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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Marie von Glfers.

aufgeht; von solchen hat sie fast in jeder Erzählung einen angebracht, dem sie
gern Schwache, Mutlose gegenüberstellt. Ihre Heldinnen stellt sie gern zart,
hingebungsvoll, aber doch auch arbeitsfroh, sittlich streng, treu gegen sich selbst
und andre dar. Auch Satire ist ihr nicht fremd, die sie aber doch zumeist gegen
Frauen übt, welche übrigens in fein abgestuften Nuancen und wirksamen Kon¬
trasten bei ihr auftrete". Sie vertritt die ursprüngliche Natur gegen die barocken
Formen der Gesellschaft; sie macht sich lustig über die Kleinlichkeit der Klein¬
städterinnen, die sie aber wieder in Schutz nimmt gegen den hohlen Vergnü¬
gungssinn und die leere Putzsucht der Modedamen; ihre Sympathie schenkt sie
denen, die einen großen Zug im Denken und Handeln, den Charakter der Selbst¬
losigkeit haben. Aber selbst ihre Satire ist gutmütig; sie strebt ängstlich nach
Gerechtigkeit, nach Objektivität, und hat sie einmal, wie bei der Frau Stockfisch
in "Regime," sich zu lange lustig über sie gemacht, so dreht sie gleich den Spieß
um und beeilt sich, ihre guten Seiten zu beleuchten, sie in Schutz zu nehmen,
ganz als wollte sie sie versöhnen: so objektiv stehen die eignen Gebilde ihrer
Phantasie vor ihr. Sie hat eigentlich nirgends wirklich schlechte Menschen ge¬
zeichnet, höchstens aus Schwäche sündhafte, verbrecherische. Die Konflikte ent¬
stehen trotz der größten Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit der Personen unter
einander aus den Tiefen ihrer ganzen Charakteranlage, der Krenzung der Leiden¬
schaften. So hat man immer das Gefühl, einen echt weiblichen Autor vor sich
zu haben, der es selbst wagen darf, schelmische Zwischenbemerkungen über die
"Männer" zu machen, und dem man doch niemals etwas "Frauenzimmerliches"
vorwerfen möchte; im Gegenteile mag das Frauenhafte eines Autors nie so
liebenswürdig, weil in der That edel weiblich, als ein unversieglicher, goldener
Quell von Liebe zu den Menschen erschienen sein, wie bei Marie von Olfers.

Denselben ästhetischen wie menschlichen Charakter trägt auch ihre neueste
Dichtung in Versen von ganz ungewöhnlicher Anmut und reicher Bildlichkeit,
die Simplizitas -- eine Dichtung, welche ebensoweit hinausragt über die
eignen bisherigen Leistungen der Schriftstellerin, als über das Maß des sonst
gewöhnlich gebotenen.


Doch alles wissen, die sich selbst vergessen
Und alle Tiefen haben sie durchmessen,
Vom bittern Schmerz zur höchsten Lust,
Im Mitgefühl der treuen Brust --

heißt es an einer Stelle, und man könnte diese Verse sehr wohl als Motto
dem Ganzen voranstellen; denn der der Schopenhauerschen Ethik entsprechende
Gedanke, daß das Mitleid das wahre Fundament der Sittlichkeit sei, ist der
Grundton der ganzen merkwürdigen Dichtung, ihre Idee, der Refrain, der in
ihr immer wiederkehrt. Auch hier wieder, und zwar beabsichtigt, der märchen¬
hafte Charakter der ganzen Handlung, eine ganz unbestimmte Gegend und Zeit,
gänzliche Beschränkung ans das Reinmenschliche, in welches die äußere Natur


Marie von Glfers.

aufgeht; von solchen hat sie fast in jeder Erzählung einen angebracht, dem sie
gern Schwache, Mutlose gegenüberstellt. Ihre Heldinnen stellt sie gern zart,
hingebungsvoll, aber doch auch arbeitsfroh, sittlich streng, treu gegen sich selbst
und andre dar. Auch Satire ist ihr nicht fremd, die sie aber doch zumeist gegen
Frauen übt, welche übrigens in fein abgestuften Nuancen und wirksamen Kon¬
trasten bei ihr auftrete». Sie vertritt die ursprüngliche Natur gegen die barocken
Formen der Gesellschaft; sie macht sich lustig über die Kleinlichkeit der Klein¬
städterinnen, die sie aber wieder in Schutz nimmt gegen den hohlen Vergnü¬
gungssinn und die leere Putzsucht der Modedamen; ihre Sympathie schenkt sie
denen, die einen großen Zug im Denken und Handeln, den Charakter der Selbst¬
losigkeit haben. Aber selbst ihre Satire ist gutmütig; sie strebt ängstlich nach
Gerechtigkeit, nach Objektivität, und hat sie einmal, wie bei der Frau Stockfisch
in „Regime," sich zu lange lustig über sie gemacht, so dreht sie gleich den Spieß
um und beeilt sich, ihre guten Seiten zu beleuchten, sie in Schutz zu nehmen,
ganz als wollte sie sie versöhnen: so objektiv stehen die eignen Gebilde ihrer
Phantasie vor ihr. Sie hat eigentlich nirgends wirklich schlechte Menschen ge¬
zeichnet, höchstens aus Schwäche sündhafte, verbrecherische. Die Konflikte ent¬
stehen trotz der größten Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit der Personen unter
einander aus den Tiefen ihrer ganzen Charakteranlage, der Krenzung der Leiden¬
schaften. So hat man immer das Gefühl, einen echt weiblichen Autor vor sich
zu haben, der es selbst wagen darf, schelmische Zwischenbemerkungen über die
„Männer" zu machen, und dem man doch niemals etwas „Frauenzimmerliches"
vorwerfen möchte; im Gegenteile mag das Frauenhafte eines Autors nie so
liebenswürdig, weil in der That edel weiblich, als ein unversieglicher, goldener
Quell von Liebe zu den Menschen erschienen sein, wie bei Marie von Olfers.

Denselben ästhetischen wie menschlichen Charakter trägt auch ihre neueste
Dichtung in Versen von ganz ungewöhnlicher Anmut und reicher Bildlichkeit,
die Simplizitas — eine Dichtung, welche ebensoweit hinausragt über die
eignen bisherigen Leistungen der Schriftstellerin, als über das Maß des sonst
gewöhnlich gebotenen.


Doch alles wissen, die sich selbst vergessen
Und alle Tiefen haben sie durchmessen,
Vom bittern Schmerz zur höchsten Lust,
Im Mitgefühl der treuen Brust —

heißt es an einer Stelle, und man könnte diese Verse sehr wohl als Motto
dem Ganzen voranstellen; denn der der Schopenhauerschen Ethik entsprechende
Gedanke, daß das Mitleid das wahre Fundament der Sittlichkeit sei, ist der
Grundton der ganzen merkwürdigen Dichtung, ihre Idee, der Refrain, der in
ihr immer wiederkehrt. Auch hier wieder, und zwar beabsichtigt, der märchen¬
hafte Charakter der ganzen Handlung, eine ganz unbestimmte Gegend und Zeit,
gänzliche Beschränkung ans das Reinmenschliche, in welches die äußere Natur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/138>, abgerufen am 29.12.2024.