
einbar, die Erreichung eines solchen Zustandes sei nur durch den Umsturz der
ganzen bestehenden Gesellschaft möglich. Wenn auch zweifellos die Mehrheit
der sozialistischen Führer selbst davon überzeugt ist, daß die von ihnen verbrei-


Die Zunahme des Soztalismus.

Konkurrenz, des mcmchesterlichen Gehenlassens gelöst werden könnten, scheint
sonach wenigstens bei einem Teile dieser Politiker zu weichen und die nahende
große Gefahr infolge des Ausfalles der neuesten Wahlen demselben zum Be¬
wußtsein zu kommen, während allerdings der echte Fortschritt immer noch in
seinem Wesen verharrt, als lasse sich die von ihm bethörte Masse auch fernerhin
mit seinen verbrauchten Phrasen abspeisen, und als sei er imstande, durch die
stets wiederholten Klagen über Mangel an politischer Freiheit das Volk über
seine wahren Bedürfnisse hinwegzutäuschen und dabei sich selbst im ungestörten
Besitze der angenehm erworbenen Reichtümer zu erhalten.

Daß die große Mehrzahl der den Sozialisten zugefallenen Stimmen sich
aus früher fortschrittlichen Kreisen gebildet hat, ist ganz in der Ordnung, denn
der Liberalismus hat die Sozialdemokratie, wie die Führer der letzteren selbst
oft genug anerkannt haben, erzeugt und großgezogen und der altersschwache
Vater wird naturgemäß von dem kräftigeren Sohne abgelöst. Vom Liberalismus
haben die Sozialdemokraten die materialistische Weltanschauung gelernt und auf
das politische und soziale Gebiet übertragen; die unter der Herrschaft der libe¬
ralen Politik 'etablirte schrankenlose Ausbeutung der wirtschaftlich Schwachen
durch die Starken, die unbeschränkte Macht des Großkapitals hat seine Früchte
gezeitigt. Wer will sich jetzt uoch wundern, wenn der infolge der famosen Aus-
beutuugsfreiheit von seinem Arbeitgeber vollständig abhängige Arbeiter, der nie
zu einer gewerblichen Selbständigkeit gelangen kann, sondern lediglich auf seinen
Tagelohn angewiesen ist, immer dringender darnach strebt, seiner Lage ein Ende
zu machen?

Die sozialreformatorischen Gesetzesvorschläge sind von der Regierung in
richtiger Würdigung der Unzulänglichkeit der wirtschaftlichen Lage des Arbeiters
gemacht worden, und mit den bis jetzt durchgeführten Gesetzen ist wenigstens ein
Schritt auf dem Wege zur Besserung dieser Lage gethan worden. Zur wirk¬
samen Förderung der weiteren Schritte aber wird dem Arbeiter die Einsicht
dienen, daß allerdings nicht die von den Demokraten gepredigte politische Frei¬
heit, sondern die von der Regierung ihm gewährte wirtschaftliche Unabhängig¬
keit das von ihm zu erstrebende Ziel ist, und daß dieses Ziel sehr Wohl mit
der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung vereinbar ist. Das fortwäh¬
rende Bestreben der Sozialistenführer ist freilich darauf gerichtet, der Masse das
Gegenteil einzureden, und bei den in der That bestehenden Mängeln des Ver¬
hältnisses zwischen Kapital und Arbeit ist es den rührigen Agitatoren nicht
schwer geworden, den weniger gewandten und einsichtsvollen Arbeiter glauben
zu machen, das Bestehen der vorhandenen staatlichen und gesellschaftlichen Ord¬
nung sei mit einem befriedigenden Zustande der lvhnarbeitenden Klasse unver¬
einbar, die Erreichung eines solchen Zustandes sei nur durch den Umsturz der
ganzen bestehenden Gesellschaft möglich. Wenn auch zweifellos die Mehrheit
der sozialistischen Führer selbst davon überzeugt ist, daß die von ihnen verbrei-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0498" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157423"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Zunahme des Soztalismus.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1741" prev="#ID_1740"> Konkurrenz, des mcmchesterlichen Gehenlassens gelöst werden könnten, scheint<lb/>
sonach wenigstens bei einem Teile dieser Politiker zu weichen und die nahende<lb/>
große Gefahr infolge des Ausfalles der neuesten Wahlen demselben zum Be¬<lb/>
wußtsein zu kommen, während allerdings der echte Fortschritt immer noch in<lb/>
seinem Wesen verharrt, als lasse sich die von ihm bethörte Masse auch fernerhin<lb/>
mit seinen verbrauchten Phrasen abspeisen, und als sei er imstande, durch die<lb/>
stets wiederholten Klagen über Mangel an politischer Freiheit das Volk über<lb/>
seine wahren Bedürfnisse hinwegzutäuschen und dabei sich selbst im ungestörten<lb/>
Besitze der angenehm erworbenen Reichtümer zu erhalten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1742"> Daß die große Mehrzahl der den Sozialisten zugefallenen Stimmen sich<lb/>
aus früher fortschrittlichen Kreisen gebildet hat, ist ganz in der Ordnung, denn<lb/>
der Liberalismus hat die Sozialdemokratie, wie die Führer der letzteren selbst<lb/>
oft genug anerkannt haben, erzeugt und großgezogen und der altersschwache<lb/>
Vater wird naturgemäß von dem kräftigeren Sohne abgelöst. Vom Liberalismus<lb/>
haben die Sozialdemokraten die materialistische Weltanschauung gelernt und auf<lb/>
das politische und soziale Gebiet übertragen; die unter der Herrschaft der libe¬<lb/>
ralen Politik 'etablirte schrankenlose Ausbeutung der wirtschaftlich Schwachen<lb/>
durch die Starken, die unbeschränkte Macht des Großkapitals hat seine Früchte<lb/>
gezeitigt. Wer will sich jetzt uoch wundern, wenn der infolge der famosen Aus-<lb/>
beutuugsfreiheit von seinem Arbeitgeber vollständig abhängige Arbeiter, der nie<lb/>
zu einer gewerblichen Selbständigkeit gelangen kann, sondern lediglich auf seinen<lb/>
Tagelohn angewiesen ist, immer dringender darnach strebt, seiner Lage ein Ende<lb/>
zu machen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1743" next="#ID_1744"> Die sozialreformatorischen Gesetzesvorschläge sind von der Regierung in<lb/>
richtiger Würdigung der Unzulänglichkeit der wirtschaftlichen Lage des Arbeiters<lb/>
gemacht worden, und mit den bis jetzt durchgeführten Gesetzen ist wenigstens ein<lb/>
Schritt auf dem Wege zur Besserung dieser Lage gethan worden. Zur wirk¬<lb/>
samen Förderung der weiteren Schritte aber wird dem Arbeiter die Einsicht<lb/>
dienen, daß allerdings nicht die von den Demokraten gepredigte politische Frei¬<lb/>
heit, sondern die von der Regierung ihm gewährte wirtschaftliche Unabhängig¬<lb/>
keit das von ihm zu erstrebende Ziel ist, und daß dieses Ziel sehr Wohl mit<lb/>
der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung vereinbar ist. Das fortwäh¬<lb/>
rende Bestreben der Sozialistenführer ist freilich darauf gerichtet, der Masse das<lb/>
Gegenteil einzureden, und bei den in der That bestehenden Mängeln des Ver¬<lb/>
hältnisses zwischen Kapital und Arbeit ist es den rührigen Agitatoren nicht<lb/>
schwer geworden, den weniger gewandten und einsichtsvollen Arbeiter glauben<lb/>
zu machen, das Bestehen der vorhandenen staatlichen und gesellschaftlichen Ord¬<lb/>
nung sei mit einem befriedigenden Zustande der lvhnarbeitenden Klasse unver¬<lb/>
einbar, die Erreichung eines solchen Zustandes sei nur durch den Umsturz der<lb/>
ganzen bestehenden Gesellschaft möglich. Wenn auch zweifellos die Mehrheit<lb/>
der sozialistischen Führer selbst davon überzeugt ist, daß die von ihnen verbrei-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0498] Die Zunahme des Soztalismus. Konkurrenz, des mcmchesterlichen Gehenlassens gelöst werden könnten, scheint sonach wenigstens bei einem Teile dieser Politiker zu weichen und die nahende große Gefahr infolge des Ausfalles der neuesten Wahlen demselben zum Be¬ wußtsein zu kommen, während allerdings der echte Fortschritt immer noch in seinem Wesen verharrt, als lasse sich die von ihm bethörte Masse auch fernerhin mit seinen verbrauchten Phrasen abspeisen, und als sei er imstande, durch die stets wiederholten Klagen über Mangel an politischer Freiheit das Volk über seine wahren Bedürfnisse hinwegzutäuschen und dabei sich selbst im ungestörten Besitze der angenehm erworbenen Reichtümer zu erhalten. Daß die große Mehrzahl der den Sozialisten zugefallenen Stimmen sich aus früher fortschrittlichen Kreisen gebildet hat, ist ganz in der Ordnung, denn der Liberalismus hat die Sozialdemokratie, wie die Führer der letzteren selbst oft genug anerkannt haben, erzeugt und großgezogen und der altersschwache Vater wird naturgemäß von dem kräftigeren Sohne abgelöst. Vom Liberalismus haben die Sozialdemokraten die materialistische Weltanschauung gelernt und auf das politische und soziale Gebiet übertragen; die unter der Herrschaft der libe¬ ralen Politik 'etablirte schrankenlose Ausbeutung der wirtschaftlich Schwachen durch die Starken, die unbeschränkte Macht des Großkapitals hat seine Früchte gezeitigt. Wer will sich jetzt uoch wundern, wenn der infolge der famosen Aus- beutuugsfreiheit von seinem Arbeitgeber vollständig abhängige Arbeiter, der nie zu einer gewerblichen Selbständigkeit gelangen kann, sondern lediglich auf seinen Tagelohn angewiesen ist, immer dringender darnach strebt, seiner Lage ein Ende zu machen? Die sozialreformatorischen Gesetzesvorschläge sind von der Regierung in richtiger Würdigung der Unzulänglichkeit der wirtschaftlichen Lage des Arbeiters gemacht worden, und mit den bis jetzt durchgeführten Gesetzen ist wenigstens ein Schritt auf dem Wege zur Besserung dieser Lage gethan worden. Zur wirk¬ samen Förderung der weiteren Schritte aber wird dem Arbeiter die Einsicht dienen, daß allerdings nicht die von den Demokraten gepredigte politische Frei¬ heit, sondern die von der Regierung ihm gewährte wirtschaftliche Unabhängig¬ keit das von ihm zu erstrebende Ziel ist, und daß dieses Ziel sehr Wohl mit der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung vereinbar ist. Das fortwäh¬ rende Bestreben der Sozialistenführer ist freilich darauf gerichtet, der Masse das Gegenteil einzureden, und bei den in der That bestehenden Mängeln des Ver¬ hältnisses zwischen Kapital und Arbeit ist es den rührigen Agitatoren nicht schwer geworden, den weniger gewandten und einsichtsvollen Arbeiter glauben zu machen, das Bestehen der vorhandenen staatlichen und gesellschaftlichen Ord¬ nung sei mit einem befriedigenden Zustande der lvhnarbeitenden Klasse unver¬ einbar, die Erreichung eines solchen Zustandes sei nur durch den Umsturz der ganzen bestehenden Gesellschaft möglich. Wenn auch zweifellos die Mehrheit der sozialistischen Führer selbst davon überzeugt ist, daß die von ihnen verbrei-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/498
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/498>, abgerufen am 29.12.2024.