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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Auch ein deutscher Literarhistoriker.

Dies mag genügen, um zu zeigen, welche Verballhornung Scherers meisterhafte
Darstellung in diesem Buche zu erleiden gehabt hat.

Zuweilen, wenn dem Verfasser das Gewissen schlug, hat er die wörtlichen Ent¬
lehnungen aus andern Werken zwischen Anführungszeichen gesetzt, ohne jedoch seine
Gläubiger irgendwie namhaft zu machen. D^is Abschreiben ist aber, wenn die
nötige Vorsicht fehlt, ein gefährlich Ding: irgendein schnurriger Zufall spielt
dem Federbetten einen bösen Streich; so, wenn er etwas nachredet, was in
geradem Gegensatze zu einer an andern Stellen seines Buches vertretenen Mei¬
nung steht, mögen diese andern Stellen selbst nun Erzeugnis eigner Arbeit oder
gleichfalls Schmuggelwaare sein. In der Einleitung charakterisirt Herr Weddigen
im Lapidarstile die älteste Volksdichtung: "Sie war Gesang, und aller Gesang
war episch" (S. 1). Diese veraltete Weisheit der Lehrbücher der Poetik ist
aber zum Glück bald darauf (S. 7) vergessen, und nun erfahren wir durch
ein Zitat aus einem nicht weiter namhaft gemachten, besser unterrichteten Autor
-- es ist niemand anders als Uhland --, daß die älteste Volksdichtung die
Keime der poetischen Grundformen -- lyrisch, episch, dramatisch -- noch unge¬
schieden in sich berge. Nur nebenbei sei bemerkt, daß diese Stelle aus Uhland
von Herrn Weddigen nicht einmal richtig aufgefaßt worden ist, da er die gesamte
älteste Volksdichtung und das spätere lyrische Volkslied durchaus gleichsetzt und
damit die eben gewonnene Klarheit wieder in trübste Verwirrung wandelt.

Herrn Weddigens größte Seite ist wohl seine Sprache. Die stilistische
Behandlung des Stoffes, ja die einfache Logik des Ausdrucks läßt in den
Teilen, die anscheinend seine eigne Gedankenarbeit sind, soviel zu wünschen
übrig, daß man nicht ohne Beschämung daran denken kann, wie ein deutscher
Schriftsteller, der zugleich für mehrere Journale schreibt -- und ist es auch
nur das "Magazin für die Literatur des Auslandes" und ähnliches -- dem
gebildeten deutschen Publikum, für das sein Buch doch wohl bestimmt ist, der¬
artige Sudeleien zu bieten wagen darf. So flüchtig hat der Verfasser seine
Arbeit zusammengeschrieben, sowenig hat ihm Klarheit und Bestimmtheit des
Ausdruckes am Herzen gelegen, oder vielmehr sowenig scheint er dazu befähigt,
daß es ihm nicht selten begegnet ist, gerade das Gegenteil von dem zu sagen,
was er im Sinne hat. Wo wir nicht gerade auf Schiefheit im Ausdruck,
Widersprüche oder Zusammenhangslosigkeit im Denken stoßen, sind wir ja zu¬
frieden, den Inhalt in der Form zu genießen, den man treffend als den voll¬
endeten Schlafrockstil bezeichnet hat: jenen bei der niedern Mittelmäßigkeit in
Deutschland noch so sehr üblichen Stil, der sich von einer abgegriffenem Redens¬
art zur andern weiterschleppt und in seinen Sätzen, die nur für das Auge,
nicht auch für das Ohr bestimmt sind, alles andre, nur nicht Wohlklang, schöne
Wortfolge, künstlerische Abrundung erstrebt. Seite 6 heißt es: "In den ersten
fünfzehn Jahrhunderten unsrer Zeitrechnung hat man die Bedeutung unsrer
Volkspoesie allzusehr in den Schatten gestellt und nur der Entfaltung und


Auch ein deutscher Literarhistoriker.

Dies mag genügen, um zu zeigen, welche Verballhornung Scherers meisterhafte
Darstellung in diesem Buche zu erleiden gehabt hat.

Zuweilen, wenn dem Verfasser das Gewissen schlug, hat er die wörtlichen Ent¬
lehnungen aus andern Werken zwischen Anführungszeichen gesetzt, ohne jedoch seine
Gläubiger irgendwie namhaft zu machen. D^is Abschreiben ist aber, wenn die
nötige Vorsicht fehlt, ein gefährlich Ding: irgendein schnurriger Zufall spielt
dem Federbetten einen bösen Streich; so, wenn er etwas nachredet, was in
geradem Gegensatze zu einer an andern Stellen seines Buches vertretenen Mei¬
nung steht, mögen diese andern Stellen selbst nun Erzeugnis eigner Arbeit oder
gleichfalls Schmuggelwaare sein. In der Einleitung charakterisirt Herr Weddigen
im Lapidarstile die älteste Volksdichtung: „Sie war Gesang, und aller Gesang
war episch" (S. 1). Diese veraltete Weisheit der Lehrbücher der Poetik ist
aber zum Glück bald darauf (S. 7) vergessen, und nun erfahren wir durch
ein Zitat aus einem nicht weiter namhaft gemachten, besser unterrichteten Autor
— es ist niemand anders als Uhland —, daß die älteste Volksdichtung die
Keime der poetischen Grundformen — lyrisch, episch, dramatisch — noch unge¬
schieden in sich berge. Nur nebenbei sei bemerkt, daß diese Stelle aus Uhland
von Herrn Weddigen nicht einmal richtig aufgefaßt worden ist, da er die gesamte
älteste Volksdichtung und das spätere lyrische Volkslied durchaus gleichsetzt und
damit die eben gewonnene Klarheit wieder in trübste Verwirrung wandelt.

Herrn Weddigens größte Seite ist wohl seine Sprache. Die stilistische
Behandlung des Stoffes, ja die einfache Logik des Ausdrucks läßt in den
Teilen, die anscheinend seine eigne Gedankenarbeit sind, soviel zu wünschen
übrig, daß man nicht ohne Beschämung daran denken kann, wie ein deutscher
Schriftsteller, der zugleich für mehrere Journale schreibt — und ist es auch
nur das „Magazin für die Literatur des Auslandes" und ähnliches — dem
gebildeten deutschen Publikum, für das sein Buch doch wohl bestimmt ist, der¬
artige Sudeleien zu bieten wagen darf. So flüchtig hat der Verfasser seine
Arbeit zusammengeschrieben, sowenig hat ihm Klarheit und Bestimmtheit des
Ausdruckes am Herzen gelegen, oder vielmehr sowenig scheint er dazu befähigt,
daß es ihm nicht selten begegnet ist, gerade das Gegenteil von dem zu sagen,
was er im Sinne hat. Wo wir nicht gerade auf Schiefheit im Ausdruck,
Widersprüche oder Zusammenhangslosigkeit im Denken stoßen, sind wir ja zu¬
frieden, den Inhalt in der Form zu genießen, den man treffend als den voll¬
endeten Schlafrockstil bezeichnet hat: jenen bei der niedern Mittelmäßigkeit in
Deutschland noch so sehr üblichen Stil, der sich von einer abgegriffenem Redens¬
art zur andern weiterschleppt und in seinen Sätzen, die nur für das Auge,
nicht auch für das Ohr bestimmt sind, alles andre, nur nicht Wohlklang, schöne
Wortfolge, künstlerische Abrundung erstrebt. Seite 6 heißt es: „In den ersten
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Volkspoesie allzusehr in den Schatten gestellt und nur der Entfaltung und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/280>, abgerufen am 10.01.2025.