Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Dichtung und Gegenwart. aus den Denkresultaten sorgfältig gebildeter Individualitäten stammen. Die Dichtung und Gegenwart. aus den Denkresultaten sorgfältig gebildeter Individualitäten stammen. Die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0183" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157108"/> <fw type="header" place="top"> Dichtung und Gegenwart.</fw><lb/> <p xml:id="ID_643" prev="#ID_642" next="#ID_644"> aus den Denkresultaten sorgfältig gebildeter Individualitäten stammen. Die<lb/> Sucht, sich in Vereinen zusammenzuthun, entspringt dem stillschweigenden Ein¬<lb/> geständnis von der Uniformität der geistigen Existenz; denn nicht nur, daß<lb/> der Starke am mächtigsten allein ist: Vereine sind unmöglich, wo jedermann<lb/> aus dem Innersten seiner Seele heraus sich zu entschließen und zu handeln pflegt,<lb/> es sei denn, daß es die Pflege ein für allemal anerkannter Interessen gilt. Auch<lb/> die Sucht, in religiösen und politischen Dingen den extremen Richtungen zu<lb/> huldigen, findet hier ihre Erklärung. Extreme Parteien handeln nach Schlag«<lb/> Wörtern oder nach wenigen leicht übersehbaren und feststehenden Prinzipien,<lb/> Mittelparteien urteilen und handeln von Fall zu Fall und brauchen häufige<lb/> Prüfung und immer neue Stellungnahme zu den veränderten Umständen.<lb/> Dazu bedarf es einer geistigen Elastizität, einer Sicherheit des Urteils aus<lb/> eigenster, individueller Anschauung heraus. Was heißt denn Individualität? Selbst<lb/> wenn man jenen schönen Traum einer ungehemmten Entwicklung aller Natur¬<lb/> anlangen aufgiebt, dessen Erfüllung vielleicht in den Sklavenstaaten der alten<lb/> Welt einem kleinen Kreise Bevorzugter beschieden war: ein Zentrum des Seins<lb/> muß vorhanden sein; eine Grundstimmung der Seele, eine herrschende Form<lb/> geistigen Lebens, durch die alles, was in das Bereich der Persönlichkeit tritt,<lb/> in einer ganz besondern Weise ihr assimilirt und in Entschlüsse und Handlungen<lb/> umgesetzt wird, die von jener geistigen Grundstimmung ihr charakteristisches Ge¬<lb/> präge erhalten. Zudem muß jede Neigung, jede Anlage zu allen andern in<lb/> ein bestimmtes Verhältnis gesetzt sein, das, von lebendiger Elastizität, durch die<lb/> Einwirkungen der Außenwelt wohl vorübergehende Störungen, aber keine blei¬<lb/> benden Änderungen erleiden kann. Es leuchtet ein, daß hierzu eine freie Muße<lb/> in der Entwicklung gehört, wie sie dem modernen Lern- und Berufssklaven nicht<lb/> gegönnt ist. Zudem liegt, der Natur der Sache nach, jener ruhende Pol des<lb/> geistigen Lebens, aus dem eben die individuelle Färbung in jede Äußerung der<lb/> Persönlichkeit tritt, meist auf ethischem Gebiete, weil alle Faden aus den Ge¬<lb/> bieten des handelnden Lebens hier zusammenlaufen. Und hier kommen wir zur<lb/> Hauptsache. Wollte man unter den modernen Menschen Umfrage halten, wie<lb/> viele von ihnen auf einem festen und klaren sittlichen Boden stehen, wie viele<lb/> über die Stellung des Menschen zur Welt, über seine Aufgaben in ihr und<lb/> über ein etwaiges höchstes metaphysisches Prinzip durchdachte und in sich wider¬<lb/> spruchslose Ansichten besitzen: man würde bald inne werden, daß der größte<lb/> Teil bei oberflächlicher Festhaltung, aber innerlich toter Geltung der kirchlich-<lb/> religiösen Lehrsätze in einem sittlichen Schlendrian einhergeht, der stillschweigend<lb/> darauf rechnet, es werden ihm bei einer wohlgeordneten bürgerlichen Existenz<lb/> und in einer zivilisirten Gesellschaft keine Steine im Wege liegen. Ein kleinerer<lb/> Teil wirft alles, was nach Religion aussieht, einfach weg und lebt „schlecht<lb/> und recht," d. h. er folgt den Regungen einer, meist gutmütigen und wohl¬<lb/> erzogenen Durchschnittsnatur, und seine materialistischen Prahlereien sitzen nicht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0183]
Dichtung und Gegenwart.
aus den Denkresultaten sorgfältig gebildeter Individualitäten stammen. Die
Sucht, sich in Vereinen zusammenzuthun, entspringt dem stillschweigenden Ein¬
geständnis von der Uniformität der geistigen Existenz; denn nicht nur, daß
der Starke am mächtigsten allein ist: Vereine sind unmöglich, wo jedermann
aus dem Innersten seiner Seele heraus sich zu entschließen und zu handeln pflegt,
es sei denn, daß es die Pflege ein für allemal anerkannter Interessen gilt. Auch
die Sucht, in religiösen und politischen Dingen den extremen Richtungen zu
huldigen, findet hier ihre Erklärung. Extreme Parteien handeln nach Schlag«
Wörtern oder nach wenigen leicht übersehbaren und feststehenden Prinzipien,
Mittelparteien urteilen und handeln von Fall zu Fall und brauchen häufige
Prüfung und immer neue Stellungnahme zu den veränderten Umständen.
Dazu bedarf es einer geistigen Elastizität, einer Sicherheit des Urteils aus
eigenster, individueller Anschauung heraus. Was heißt denn Individualität? Selbst
wenn man jenen schönen Traum einer ungehemmten Entwicklung aller Natur¬
anlangen aufgiebt, dessen Erfüllung vielleicht in den Sklavenstaaten der alten
Welt einem kleinen Kreise Bevorzugter beschieden war: ein Zentrum des Seins
muß vorhanden sein; eine Grundstimmung der Seele, eine herrschende Form
geistigen Lebens, durch die alles, was in das Bereich der Persönlichkeit tritt,
in einer ganz besondern Weise ihr assimilirt und in Entschlüsse und Handlungen
umgesetzt wird, die von jener geistigen Grundstimmung ihr charakteristisches Ge¬
präge erhalten. Zudem muß jede Neigung, jede Anlage zu allen andern in
ein bestimmtes Verhältnis gesetzt sein, das, von lebendiger Elastizität, durch die
Einwirkungen der Außenwelt wohl vorübergehende Störungen, aber keine blei¬
benden Änderungen erleiden kann. Es leuchtet ein, daß hierzu eine freie Muße
in der Entwicklung gehört, wie sie dem modernen Lern- und Berufssklaven nicht
gegönnt ist. Zudem liegt, der Natur der Sache nach, jener ruhende Pol des
geistigen Lebens, aus dem eben die individuelle Färbung in jede Äußerung der
Persönlichkeit tritt, meist auf ethischem Gebiete, weil alle Faden aus den Ge¬
bieten des handelnden Lebens hier zusammenlaufen. Und hier kommen wir zur
Hauptsache. Wollte man unter den modernen Menschen Umfrage halten, wie
viele von ihnen auf einem festen und klaren sittlichen Boden stehen, wie viele
über die Stellung des Menschen zur Welt, über seine Aufgaben in ihr und
über ein etwaiges höchstes metaphysisches Prinzip durchdachte und in sich wider¬
spruchslose Ansichten besitzen: man würde bald inne werden, daß der größte
Teil bei oberflächlicher Festhaltung, aber innerlich toter Geltung der kirchlich-
religiösen Lehrsätze in einem sittlichen Schlendrian einhergeht, der stillschweigend
darauf rechnet, es werden ihm bei einer wohlgeordneten bürgerlichen Existenz
und in einer zivilisirten Gesellschaft keine Steine im Wege liegen. Ein kleinerer
Teil wirft alles, was nach Religion aussieht, einfach weg und lebt „schlecht
und recht," d. h. er folgt den Regungen einer, meist gutmütigen und wohl¬
erzogenen Durchschnittsnatur, und seine materialistischen Prahlereien sitzen nicht
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