Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Dichtung und Gegenwart. darum ist es mehr als fraglich, ob überhaupt einem modernen Talent der Wir haben die Antwort eigentlich schon gegeben, und es bedarf nur noch Dichtung und Gegenwart. darum ist es mehr als fraglich, ob überhaupt einem modernen Talent der Wir haben die Antwort eigentlich schon gegeben, und es bedarf nur noch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0182" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157107"/> <fw type="header" place="top"> Dichtung und Gegenwart.</fw><lb/> <p xml:id="ID_641" prev="#ID_640"> darum ist es mehr als fraglich, ob überhaupt einem modernen Talent der<lb/> große Kampf gelingen könne, den es siegreich bestehen muß, um die Gegenwart<lb/> dichterisch beherrschen zu können. Erinnern wir uns an Goethe. Wie das Kind<lb/> des achtzehnten Jahrhunderts die weichmütige Empfindungsseligkeit und die ein¬<lb/> seitige Verstandesrichtung seiner Zeit in sich überwinden, wie er zu einer ein¬<lb/> heitlichen und vertieften Weltauffassung hindurchdringen mußte und in deren<lb/> prophetischer Verkündigung eben der zeitbeherrschende große Dichter wurde, so<lb/> muß mich ein kommender poetischer Genius eben in der Überwindung und Ver¬<lb/> söhnung der modernen Gegensätze seine Kraftprobe ablegen; er muß in sich aus¬<lb/> gleichen und in seiner neu gewonnenen höheren Einheit darstellen, was jetzt auf<lb/> allen Gebieten des Lebens sich als unversöhnbarer Konflikt darstellt. Haben<lb/> wir wirklich Ursache, auf diesen, wie ein moderner Adipus die Rätselfragen<lb/> der Zeit vernichtenden Genius zu hoffen? Sind die Gegensätze bereits so klar<lb/> formulirt, in ihrer Einseitigkeit so scharf accentuirt, ist das Verlangen nach Er¬<lb/> lösung bereits allgemein so brennend, daß ein neu auftauchendes Genie be¬<lb/> geistertes Echo fände? Mit einem Wort: Sind die modernen Zustände derart,<lb/> daß sie die Entwicklung eines dichterischen Genius ermöglichen?</p><lb/> <p xml:id="ID_642" next="#ID_643"> Wir haben die Antwort eigentlich schon gegeben, und es bedarf nur noch<lb/> ihrer eingehenderen Begründung. Wenn doch nur wirklich die Gegenwart das<lb/> Zeitalter des Individualismus wäre, in der Weise, die einzig vernünftig und<lb/> bei der allein ein lebendiges soziales Gemeinwesen bestehen kann! Unsre Zeit<lb/> gestattet ja nicht einmal den ersten Schritt dazu, die freie Ausbildung der in¬<lb/> dividuellen Naturanlage. Bei uns geht Kopf vor Herz, Talent vor Charakter.<lb/> Die Schulen beginnen damit: sie geben Kenntnisse, sie bilden den Verstand.<lb/> Das Leben setzt die Ausbildung in derselben Richtung fort. Bei der hoch¬<lb/> gesteigerten Konkurrenz absorbirt der Beruf alle Kräfte, immer mehr wird das<lb/> seelische Leben in eine einseitig praktische Richtung hineingezwängt, und eine entsetz¬<lb/> liche Einförmigkeit des Denkens und Empfindens lagert sich wie eine trübe<lb/> Wolke über die seelische Existenz der Durchschnittsgebildeten. Keine Muße wird<lb/> vergönnt, um in geistiger Frische die vom Beruf abseits liegenden Gebiete<lb/> modernen Lebens zu betreten; die Ausbildung jener leisen und schüchternen und<lb/> doch so beglückenden Regungen der Empfindung und Phantasie, die aus der<lb/> Enge persönlicher Verhältnisse in die großen Interessen der Menschheit, in die<lb/> Sphäre des Ewigen erheben, bleiben unempfunden und ungenutzt. Aus jener<lb/> geistigen Einförmigkeit, die alles verbannt, was nicht im Kampf ums Dasein als<lb/> Waffe dienen kann, resultirt die ungeheure Macht der Phrase, der Schlagwörter<lb/> bei uns, und in zweiter Linie die Bedeutung der Zeitungen. Wie die Jnfektions-<lb/> stoffe geistiger Epidemien schwirren die Einfälle einiger hundert Journalisten in<lb/> den Köpfen der modernen Kulturmenschheit herum; ihr politisches und soziales<lb/> Gewissen wird in das Schlepptau einiger Wenigen genommen, deren Raisonne-<lb/> ments zum allergrößten Teil wieder Berufsarbeit sind und zum allerkleinsten</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0182]
Dichtung und Gegenwart.
darum ist es mehr als fraglich, ob überhaupt einem modernen Talent der
große Kampf gelingen könne, den es siegreich bestehen muß, um die Gegenwart
dichterisch beherrschen zu können. Erinnern wir uns an Goethe. Wie das Kind
des achtzehnten Jahrhunderts die weichmütige Empfindungsseligkeit und die ein¬
seitige Verstandesrichtung seiner Zeit in sich überwinden, wie er zu einer ein¬
heitlichen und vertieften Weltauffassung hindurchdringen mußte und in deren
prophetischer Verkündigung eben der zeitbeherrschende große Dichter wurde, so
muß mich ein kommender poetischer Genius eben in der Überwindung und Ver¬
söhnung der modernen Gegensätze seine Kraftprobe ablegen; er muß in sich aus¬
gleichen und in seiner neu gewonnenen höheren Einheit darstellen, was jetzt auf
allen Gebieten des Lebens sich als unversöhnbarer Konflikt darstellt. Haben
wir wirklich Ursache, auf diesen, wie ein moderner Adipus die Rätselfragen
der Zeit vernichtenden Genius zu hoffen? Sind die Gegensätze bereits so klar
formulirt, in ihrer Einseitigkeit so scharf accentuirt, ist das Verlangen nach Er¬
lösung bereits allgemein so brennend, daß ein neu auftauchendes Genie be¬
geistertes Echo fände? Mit einem Wort: Sind die modernen Zustände derart,
daß sie die Entwicklung eines dichterischen Genius ermöglichen?
Wir haben die Antwort eigentlich schon gegeben, und es bedarf nur noch
ihrer eingehenderen Begründung. Wenn doch nur wirklich die Gegenwart das
Zeitalter des Individualismus wäre, in der Weise, die einzig vernünftig und
bei der allein ein lebendiges soziales Gemeinwesen bestehen kann! Unsre Zeit
gestattet ja nicht einmal den ersten Schritt dazu, die freie Ausbildung der in¬
dividuellen Naturanlage. Bei uns geht Kopf vor Herz, Talent vor Charakter.
Die Schulen beginnen damit: sie geben Kenntnisse, sie bilden den Verstand.
Das Leben setzt die Ausbildung in derselben Richtung fort. Bei der hoch¬
gesteigerten Konkurrenz absorbirt der Beruf alle Kräfte, immer mehr wird das
seelische Leben in eine einseitig praktische Richtung hineingezwängt, und eine entsetz¬
liche Einförmigkeit des Denkens und Empfindens lagert sich wie eine trübe
Wolke über die seelische Existenz der Durchschnittsgebildeten. Keine Muße wird
vergönnt, um in geistiger Frische die vom Beruf abseits liegenden Gebiete
modernen Lebens zu betreten; die Ausbildung jener leisen und schüchternen und
doch so beglückenden Regungen der Empfindung und Phantasie, die aus der
Enge persönlicher Verhältnisse in die großen Interessen der Menschheit, in die
Sphäre des Ewigen erheben, bleiben unempfunden und ungenutzt. Aus jener
geistigen Einförmigkeit, die alles verbannt, was nicht im Kampf ums Dasein als
Waffe dienen kann, resultirt die ungeheure Macht der Phrase, der Schlagwörter
bei uns, und in zweiter Linie die Bedeutung der Zeitungen. Wie die Jnfektions-
stoffe geistiger Epidemien schwirren die Einfälle einiger hundert Journalisten in
den Köpfen der modernen Kulturmenschheit herum; ihr politisches und soziales
Gewissen wird in das Schlepptau einiger Wenigen genommen, deren Raisonne-
ments zum allergrößten Teil wieder Berufsarbeit sind und zum allerkleinsten
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