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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Notizen.

mäßigen Tempo wohl ausgerichtet und auf Kommandowort avcmciren zu lasse".
Was hat nun unter dem Drucke eines so abnormen Erziehnngsprinzips der Lehrer
zu thun, um sich gegen materiellen Verlust, Tadel oder gar Absetzung zu schützen?
Um einen möglichst hohen Staatsznschuß zu "verdienen" -- denn os-rninx Frank,
Zuschüsse verdienen, ist die übliche Phrase zur Bezeichnung des Endzwecks aller
Schnlthatigkeit geworden --, sieht er sich genötigt, das verlangte Pensum auch
in die unregelmäßigen Schulbesucher, in die im Laufe des Jahres neu Auf¬
genommenen, in die körperlich wie geistig Schwachen und stumpfsinnigen ge¬
waltsam hinein zu zwängen und zu pressen, sie über die regelmäßigen Schul¬
stunden hinaus zu dritten und mit häuslichen Arbeiten zu überbürden, ohne Zeit
zu gewinne", den Befähigteren reichere Nahrung zu bieten und sie zu geistiger
Selbstthätigkeit zu erziehen. Daher hören wir den Aufschrei über over xrsWurs,
über Kinder und Lehrer, die in ihrer Gesundheit geschädigt sind, daher lesen wir
in den Berichten Matthew Arnolds: "Einen sichtlichen Abfall im intellektuellen
Leben verdanken wir dem mechanischen Examinationsmodus, der durch den revidirten
Codex eingeführt worden ist." Zu cilledem kommt nun uoch, daß die School
Boards in ihrer Beurteilung oder Verurteilung der Leistungen von Kindern und
Lehrern durchaus keinen Unterschied machen zwischen Schulen, die von einer ver¬
hältnismäßig wohlhabenden und intelligenten Bevölkerung, und solchen, die vom
niedrigsten und oft verkommensten Proletariat beschickt werden. Wir haben neuerdings
verschiedne Absetzungen von Lehrern erlebt, die in ihren in Proletnricrdistrikten
gelegenen Schulen nur einen niedrigen Prozentsatz von Examenerfolgen erzielt
hatten. Ein solches Vorgehen ist weder verständig noch gerecht. Denn von den
verwilderten Proletariern, denen erst vor vierzehn Jahren die Segnungen des
obligatorischen Schulunterrichts oktroyirt wurden, denen also keine erziehliche
Tradition, kein überlieferter Bildungsfonds zu gute kommt, und denen alle geistige
Dressur eine ungewohnte und unbequeme Neuheit ist -- von diesen Proletariern
zu erwarten, daß sie mit den besser situirteu, intelligentem Handwerker- und Klein-
gewerbsklasscn ohne weiteres gleichen Schritt halten sollen, muß als ein durchaus
unbilliges Verlangen erscheinen; zumal wenn man die wahrhaft schreckenerregenden
Verhältnisse berücksichtigt, unter denen die Kinder der untern Klassen in den großen
englischen Städten leben oder besser gesagt vegetiren. Die Berichte verschiedner
School Boards konstntiren hierüber höchst klägliche Thatsachen. So giebt es
z. B. in Glasgow über vierzigtausend Familien, die, oft sechs bis acht Mit¬
glieder stark, sich mit je einem einzigen Zimmer zu begnügen haben, in Birmingham
besteht die ganze Nahrung, die nachweislich viele der Kinder der Elementarschulen
in der Zeit von acht Uhr morgens bis fünf Uhr abends zu sich nehmen, in nichts
weiter als einem Stück Brot; in mehreren Distrikten Londons giebt es Schulen,
in denen über sechzig Prozent der Kinder Familien mit nur je einem Wohnraum
angehören, in denen vierzig Prozent oft ohne Frühstück erscheinen, und zuweilen
achtundzwanzig Prozent des Nachmittags zurückkommen, ohne Mittagsessen gehabt
zu haben. Kinder, die so ärmlich genährt und körperlich wie geistig verkommen
sind, zur Einnahme der reglemcntsmnßigen Dosis von Schulwissenschaft zu zwingen,
ist ein ebenso undankbares wie sittlich tadelnswertes Unternehmen. Wenn die
School Boards, selbst auf die Gefahr hin, die Gemeindesäckel um einige Pfund
Sterling zu schädigen, etwas mehr weise Diskretion üben wollten, so würde der
angerichtete Schaden vielleicht nicht einmal so groß sein; indes Intelligenz und
Diskretion sind Attribute, die nur wenigen School Boards zuerkannt werden
können. Die dem Londoner School Board untergebenen Schulen sind in Gruppen


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mäßigen Tempo wohl ausgerichtet und auf Kommandowort avcmciren zu lasse«.
Was hat nun unter dem Drucke eines so abnormen Erziehnngsprinzips der Lehrer
zu thun, um sich gegen materiellen Verlust, Tadel oder gar Absetzung zu schützen?
Um einen möglichst hohen Staatsznschuß zu „verdienen" — denn os-rninx Frank,
Zuschüsse verdienen, ist die übliche Phrase zur Bezeichnung des Endzwecks aller
Schnlthatigkeit geworden —, sieht er sich genötigt, das verlangte Pensum auch
in die unregelmäßigen Schulbesucher, in die im Laufe des Jahres neu Auf¬
genommenen, in die körperlich wie geistig Schwachen und stumpfsinnigen ge¬
waltsam hinein zu zwängen und zu pressen, sie über die regelmäßigen Schul¬
stunden hinaus zu dritten und mit häuslichen Arbeiten zu überbürden, ohne Zeit
zu gewinne», den Befähigteren reichere Nahrung zu bieten und sie zu geistiger
Selbstthätigkeit zu erziehen. Daher hören wir den Aufschrei über over xrsWurs,
über Kinder und Lehrer, die in ihrer Gesundheit geschädigt sind, daher lesen wir
in den Berichten Matthew Arnolds: „Einen sichtlichen Abfall im intellektuellen
Leben verdanken wir dem mechanischen Examinationsmodus, der durch den revidirten
Codex eingeführt worden ist." Zu cilledem kommt nun uoch, daß die School
Boards in ihrer Beurteilung oder Verurteilung der Leistungen von Kindern und
Lehrern durchaus keinen Unterschied machen zwischen Schulen, die von einer ver¬
hältnismäßig wohlhabenden und intelligenten Bevölkerung, und solchen, die vom
niedrigsten und oft verkommensten Proletariat beschickt werden. Wir haben neuerdings
verschiedne Absetzungen von Lehrern erlebt, die in ihren in Proletnricrdistrikten
gelegenen Schulen nur einen niedrigen Prozentsatz von Examenerfolgen erzielt
hatten. Ein solches Vorgehen ist weder verständig noch gerecht. Denn von den
verwilderten Proletariern, denen erst vor vierzehn Jahren die Segnungen des
obligatorischen Schulunterrichts oktroyirt wurden, denen also keine erziehliche
Tradition, kein überlieferter Bildungsfonds zu gute kommt, und denen alle geistige
Dressur eine ungewohnte und unbequeme Neuheit ist — von diesen Proletariern
zu erwarten, daß sie mit den besser situirteu, intelligentem Handwerker- und Klein-
gewerbsklasscn ohne weiteres gleichen Schritt halten sollen, muß als ein durchaus
unbilliges Verlangen erscheinen; zumal wenn man die wahrhaft schreckenerregenden
Verhältnisse berücksichtigt, unter denen die Kinder der untern Klassen in den großen
englischen Städten leben oder besser gesagt vegetiren. Die Berichte verschiedner
School Boards konstntiren hierüber höchst klägliche Thatsachen. So giebt es
z. B. in Glasgow über vierzigtausend Familien, die, oft sechs bis acht Mit¬
glieder stark, sich mit je einem einzigen Zimmer zu begnügen haben, in Birmingham
besteht die ganze Nahrung, die nachweislich viele der Kinder der Elementarschulen
in der Zeit von acht Uhr morgens bis fünf Uhr abends zu sich nehmen, in nichts
weiter als einem Stück Brot; in mehreren Distrikten Londons giebt es Schulen,
in denen über sechzig Prozent der Kinder Familien mit nur je einem Wohnraum
angehören, in denen vierzig Prozent oft ohne Frühstück erscheinen, und zuweilen
achtundzwanzig Prozent des Nachmittags zurückkommen, ohne Mittagsessen gehabt
zu haben. Kinder, die so ärmlich genährt und körperlich wie geistig verkommen
sind, zur Einnahme der reglemcntsmnßigen Dosis von Schulwissenschaft zu zwingen,
ist ein ebenso undankbares wie sittlich tadelnswertes Unternehmen. Wenn die
School Boards, selbst auf die Gefahr hin, die Gemeindesäckel um einige Pfund
Sterling zu schädigen, etwas mehr weise Diskretion üben wollten, so würde der
angerichtete Schaden vielleicht nicht einmal so groß sein; indes Intelligenz und
Diskretion sind Attribute, die nur wenigen School Boards zuerkannt werden
können. Die dem Londoner School Board untergebenen Schulen sind in Gruppen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/158>, abgerufen am 26.12.2024.