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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Lchiller und Bürger.

in dem Gedicht "Ich lauschte mit Molly tief zwischen dem Korn" für einen
großen Teil des Publikums gewiß schon zuviel aus seinem Leben erzählt, sich
aber gerade auch dieser Liebeslieder wegen als einen echten Volksdichter, etwa
als einen deutschen Troubadour, betrachtet hatte. Daß der neueste Heraus¬
geber von Bürgers Gedichten, A. Sauer in Graz (Stuttgart, Spemann), überall
mit Recht den Text der Ausgabe von 1789, auf welche Schillers Rezension noch
keinen Einfluß gehabt hatte, wiederherstellt, ist nur eine schwache Genugthuung
für Bürger, weil man darin auch die Anerkennung des Schillerschen Satzes sehen
könnte, daß die aus Mängeln der sittlichen und intellektuellen Entwicklung eines
Dichters entspringenden Fehler des Gedichtes keine Feile hinwegnehmen könne.

Daß übrigens Bürger in den epischen Gedichten (abgesehen von den ko¬
mischen) weit weniger als in den erotischen Liedern sich seine Aufgabe im all¬
gemeinen etwas zu niedrig gestellt hat, beweist schon der Umstand, daß er gerade
da, wo er von den vaterländischen Stoffen redet, sich auf Klopstock beruft.
Bürger hat bei den von ihm überhaupt für die Lyrik verlangten vaterländischen
Stoffen doch vorzugsweise an die Ballade gedacht. Die Ballade ist der auch
schon von Schiller ahnungsvoll anerkannte Ausnahmepunkt, auf dem die Poesie
in der That nur vaterländische Stoffe gebrauchen kann. Ist doch die Ballade
an die Stelle des alten Heldengedichtes getreten, welches in jeder Beziehung
national war.

Balladen und Romanzen, sagt Bischer, sind Abkömmlinge der alten Helden¬
lieder.*) Wilhelm Wackernagel zeigt, wie das Volk im sechzehnten Jahrhundert
lyrische Lieder dichtete: "Rein lyrische sowohl als solche, in denen die Lyrik sich
mit einer Epik von ungeschichtlicher und unsagenhafter Art vereinte, Balladen,
wie man sie nennen mag .... zumeist also Liebeslieder .... auch die Bal¬
laden erzählten fast nur von der Liebe Lust und Leid."**)

Der Unterschied von Ballade und Romanze, den Echtermeyer früher mehr
in den Inhalt setzte, wird jetzt richtiger mehr auf die Form des Gedichtes be¬
zogen. "Die Ballade, sagt Gottschall,***) ist von seelenvoller Kürze, die Ro¬
manze von farbenreicher Ausführung. Die Ballade hebt die Handlung in iber
Stimmung auf, die Romanze die Stimmung in der Handlung; die Ballade ist
ein Lied, die Romanze eine Erzählung."

Wenn Echtermeyer es als das Wesentliche der Ballade betrachtete, daß
in ihr eine dunkle Naturgewalt den Sieg davonträgt, während in der Romanze
die sittliche Idee triumphirt, so hatte er insofern einigermaßen das Richtige ge¬
troffen, als der Inhalt, welchen er der Ballade zuschreibt, von der kurzen,
volkstümlichen Form untrennbar ist, und derjenige, den er der Romanze zu-





") Ästhetik, 3. T., 2. Abschn., S. 13S8--1366,
**) Gesch. der deutschen Lie. (18S1), 1. Abt., S. 393.
***) Poetik, 3. Aufl., S. 48.
Lchiller und Bürger.

in dem Gedicht „Ich lauschte mit Molly tief zwischen dem Korn" für einen
großen Teil des Publikums gewiß schon zuviel aus seinem Leben erzählt, sich
aber gerade auch dieser Liebeslieder wegen als einen echten Volksdichter, etwa
als einen deutschen Troubadour, betrachtet hatte. Daß der neueste Heraus¬
geber von Bürgers Gedichten, A. Sauer in Graz (Stuttgart, Spemann), überall
mit Recht den Text der Ausgabe von 1789, auf welche Schillers Rezension noch
keinen Einfluß gehabt hatte, wiederherstellt, ist nur eine schwache Genugthuung
für Bürger, weil man darin auch die Anerkennung des Schillerschen Satzes sehen
könnte, daß die aus Mängeln der sittlichen und intellektuellen Entwicklung eines
Dichters entspringenden Fehler des Gedichtes keine Feile hinwegnehmen könne.

Daß übrigens Bürger in den epischen Gedichten (abgesehen von den ko¬
mischen) weit weniger als in den erotischen Liedern sich seine Aufgabe im all¬
gemeinen etwas zu niedrig gestellt hat, beweist schon der Umstand, daß er gerade
da, wo er von den vaterländischen Stoffen redet, sich auf Klopstock beruft.
Bürger hat bei den von ihm überhaupt für die Lyrik verlangten vaterländischen
Stoffen doch vorzugsweise an die Ballade gedacht. Die Ballade ist der auch
schon von Schiller ahnungsvoll anerkannte Ausnahmepunkt, auf dem die Poesie
in der That nur vaterländische Stoffe gebrauchen kann. Ist doch die Ballade
an die Stelle des alten Heldengedichtes getreten, welches in jeder Beziehung
national war.

Balladen und Romanzen, sagt Bischer, sind Abkömmlinge der alten Helden¬
lieder.*) Wilhelm Wackernagel zeigt, wie das Volk im sechzehnten Jahrhundert
lyrische Lieder dichtete: „Rein lyrische sowohl als solche, in denen die Lyrik sich
mit einer Epik von ungeschichtlicher und unsagenhafter Art vereinte, Balladen,
wie man sie nennen mag .... zumeist also Liebeslieder .... auch die Bal¬
laden erzählten fast nur von der Liebe Lust und Leid."**)

Der Unterschied von Ballade und Romanze, den Echtermeyer früher mehr
in den Inhalt setzte, wird jetzt richtiger mehr auf die Form des Gedichtes be¬
zogen. „Die Ballade, sagt Gottschall,***) ist von seelenvoller Kürze, die Ro¬
manze von farbenreicher Ausführung. Die Ballade hebt die Handlung in iber
Stimmung auf, die Romanze die Stimmung in der Handlung; die Ballade ist
ein Lied, die Romanze eine Erzählung."

Wenn Echtermeyer es als das Wesentliche der Ballade betrachtete, daß
in ihr eine dunkle Naturgewalt den Sieg davonträgt, während in der Romanze
die sittliche Idee triumphirt, so hatte er insofern einigermaßen das Richtige ge¬
troffen, als der Inhalt, welchen er der Ballade zuschreibt, von der kurzen,
volkstümlichen Form untrennbar ist, und derjenige, den er der Romanze zu-





») Ästhetik, 3. T., 2. Abschn., S. 13S8—1366,
**) Gesch. der deutschen Lie. (18S1), 1. Abt., S. 393.
***) Poetik, 3. Aufl., S. 48.
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[0026] Lchiller und Bürger. in dem Gedicht „Ich lauschte mit Molly tief zwischen dem Korn" für einen großen Teil des Publikums gewiß schon zuviel aus seinem Leben erzählt, sich aber gerade auch dieser Liebeslieder wegen als einen echten Volksdichter, etwa als einen deutschen Troubadour, betrachtet hatte. Daß der neueste Heraus¬ geber von Bürgers Gedichten, A. Sauer in Graz (Stuttgart, Spemann), überall mit Recht den Text der Ausgabe von 1789, auf welche Schillers Rezension noch keinen Einfluß gehabt hatte, wiederherstellt, ist nur eine schwache Genugthuung für Bürger, weil man darin auch die Anerkennung des Schillerschen Satzes sehen könnte, daß die aus Mängeln der sittlichen und intellektuellen Entwicklung eines Dichters entspringenden Fehler des Gedichtes keine Feile hinwegnehmen könne. Daß übrigens Bürger in den epischen Gedichten (abgesehen von den ko¬ mischen) weit weniger als in den erotischen Liedern sich seine Aufgabe im all¬ gemeinen etwas zu niedrig gestellt hat, beweist schon der Umstand, daß er gerade da, wo er von den vaterländischen Stoffen redet, sich auf Klopstock beruft. Bürger hat bei den von ihm überhaupt für die Lyrik verlangten vaterländischen Stoffen doch vorzugsweise an die Ballade gedacht. Die Ballade ist der auch schon von Schiller ahnungsvoll anerkannte Ausnahmepunkt, auf dem die Poesie in der That nur vaterländische Stoffe gebrauchen kann. Ist doch die Ballade an die Stelle des alten Heldengedichtes getreten, welches in jeder Beziehung national war. Balladen und Romanzen, sagt Bischer, sind Abkömmlinge der alten Helden¬ lieder.*) Wilhelm Wackernagel zeigt, wie das Volk im sechzehnten Jahrhundert lyrische Lieder dichtete: „Rein lyrische sowohl als solche, in denen die Lyrik sich mit einer Epik von ungeschichtlicher und unsagenhafter Art vereinte, Balladen, wie man sie nennen mag .... zumeist also Liebeslieder .... auch die Bal¬ laden erzählten fast nur von der Liebe Lust und Leid."**) Der Unterschied von Ballade und Romanze, den Echtermeyer früher mehr in den Inhalt setzte, wird jetzt richtiger mehr auf die Form des Gedichtes be¬ zogen. „Die Ballade, sagt Gottschall,***) ist von seelenvoller Kürze, die Ro¬ manze von farbenreicher Ausführung. Die Ballade hebt die Handlung in iber Stimmung auf, die Romanze die Stimmung in der Handlung; die Ballade ist ein Lied, die Romanze eine Erzählung." Wenn Echtermeyer es als das Wesentliche der Ballade betrachtete, daß in ihr eine dunkle Naturgewalt den Sieg davonträgt, während in der Romanze die sittliche Idee triumphirt, so hatte er insofern einigermaßen das Richtige ge¬ troffen, als der Inhalt, welchen er der Ballade zuschreibt, von der kurzen, volkstümlichen Form untrennbar ist, und derjenige, den er der Romanze zu- ») Ästhetik, 3. T., 2. Abschn., S. 13S8—1366, **) Gesch. der deutschen Lie. (18S1), 1. Abt., S. 393. ***) Poetik, 3. Aufl., S. 48.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/26>, abgerufen am 29.12.2024.